„Ein brutaler Gefängniswärter hat kein Recht, danach zu fragen, wie er sich gegen den Widerstand der Gefangenen zu verteidigen hat“

„Ein brutaler Gefängniswärter hat kein Recht, danach zu fragen, wie er sich gegen den Widerstand der Gefangenen zu verteidigen hat“

„Ein brutaler Gefängniswärter hat kein Recht, danach zu fragen, wie er sich gegen den Widerstand der Gefangenen zu verteidigen hat“

Emran Feroz
Ein Artikel von Emran Feroz

Noam Chomsky im Exklusivinterview. Der amerikanische Linguist Noam Chomsky gilt nicht nur als einer der weltweit bekanntesten Intellektuellen der Gegenwart, sondern ist auch für seine differenziert kritische Haltung zur Politik des Staates Israel bekannt. Emran Feroz hatte die Gelegenheit, mit Chomsky ein Exklusivinterview für die NachDenkSeiten zu führen – ein Gespräch zu den aktuellen Entwicklungen in Nahost, den historischen Wurzeln des Konflikts und eine Einordnung der jüngeren US-Nahost-Politik.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Sie gehören zu den bekanntesten Experten des israelisch-palästinensischen Konflikts im Nahen Osten und zu den größten westlichen Kritikern Israels. Wie bewerten Sie die jüngste Eskalation?

Es gibt immer neue Wendungen, doch im Grunde genommen handelt es sich hierbei um eine alte Geschichte, die vor rund einem Jahrhundert begann und nach dem Sechs-Tage-Krieg und den israelischen Eroberungen im Jahr 1967 neue Formen annahm. Man entschied sich damals für die Expansion und zog diese gegenüber Sicherheit und einem diplomatischen Abkommen vor. Die Vereinigten Staaten unterstützten diesen Schritt in jeglicher Hinsicht. Sie hätten den Konflikt schon längst lösen können, doch der politische Wille hat hierfür gefehlt.

Währenddessen bewegte sich die dominierende Tendenz innerhalb der zionistischen Bewegung in Richtung eines langfristigen Zieles: Der Vertreibung der Palästinenser und ihre Ersetzung durch jüdische Siedler, die als „rechtmäßige Besitzer des Landes“ betrachtet werden und nun nach einem „Jahrtausend des Exils“ zurückkehren. Lord Arthur James Balfour, der Verfasser der gleichnamigen Deklaration (1917) und jener Mann, der den Juden eine „nationale Heimstätte“ in Palästina versprach, war mit diesem Projekt zufrieden. Er war der Meinung, dass das zionistische Bestreben wichtiger sei als die Wünsche und Vorstellungen der damals 700.000 Palästinenser, die in jenem historischen Land beheimatet waren.

Sie vergleichen also die gegenwärtigen Entwicklungen mit den damaligen Vertreibungen von Palästinensern?

Es handelt sich um die Fortführung der damaligen Politik. Der Zionismus war schon immer opportunistisch. Sofern es möglich ist, adaptieren die israelische Regierung sowie die gesamte zionistische Bewegung Strategien des Terrors und der Vertreibung. Falls die Bedingungen es nicht zulassen, wird auf sanftere Mittel zurückgegriffen. Vor einem Jahrhundert geschah dies mittels eines Wachturms und eines Zauns. Bald wurden daraus Siedlungen und vor Ort wurden Fakten geschaffen. Die Menschen wurden verjagt und vertrieben und der israelische Staat ist entstanden. Natürlich hat alles, was heute geschieht, mit diesen Ereignissen zu tun. Man kann sie nicht einfach ausblenden. Heute ist es ebenjener Staat, der palästinensische Familien aus ihren Häusern, in denen sie seit Generationen leben, vertreibt. Die juristischen Rechtfertigungen hierfür, die es innerhalb Israels gibt, sind absolut rassistisch. Das Rückkehrrecht der Palästinenser steht nicht zur Debatte. Selbst eine Rückkehr zu dem, was von den Häusern übriggeblieben ist, wird nicht gestattet. Das Ziel der israelischen Regierung ist die Errichtung eines „Großisraels“, das weite Teile Jerusalems und die umgebenden arabischen Dörfer, das Jordantal sowie einen großen Teil des Westjordanlandes beinhaltet. Das Schicksal der palästinensischen Bevölkerung, die in diesen Gebieten lebt, interessiert die Verantwortlichen nicht. Sie werden als Menschen zweiter Klasse betrachtet.

Gruppierungen wie die Hamas agieren in diesem Kontext wohl weniger zum Vorteil der Palästinenser. Wie denken Sie über die Hamas?

Die Hamas ist eine ziemlich schreckliche Organisation. Der Weg, wie man mit ihren Raketen umzugehen hat, ist allerdings zweiseitig. Man sollte die möglichen Gründe für einen Beschuss im Vorfeld eliminieren. Wir sollten nicht vergessen, dass die Hamas reagierte, nachdem das israelische Militär betende Muslime in der Al-Aqsa-Moschee angegriffen hat. Sie verkündete eine Deadline und meinte, dass sie mit dem Raketenbeschuss nicht aufhören würde, sofern die Angriffe auf die Moschee fortgesetzt werden würden. Ein fundamentaler Lösungsansatz wäre die Beendigung der brutalen Gefangenschaft des Gaza-Streifens, der praktisch unbewohnbar ist. Es gibt darin keine Hoffnung auf ein angemessenes Überleben. Ein brutaler Gefängniswärter und Folterer hat kein Recht, danach zu fragen, wie er sich gegen den gelegentlichen Widerstand der Gefangenen zu verteidigen hat.

Mittlerweile sind Sie in den USA nicht der Einzige, der sich derart israelkritisch äußert. „Palestinian lives matter“, schrieb der ehemalige Präsidentschaftskandidat Bernie Sanders vor Kurzem in der New York Times. Hat sich der Diskurs verändert?

Ja, eine Diskursverschiebung hat stattgefunden. Das ist sehr zu begrüßen. Der Grund hierfür ist die jahrelange, harte Arbeit von Aktivisten, Journalisten und Intellektuellen, die auf die Lage vor Ort aufmerksam machten, sowie das ignorante Verhalten der israelischen Regierung, die aus ihrer Brutalität keinen Hehl macht.

Wie bewerten Sie das Verhalten der US-Regierung in diesem Kontext?

Da wird sich nicht viel verändern. Erst vor Kurzem, ja, in diesen Tagen schloss die Biden-Administration einen Waffendeal mit Israel in Höhe von 735 Millionen Dollar ab. Ohne die Unterstützung aus Washington wäre die massive Unterdrückung der Palästinenser kaum möglich. Donald Trump ging allerdings noch weiter als die meisten US-Präsidenten. Er stellte der israelischen Regierung einen Persilschein für ihre Verbrechen aus. Ein großer Beitrag hierfür waren die Abraham Accords, ein Abkommen zwischen Israel und mehreren arabischen Diktaturen. Das Abkommen war ein wichtiger Bestandteil von Trumps geostrategischer Vision, der Schaffung einer reaktionären Allianz brutaler und repressiver Staaten, die von Washington geführt wird und unter anderem Jair Bolsonaros Brasilien, Narendra Modis Indien, Viktor Orbáns Ungarn und andere, ähnliche Staaten beinhalten soll. Im Nahen Osten gelten neben Israel das tyrannische Sisi-Regime in Ägypten sowie die Diktaturen in Marokko, den Vereinigten Arabischen Emiraten und Bahrain zu den wichtigen Verbündeten.

Denken Sie, dass diese Außenpolitik auch unter Biden fortgesetzt wird?

Die Biden-Administration hat dieses politische Programm übernommen und einige Schritte widerrufen. Die US-Hilfe für den Gazastreifen wurde wiederhergestellt. Trump hatte sie in brutaler Art und Weise abgeschnitten, nachdem er behauptete, die Palästinenser seien „nicht dankbar genug“ gewesen. Doch ansonsten bleibt der Trump-Kushner-Plan weiterhin intakt. Er könnte allerdings mehr und mehr zerbröckeln, falls die israelische Regierung ihre Angriffe auf palästinensische Gläubige in der Al-Aqsa-Moschee fortsetzt oder weiterhin ihr brutales Machtmonopol durchsetzt.

Nun steht ja vorerst ein Waffenstillstand zwischen Israel und der Hamas.

Ich befürchte, dass er uns lediglich zum fürchterlichen Status quo zurückbringen wird.

Israel und Palästina sind gegenwärtig nicht die einzigen Konfliktherde. Was für andere Eskalationsszenarien stehen uns bevor?

Selbst während der Corona-Pandemie rüsteten die Vereinigten Staaten massiv auf. Die Biden-Administration will diesen Pfad nicht verlassen, sondern sucht vielmehr nach weiteren Eskalationen. Sie ist bereits für mehrere gefährliche und provokative Aktionen gegenüber anderen Atommächten verantwortlich. Das darf es nicht geben, denn solche Dinge können immer eskalieren. Man spielt mit der eigenen Vernichtung und mit jener der gesamten Menschheit. Ein Atomkrieg bedeutet das Ende unserer Existenz. Die Provokationen, von denen ich spreche, spielen sich an der Grenze zu Russland und im südchinesischen Meer ab. Falls uns jemand aus dem All beobachtet, denkt er sich wohl, dass wir vollkommen den Verstand verloren haben. Wir spielen mit unserer eigenen Zerstörung. Doch in all diesen Fällen gibt es auch Möglichkeiten für Diplomatie und Verhandlungen. Diese müssen unbedingt wahrgenommen werden. Man muss Entscheidungen treffen. Soll die menschliche Zivilisation auf diesem Planeten erhalten bleiben oder nicht? Darum geht es hier und nicht um weniger.

Titelbild: deepspace/shutterstock.com

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