Mitbestimmung ein deutscher Sonderweg?

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Eine Studie belegt: In anderen europäischen Länder haben die Arbeitnehmer teilweise sogar noch mehr Mitspracherechte als hierzulande.
Die Mitbestimmung in Deutschland sei ein „Investitionshindernis in einer globalisierten Welt“. Deswegen, so meint die Lobby der Wirtschaft, müsse eine „Reform“ her und deshalb setzte der Kanzler eine durch die Arbeitgeberseite dominierte „Mitbestimmungskommission“ ein.
Deren Auftrag soll es wohl sein, diesen „Fremdkörper“ (Peter Glotz) aus den deutschen Betrieben zu entfernen. In einer Studie für die Hans-Böckler-Stiftung schaut Hellmuth Gohde über den Tellerrand hinaus und belegt, dass unsere Nachbarn, etwa das wirtschaftlich erfolgreichere Schweden, weitergehende Beteiligungsmöglichkeiten für Arbeitnehmer bieten als das angeblich so reformbedürftige deutsche Mitbestimmungsgesetz.

Wegen der Mitbestimmung machten Investoren einen Bogen um deutsche Firmen. Ausländische Investoren verstünden nicht, dass Unternehmensentscheidungen hierzulande nicht ausschließlich nach Gesichtspunkten des wirtschaftlichen Erfolgs oder der Wertsteigerung für Anteilseigner getroffen werden. Außerdem schädige die deutsche Unternehmensmitbestimmung die Interessen der Anteilseigner. Gewerkschaftsvertreter mit Aufsichtsratsmandat verträten nicht die Interessen des betreffenden Unternehmens. Mit solchen oder ähnlichen Argumenten drängt die Wirtschaftslobby und mit ihr CDU/CSU und natürlich FDP auf eine „Reform“ der Betriebsverfassung und des Mitbestimmungsgesetzes aus dem Jahre 1976.

Die Bundesregierung nahm ihre Rolle auf der Anklagebank ohne Gegenwehr an und setzte unter dem Vorsitz des ehemaligen CDU-Generalsekretärs und sächsischen Ministerpräsidenten Kurt Biedenkopf eine „Mitbestimmungskommission“ ein, in der die Machtverhältnisse zwischen Kapital- und Arbeitnehmervertretern schon mal so verteilt sind, wie man sich das wohl künftig für die gesamte Wirtschaft vorstellt:
Nur drei von neun Mitgliedern dieser Kommission sind Vertreter der Arbeitnehmerschaft. (siehe NachDenkSeiten)

Der Korrumpierungsversuch bei Betriebsräten von VW mit gesponserten Freudenhausbesuchen oder angebliche Bonuszahlungen an Arbeitnehmervertreter bei der Commerzbank sind ein gefundenes Fressen für viele Medien, an vorderster Stelle Springers BILD-Zeitung, eine Kampagne gegen die Mitbestimmung zu starten (und damit auch von der um sich greifenden Raffgier von Managern abzulenken).

Über den Beitrag der Mitbestimmung „zu Stabilität und Berechenbarkeit, zu Flexibilität und Innovationskraft von Betrieben sowie zu Motivation, Engagement und Verantwortung der Beschäftigten“ (Ludger Pries in der FR v.28.7.05) oder über ihre Bedeutung für die Erschließung zusätzlicher Wissenspotentiale und für die Akzeptanzbildung bei der betrieblichen Umsetzung redet – außer unter den Gewerkschaftsvertretern – kaum jemand mehr.

Der Hinweis, dass das Betriebsverfassungsgesetz ein Reflex auf die Abschaffung des Betriebsrätegesetzes durch die Nazis war und zur Abwehr von Sozialisierungsbestrebungen (auch im Ahlener Programm der CDU) nach dem Zweiten Weltkrieg gegenüber der mit Hitler verfilzten Großindustrie eingeführt wurde, gilt als hinterwäldlerisch.

Die Funktion der Mitbestimmung als Eingrenzung der Unternehmerübermacht im Interessengegensatz zwischen Kapital und Arbeit anzusprechen, gilt inzwischen geradezu als linksradikal, jedenfalls aber als traditionalistisch.

Die von den Modernisierern ständig wiederholte Behauptung, die Mitbestimmung sei ein Hindernis für ausländische Investoren, ist durch nichts belegt. Im Gegenteil: Von den 727 Unternehmen, in deren Aufsichtsräten Arbeitnehmervertreter sitzen, gehören 30 Prozent einer ausländischen Muttergesellschaft, so eine Studie der Uni München. Das bestätigt auch das Berliner Wissenschaftszentrum für Sozialforschung: Eine Befragung von Managern der 400 größten deutschen Tochtergesellschaften ausländischer Unternehmen hat ergeben, dass die Mitbestimmung kein ausschlaggebender Standortfaktor ist; wichtiger seien Marktgröße und -dynamik, das Vorhandensein von guter Infrastruktur und qualifizierten Arbeitskräften.

Dass gerade angesichts der Globalisierung und des Einflusses großer Kapitalsfonds bei Kapitalgesellschaften Mitbestimmung als „internalisierende Regelsetzung“ (Werner Tegtmeier) gegenüber den nach kurzfristiger Rendite „hedgenden“ Fonds eher ein ausgleichendes Element für ein nachhaltiges Wirtschaften darstellt und deshalb gerade angesichts der internationalen Mobilität der Finanzinvestoren eher gestärkt als abgeschliffen werden müsste, gilt als nationalstaatlich rückwärts gewandt.

Wenn in Deutschland etwas als reformierungsbedürftig abgestempelt werden soll, muss die von der Wirtschaft vor gut zehn Jahren gezielt aufgebrachte „Globalisierung“ herhalten. Schon um diese ideologische Waffe zu entschärfen, ist es verdienstvoll, dass Hellmuth Gohde eine Studie für die Hans-Böckler-Stiftung erstellt hat, in der er mit der Behauptung gründlich aufräumt, Deutschland stünde mit seinen Mitbestimmungsregelungen in Europa völlig alleine da.

Es gebe einen „bunten Strauß an Beteiligung“. So habe etwa Schweden „die geringste Regelungsintensität im Arbeitsrecht bei gleichzeitig weit überdurchschnittlichem Niveau an Beteiligungsmöglichkeiten“. In dem uns gegenwärtig gleichfalls immer wieder als beispielhaft vorgehaltenen Österreich sind Beschäftigte und Unternehmen „Zwangsmitglieder“ in ihren jeweiligen Kammern, was z.B. zum Ergebnis hat, dass 99% der Beschäftigten von Tarifverträgen erfasst werden. In Italien oder Frankreich sei zwar die Mitbestimmung nicht gesetzlich geregelt, dafür gebe es ein von den Verfassungen garantiertes umfassendes Streikrecht mit den bekannten betrieblichen Konflikten und der deutlich höheren Bereitschaft zu Streiks zur Durchsetzung von Arbeitnehmerinteressen.
Selbst das „neue“ Europa in Ost- und Südosteuropa sei keineswegs mitbestimmungsfrei.

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