Friedensperspektiven statt Kriegsrat

Friedensperspektiven statt Kriegsrat

Friedensperspektiven statt Kriegsrat

Ein Artikel von Bernhard Trautvetter

Die Bundesregierung und die Nato gründeten die Strategieschmiede ‘Joint Air Power Competence Centre’ (JAPCC) 2005 als sogenanntes ‘Zentrum der Exzellenz’. Die JAPCC-Jahreskonferenzen dokumentieren die herausragende Bedeutung des Zentrums für die Strategieentwicklung der Nato. In diesem Herbst steht die nächste Sitzung des „Kriegsrats“ an. Von Bernhard Trautvetter.

Die Diskussion um die Nato ist bis in die sozial-alternative Szene, gar bis in die linke Bewegung hinein von einer Unkenntnis geprägt, die zu gefährlichen Fehleinschätzungen führt.

So spricht der ‘Verteidigungs’politische Sprecher der LINKEN im Bundestag Matthias Höhn von der Nato als “Verteidigungsbündnis” [1]. Eine vergleichbare Verharmlosung hat lange schon bei den Grünen um sich gegriffen – hier ein beispielhaftes Zitat aus einem Antrag der Grünen im Bundestag zu 70 Jahre Nato:

“Aus europäischer Sicherheit bleibt die NATO bisher der neben der EU zentrale Akteur, der die gemeinsame Sicherheit Europas garantieren kann.”

[2] Die hier wie bei transatlantischen Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten zutage tretende Blindheit gegenüber der Nato, ihrer Hoch- und Atomrüstung sowie ihrer Eskalationsstrategie gegenüber Russland, die die Sicherheit und die Zukunft Europas sowie der Menschheit insgesamt untergräbt, diese Blindheit entspringt einer Ignoranz gegenüber den von der Nato entwickelten Szenarien für das, was sie den “Krieg im 21. Jahrhundert” nennt und wofür die Militärs militärische Programme realisieren und die Öffentlichkeit manipulieren.

Um die Gefahr und den Zynismus der so genannten Sicherheitspolitik zu erkennen, genügt ein Blick auf das militärische und strategische Geschehen am Nato-Standort Kalkar am nordwestlichen Rand des Ruhrgebietes. In der linksrheinischen Idylle befindet sich nach den Worten des damaligen (2016) Kalkarer Direktors General Wundrak (inzwischen AfD) mit dem Nato-Standort einer der “ganz großen Player in den deutschen Streitkräften, aber auch in der Nato“ [3]. Sie bauen diese Leitzentrale für den Luftkrieg im 21. Jahrhundert ständig für dreistellige Millionenbeträge auf und aus. Die Dokumente der dort stationierten Nato-Strategieschmiede namens ‘Joint Air Power Competence Centre’ (JAPCC) verdeutlichen seit Jahren die existenzielle Gefährlichkeit der teils bis ins Technische sehr konkreten Kriegsplanung, die den Kalten Krieg fortsetzen und die ihn sehr konkret heiß planen, wie eine Empfehlung der in den 1970er Jahren erstaufgelegten Schrift mit dem vielsagenden Titel zeigt: „Supplying War“ [Krieg zu Verfügung stellen] [4].

Im Journal 11 des JAPCC aus dem Jahr 2010 hieß es bereits, “man war besorgt über die Gefahr, ein strategisches Ungleichgewicht zwischen Russland und der NATO” könnte entstehen [5]. Die Ost-West-Konfrontation durchzieht offensichtlich das Denken und die Konzepte der Nato-Strategen als ein unumstößliches Fixum wie im Kalten Krieg.

Die Bundesregierung und die Nato gründeten die Strategieschmiede JAPCC 2005 als sogenanntes ‘Zentrum der Exzellenz’. Die Hauptfinanzierungsquelle ist der Bundesetat.

Die JAPCC-Jahreskonferenzen dokumentieren die herausragende Bedeutung des JAPCC für die Strategieentwicklung der Nato [6].

Die 2006er Jahreskonferenz befasste sich mit der ‘Anwendung unbemannter Flug-Systeme’ (‚Unmanned Aerospace Capabilities’) der Nato im Krieg, die 2007er Jahreskonferenz thematisierte „Expeditonary Operations“. Hier ging es um Kriegs-Handlungen ohne Kriegserklärung, also um Völkerrechtsbruch. Die Drohnenstrategie wurde hier mit-konzeptioniert. Entscheidungsüberlegenheit ist eines der Motive der Militärs. [7] Passend zum Ansatz, Krieg konkret vorzubereiten, ging es auf der 2008er Konferenz um ‘Schlachtfeld-Management’ und das widerspricht dem Friedensgebot des Grundgesetzes.

Der Titel der Jahreskonferenz 2012 – ‘Kriegsführung [Warfare] im 21. Jahrhundert’ – ist nicht in Einklang mit dem Friedensgebot des Völkerrechts und des Grundgesetzes zu bringen. Auf ihrer 2014er Konferenz „Future Vector“ erklärten die Verantwortlichen einen großen Krieg in Europa für möglich: Im Konferenz-Manuskript stand: „Die … Annahme, es gäbe keinen großen Krieg in Europa mehr, ist anzuzweifeln”. [8] Statt eine solche Katastrophe zu verhindern, fordern die Militärs auf S. 70 des Kalkarer Future-Vector-Manuskripts einen „angemessenen Mix konventioneller und nuklearer Kapazitäten“.

Die richtige Antwort auf diese martialische Planung folgt Bert Brechts Worten über das große Karthago, das nach dem ersten Krieg noch mächtig war, nach dem zweiten noch bewohnbar und nach dem dritten nicht mehr auffindbar. Die Strategen gaben auch ziemlich genau an, wo sie den Ausgangspunkt des großen Krieges sehen: An der Westgrenze Russlands zwischen Georgien und dem Baltikum. Sie erklären die Nato-Osterweiterung als Faktor der Befriedung und der Stabilisierung Europas (ebenda, S. 39). Sie manipulieren die Öffentlichkeit durch Beschönigung, durch Des-Information: Sie machen die Tatsache vergessen, dass die westliche Seite der damaligen Sowjetunion bei den Verhandlungen über die Vereinigung der beiden deutschen Staaten DDR und BRD zugesagt hat, dass sich die Nato nicht nach Osten ausdehnt [9].

Seit 2015 finden die Konferenzen in der Messe Essen statt (siehe: [6]). Das Konferenzzentrum in der Messe Essen ist für den militärisch-industriellen Komplex in höchstem Maße attraktiv, kann man hier doch großzügig die neuesten technischen Errungenschaften der Destruktivkraft-Entwicklung genau dem entscheidenden Zielpublikum präsentieren. Und umgekehrt kann die Militärführung gleich mit politischen Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträgern über neue Strategien und technologische Möglichkeiten im Vorfeld von dann folgenden politischen Entscheidungen erste Absprachen treffen. Es kommen circa 300 höchstrangige Militärs, Rüstungsindustrielle, Politiker/innen und Strategen zusammen, um Kriegsführung und Strategien zu ihrer Durch- und Umsetzung zu beraten.

Auf der Essener Nato-Konferenz 2016 sprach zum Beispiel Christian Motzer, damals persönlicher Referent des CDU/CSU-Fraktionsvorsitzenden Volker Kauder. Die erste Essener Konferenz befasste sich mit „Strategic Communication“. In dieser Konferenz behandelten die Militärs das ‚Problem‘, das sie darin sahen, dass in der Bevölkerung Deutschlands eine ihrer Einschätzung nach zu geringe Unterstützung für Handlungen der Nato zu beobachten sei. Ihre Antwort war, man brauche einfache und emotionale Geschichten mit klaren Gut-Böse-Botschaften, die auch die Politiker so einstimmen, dass die Nato ihre Strategien ohne Widerstand und mit möglichst breiter Unterstützung verfolgen kann. Das Einladungsschreiben, das nicht mehr online ist, formulierte, es gebe Einheiten (Entities), die der Nato gegenüber feindselig (hostile) eingestellt seien und die mit gewissem Erfolg in der Bevölkerung eine kritische Haltung gegenüber den Operationen der Militärs schüren. Das ist ein unfreiwilliges Lob an die Friedensbewegung. Nach dieser Konferenz gründete die Nato in Riga, im Baltikum, ein Zentrum für “Exzellenz” mit dem Titel ‘Strategic Communication’.

Statt der Manipulation des Denkens und Handelns im Sinne der Militarisierung braucht die Menschheit aber menschliche Kommunikation, auch im öffentlichen Diskurs.

2017 forderte die Konferenz mit dem Titel ‘Abschreckung’, die Nato brauche Pläne zum Einsatz nuklearer Systeme, da sie nicht abschrecken, wenn man nicht bereit sei, sie einzusetzen. (Vorbereitungsmanuskript ‘Nato Deterrance’ S. 40) Die Schlussfolgerung war, Doktrinen und Pläne für den Einsatz nuklearer Potentiale zu entwickeln. Konkret wurde das Auswertungsmanuskript dieser Konferenz: Das Baltikum sei nur mit einem zu teuren (‘costly’) Aufwand konventionell zu verteidigen. Die Lösung sah man in der Absenkung der Nuklearschwelle [10]), also in der Eröffnung des Atomkriegs als Element der Abschreckung.

Die Konferenz 2018 befasste sich mit dem ‘Nebel des Tages Null’, wobei der Tag Null nicht das Kriegsende, sondern dessen Anfang markiert. Es geht in der Tat um Kriegsvorbereitung.

Die 2019er Konferenz konkretisierte die Vorbereitung auf ein Kampfgeschehen mit dem Konzept der ineinandergreifenden Anwendung aller Waffengattungen vom All über die Luftwaffe bis in das Internet mittels Cyber-War-Schadstoff-Programmen und Trojanern, die sogar Atomkraftwerke angreifen können oder die gesamte finanzielle, gesundheitspolitische sowie Finanzen, Ressourcen und Mobilität steuernde Infrastruktur. Diese Multi-Domain-Operations-Konzeption sollte 2020 weiter verfeinert werden, indem sich die Nato-Tagung mit Sprung-Innovationen wie etwa den Drohnen und weiteren Neuerungen für das Kriegshandwerk befassen wollten. Corona führte zur Absage der Konferenz.

Die Friedensbewegung fordert, dass Strategieplanungen, die das friedliche Zusammenleben der Völker infrage stellen, zu verbieten sind, doch die Stadt Essen und die Landesregierung zeigen keine Bereitschaft, dem Grundgesetz an dieser Stelle Geltung zu verschaffen.

Die Friedensbewegung macht die Öffentlichkeit seit zehn Jahren mit verschiedenen Protestaktionen wie Kranzniederlegungen, Demonstrationen, Konferenzen und Pressekonferenzen auf das brandgefährliche Geschehen am Standort Kalkar und in den Essener Nato-Konferenzen aufmerksam. Bei den Friedensaktionen forderten u.a. Konstantin Wecker, Margot Käßmann und Gabriele Krone-Schmalz in Grußworten eine Politik des Friedens in Europa und sie ermutigten die Kräfte des Friedens, ihr Engagement auszubauen.

Margot Käßmann erklärte in diesem Zusammenhang: „Da müsste doch ein Aufschrei um die Welt gehen: ‘Die Waffen nieder!’ “. Gabriele Krone-Schmalz erklärte, ähnlich wie es Eugen Drewermann auf der Essener Friedensdemonstration 2015 geäußert hatte:

„Die große Aufgabe dieses Jahrhunderts scheint mir zu sein, Feindbilder abzubauen und sich Realitäten zu stellen, statt mit einer westlichen Werteideologie Kreuzzüge anzuzetteln, die nirgendwo auf der Welt im Sinne von Menschenrechten und Menschlichkeit irgendetwas gebracht haben. Und insofern ist es höchste Zeit, der immer hysterischer werdenden Dämonisierung Russlands Einhalt zu gebieten.“

2021 geht es in der Konferenz um die Zur-Verfügung-Stellung von Schlagkraft im Tempo, das die von den Militärs so eingeschätzte Relevanz erforderlich macht [„Delivering NATO Air & Space Power at the Speed of Relevance“][11]. Die Militärs haben klar gesagt, dass Siege von einer auf Schnelligkeit aufbauenden Strategie abhängen. 

Dieser Kriegsrat ist gegen die Zukunft gerichtet. Die Friedens- und Ökologie-Bewegungen sind in ihrem friedensökologischen Widerstand gefordert, aufzuklären, Protest zu erheben und diese Pläne zu durchkreuzen. Mit einer Essener Friedensdemonstration am ersten September-Wochenende, vor der geplanten JAPCC-Konferenz, werden Friedenskräfte in diesem Sinne aktiv. Diese Aktion wird entsprechend ihrer Bedeutung kurz vor dem Ende des Wahlkampfes ein Höhepunkt demokratischen Engagements der Ökologie- und Friedensbewegung.

Titelbild: Alexandros Michailidis / Shutterstock