Kükentöten vorverlegt

Kükentöten vorverlegt

Kükentöten vorverlegt

Ein Artikel von Florian Schwinn

Das war zu erwarten. „Bundestag stoppt Kükentötung“, sagte uns die Tagesschau. Vom „Ende des Kükentötens“ erzählten uns die Schlagzeilen. Und selbst die bei solchen Themen meist genauere taz titelte „Bundestag verbietet Kükentöten“. Diese Schlagzeilen kann sich Bundeslandwirtschaftsministerin Julia Klöckner ans Revers heften – als vollen Erfolg eines Etikettenschwindels. Von Florian Schwinn.

Erst wer weiterliest, kann bemerken, dass das millionenfache Töten männlicher Küken in Deutschland keineswegs am 1. Januar nächsten Jahres beendet wird. Dies allerdings nur bei den differenzierteren und ausführlicheren der Berichte. Was hängenbleibt, dürfte bei den Meisten die Schlagzeile sein, zumal die Supermarktketten den Etikettenschwindel mitmachen. Eine lange vorbereitete und ausdauernd vorgetragene Desinformationskampagne.

Scheinlösung

Es ist eine Frage der Definition: Ist das Embryo im Hühnerei bereits ein Küken oder muss es dazu erst schlüpfen? Nach der Definition der Ministerin ist das Küken im Ei noch keines. Auch die Rewe Group und ihre Tochter Penny haben diese Frage entschieden. Sie bewerben die Eier von Legehennen, deren Brüder schon als Ei „verworfen“ wurden, mit dem Slogan „Eier ohne Kükentöten“. Für die Bruderhahn-Initiative, die älteste der Zusammenschlüsse, die die Hähne aufziehen, ist das Verbrauchertäuschung. „Eier mit Embryonentötung“ wäre korrekt, taugt aber nicht als Verkaufsargument.

Die Fraktionsvorsitzende der Linken hat bei der Debatte im Bundestag richtig benannt, was da am 20. Mai beschlossen wurde. Es sei „eine Scheinlösung“, sagte Amira Mohamed Ali. Der Deutsche Bundestag hat zwar eine Änderung des Tierschutzgesetzes auf den Weg gebracht, die ab 2022 das Töten von Eintagsküken direkt nach dem Schlüpfen verbietet, nicht aber das Töten der Hähne im Ei. „Das Töten von Küken ist unethisch“, sagt Julia Klöckner. Und was ist das Abtreiben von Küken im Ei?

Denn das ist die Scheinlösung, die jetzt per Gesetz zementiert wird: Frühestens nach dem neunten Tag der Bebrütung brennt ein Laser ein winziges Loch in jedes Ei. Durch dieses Loch wird Harnflüssigkeit des Kükens entnommen und diese auf ein weibliches Hormon untersucht. Wird das nicht gefunden, kickt der Automat das Ei aus der Brutmaschinerie. Das werdende Hähnchen wird pasteurisiert, also kurzzeitig hocherhitzt, und dann schockgefrostet. Dann wird das Küken zu Tierfutter verarbeitet. Julia Klöckner ist sehr stolz darauf, dass die Methode der In-Ovo-Geschlechtsbestimmung in Deutschland zur Marktreife entwickelt wurde; mit staatlichem Fördergeld, versteht sich.

Es handelt sich um staatlich geförderte und ab nächstem Jahr auch geforderte Abtreibung. Und wenn wir nun mal in die für uns Menschen gemachten Paragraphen 218 und 218a des Strafgesetzbuches schauen, dann steht da zuoberst: „Wer eine Schwangerschaft abbricht, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.“ Und erst der Paragraph 218a stellt die werdende Mutter straffrei, wenn „seit der Empfängnis nicht mehr als zwölf Wochen vergangen sind.“ Nun gibt es ein paar gravierende Unterschiede zwischen Menschen und Hühnern, wenn es um die Abtreibung der Leibesfrucht geht. Erstens wollte die Henne ganz sicher schwanger werden. Will sie es nämlich nicht, kann sie das Sperma des Hahns einfach wieder ausscheiden. Zweitens wächst das Embryo auch nicht im Körper der Mutter heran, und muss in seiner Kindheit auch gar nicht von der Henne betreut werden. Es lernt seine Mutter nicht einmal kennen. Es gibt also gar kein übergeordnetes Lebensrecht über das Ungeborene. Was bliebe, wenn es nicht um Küken ginge, wäre die Strafbarkeit.

Auch beim Zeitpunkt der Abtreibung wird ein neuer Maßstab angelegt: Die neu entwickelten Selektionsautomaten in den Brütereien brennen das Loch nach dem neunten Tag der Bebrütung ins Ei. In der Praxis, so hört man aus eben diesen Brütereien, geht das meist bis zum 13. Tag. Da ist das Küken schon im zweiten Drittel seiner embryonalen Entwicklung, denn Hühnerküken schlüpfen gewöhnlich am 21. Tag der Bebrütung.

Tierleid

„Endlich ein Ende des Tierleids“, titelte die Hamburger Morgenpost in den gewohnt großen Lettern, bevor der Bundestag in die Debatte zum Kükentöten ging. Und auch Julia Klöckner argumentierte ähnlich, als sie gefragt wurde, ob denn durch die Zusatzkosten der In-Ovo-Geschlechtsbestimmung die Eier teurer werden: „Die Verbraucher sagen uns, dass ihnen mehr Tierwohl auch mehr wert ist.“

Aber wo ist denn das Weniger an Tierleid und das Mehr an Tierwohl? Etwa ab dem siebten Tag der Bebrütung entwickeln die Hühnchen im Ei die Nozizeptoren, das sind die Nervenenden, die das Schmerzempfinden weitergeben. Man darf also davon ausgehen, dass die ausgesonderten Embryonen Schmerz empfinden, wenn sie durch Erhitzen und Schockfrosten getötet werden.

Die Experten wissen das, die Entwickler der Seleggt genannten In-Ovo-Geschlechtsbestimmung wissen das, die Ministerin weiß das. Nur die Technik, das Geschlecht des Heranwachsenden im Ei vor dem siebten Bebrütungstag zu bestimmen, die gibt es noch nicht. Deshalb hat Julia Klöckner eine Übergangsfrist in ihr Gesetz schreiben lassen. Ab 2024 soll das Töten von Hühnerembryonen im Ei nur noch bis zum siebten Tag der Bebrütung erlaubt sein. Mit anderen Worten: Wir wissen, dass wir den Tieren Leid zufügen, wir lassen das aber zu, bis wir eine andere Methode der Geschlechtsbestimmung erfunden haben.

Wir haben die Qual

Wer bei Rewe oder Penny Eier kauft, kann wählen: Es gibt noch immer, bis Jahresende, Eier von Legehennen, deren Brüder getötet wurden, dann gibt es die Rewe-eigenen Bruderhahn-Projekte „Spitz und Bube“ und „Herzbube“. Die eine Marke steht für Freilandhaltung, die andere für die Bodenhaltung in überfüllten Ställen. Bei beiden werden die Hähne nicht getötet, sondern aufgezogen. Und dann gibt es noch Eier von Legehennen, deren Brüder abgetrieben wurden.

Seleggt heißt das Kölner Startup, das mit der Rewe Group und Forschungsgeld aus Berlin die Geschlechtsbestimmung der Embryonen im Hühnerei zur Marktreife gebracht hat; „respeggt“ nennt Rewe die zugehörige Eigenmarke. Ein Marketingspiel mit Begriffen, wobei Selektion nicht so vertrauenserweckend klingt wie Respekt. Wovor aber hätten die Produzenten der respeggt-Eier denn Respekt? Vor dem ungeborenen Leben jedenfalls nicht.

Carsten Bauck vom Bauckhof in Klein-Süstedt, der Gründer der ersten Bruderhahn-Initiative und der einzigen, die auch so heißt, sagt dazu, dass das Gesetz nach wie vor mit Füßen getreten wird. Seit 2002 hat der Tierschutz Verfassungsrang in Deutschland. Und im Tierschutzgesetz steht, dass kein Tier ohne vernünftigen Grund getötet werden darf und dass keinem Tier grundlos Leid zugefügt werden darf. Wenn jetzt der Lebensmittelhandel und die Geflügelhalter behaupten, sie beenden das Kükentöten, und es nur durch Abtreibung ersetzen, dann sei das „eine perfide Augenwischerei“.

Rechtsbeugung

Was hatte das Bundesverwaltungsgericht 2019 entschieden? „Im Lichte des Staatsziels Tierschutz ist das wirtschaftliche Interesse an speziell auf eine hohe Legeleistung gezüchteten Hennen für sich genommen kein vernünftiger Grund im Sinne von § 1 Satz 2 TierSchG für das Töten der männlichen Küken aus diesen Zuchtlinien.“ Bis zu diesem Urteil hatten die Brütereien und Legebetriebe genauso argumentiert und die Verwaltungsgerichte waren dieser Argumentation gefolgt: Weil die Legehennenlinien der industrialisierten Hühnerzucht allein auf weibliche Eigenschaften ausgerichtet sind, nämlich aufs Eierlegen, nehmen die Brüder der Legehennen nicht schnell genug an Gewicht zu. Deshalb sei es wirtschaftlich unzumutbar, die Bruderhähne aufzuziehen. Deshalb wurden immer wieder Ausnahmen gemacht und zugelassen. Und Paragraph 1, Satz 2 des Tierschutzgesetzes wurde ausgehebelt, obwohl der an Eindeutigkeit nicht zu überbieten ist: „Niemand darf einem Tier ohne vernünftigen Grund Schmerzen, Leiden oder Schäden zufügen.“

Als das Bundesverwaltungsgericht 2019 sein Urteil sprach, hat es eine Übergangsregelung hinzugefügt: „Ist jedoch absehbar, dass in Kürze Alternativen zum Töten der Küken zur Verfügung stehen, die den Brutbetrieb deutlich weniger belasten als die Aufzucht der Tiere, beruht eine Fortsetzung der bisherigen Praxis für eine Übergangszeit noch auf einem vernünftigen Grund im Sinne dieser Regelung.“ Nun weiß ich nicht, was das Gericht mit „in Kürze“ meinte. Offenbar sind aber drei Jahre kurz genug, auch wenn das noch einmal 135 Millionen getötete Eintagsküken bedeutet. Nun aber baut Julia Klöckners Gesetzesänderung gleich noch eine weitere Übergangsfrist ein, nämlich noch einmal zwei Jahre Tierleid. Und wenn es bei der bisherigen Zahl getöteter Bruderhähne bleibt, sind das noch einmal neunzig Millionen, dann durch Abtreibung getötete Küken. Ist das auch noch eine angemessene Übergangszeit zur Aussetzung des Tierschutzgesetzes? Vielleicht möchte ja jemand gegen die staatlich geförderte Abtreibung von Hühnerküken klagen?

„Ich würde“, sagt Carsten Bauck, „die In-Ovo-Geschlechtsbestimmung als Brückentechnologie akzeptieren, wenn man klar sagen würde, was dahintersteht: nämlich rein wirtschaftliche Erwägungen.“ Dann aber müsste es auch etwas geben, was danach kommt. Die Eierindustrie müsste dann etwas Zukunft anbieten: Eier ohne Tierleid, ohne Kükentöten und ohne Abtreibung, ohne Quälerei. Also auch ohne die dichtgedrängte „Bodenhaltung“ und ohne den Import von Käfigeiern. Und das müsste auch für die eierverarbeitende Lebensmittelindustrie gelten. Ein Standard für alle. Ohne irreführende Label und Verbrauchertäuschung. Wird es wohl nicht geben. Was bedeutet das für uns?

Ausstieg

Die deutschen Ökoanbauverbände, allen voran Naturland und Demeter, werden nicht mitmachen bei der In-Ovo-Geschlechtsbestimmung. Sie haben sich selbst die Aufzucht der Bruderhähne verordnet. Viele der in den Verbänden organisierten Biobauern tun das schon heute. Sie haben sich zusammengetan mit dem Handel bei der Bruderhahn-Initiative und deren Nachahmern. Sie haben Vermarktungsmöglichkeiten für das Fleisch der Bruderhähne gefunden und suchen derzeit weitere. Denn zum 1. Januar nächsten Jahres wollen alle in den Verbänden organisierten Geflügelhalter die Bruderhähne aufziehen.

Langfristig will die Biobranche ganz raus aus der Haltung der reinen Legehennenlinien, wie sie vom weltweiten Marktführer Lohmann aus Cuxhaven angeboten werden. Derzeit wird deshalb viel Geld und Zeit in die Entwicklung von neuen Zweinutzungshühnern gesteckt. Die werden niemals so viele Eier legen, wie die von vielen Biobetrieben noch genutzten „Lohmann Brown“, aber ihre Brüder werden stattliche Hähnchen sein. Und wenn am Ende wenigsten im Bioladen oder Biosupermarkt gilt, was Julia Klöckner von uns Verbraucherinnen und Verbrauchern sagt, dass uns nämlich mehr Tierwohl auch mehr wert sei – dann müsste wenigstens diesem Teil der Branche der Umstieg gelingen.

Für die industrielle „konventionelle“ Hühnerhaltung und Eierproduktion dürfte aber die In-Ovo-Geschlechtsbestimmung und die jetzt auf den Weg gebrachte Gesetzesanpassung die Zementierung des Status Quo bedeuten: Weiter so mit den spezialisierten Legehennenlinien und den Wegwerfhähnen.

Nun gut, wir wissen ja, was zu kaufen ist: Nichts mehr, auf dem einfach nur „Freilandhaltung“ steht, „Bodenhaltung“ ja sowieso nicht. Und Bio allein reicht auch nicht. Nur noch Eier von Legehennen, deren Brüder ausgewachsene Hähne werden dürfen. Und ab nächstem Jahr dann nur noch Eier von Betrieben der Bioverbände, die die In-Ovo-Abtreibung nicht mitmachen …

Titelbild: Santirat Praeknokkaew/shutterstock.com

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