Deutsche Kaltschnäuzigkeit: Der 80. Jahrestag des Überfalls auf die Sowjetunion.

Deutsche Kaltschnäuzigkeit: Der 80. Jahrestag des Überfalls auf die Sowjetunion.

Deutsche Kaltschnäuzigkeit: Der 80. Jahrestag des Überfalls auf die Sowjetunion.

Ein Artikel von Irmtraud Gutschke

Die Verweigerung eines offiziellen Gedenkens an den 22. Juni 1941 entspricht einer kühlen Siegermentalität, ist Abweisung deutscher Schuld an diesem Vernichtungsfeldzug. Und der Akt offenbart ein Dilemma der Bundesrepublik. Von Irmtraud Gutschke.

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Am 22. Juni jährt sich zum 80. Mal der Überfall der deutschen Wehrmacht auf die Sowjetunion. Die Fraktion „Die Linke“ hatte dazu eine Gedenksitzung im Parlament beantragt. Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble wies dies bekanntlich mit der Begründung zurück, man „wolle an der bisherigen parlamentarischen Übung einer ungeteilten Erinnerung an den gesamten Verlauf des Zweiten Weltkriegs und des von ihm ausgegangenen Leids festhalten“. Von einem Bundestagspräsidenten kann man erwarten, mit Bedacht zu formulieren. Mit Bedacht wurde deutsche Schuld in den Hintergrund gerückt: Es sei eben „der Krieg“ gewesen, der all das Leid verursacht hat. Andernfalls hätte man in der BRD die Kriegstreiber und Kriegsgewinnler zur Verantwortung ziehen und sich nicht mit den Nürnberger Prozessen zufriedengeben müssen. Man hätte den Weg struktureller gesellschaftlicher Veränderungen gehen müssen, die in der DDR radikal in Gang gesetzt, in der alten Bundesrepublik vage angedacht, aber nicht verwirklicht worden sind.

Man möchte lieber von den Westmächten befreit worden sein

Und was verbirgt sich hinter der nebulösen Formulierung „Übung einer ungeteilten Erinnerung an den gesamten Verlauf des Zweiten Weltkriegs“? Ganz einfach: Das offizielle Berlin verweigert das Eingeständnis, dass die Sowjetunion in diesem Krieg die größten Opfer gebracht und zum Sieg über das Naziregime einen besonderen Beitrag geleistet hat. Was ebenfalls westdeutscher Tradition entspricht. Man möchte lieber von den Westmächten als von der Sowjetunion befreit worden sein. Die Nazi-Ideologie vom „bolschewistischen Untermenschen“ lebte unterschwellig fort und konnte nahtlos in einer antikommunistischen Opferrolle aufgehen. Vornehmlich den „Amerikanern“ fühlte man sich für die „Freiheit“ zu Dank verpflichtet.

Sogar der Begriff „Holocaust“ für den Völkermord an den Juden ist ja aus den USA gekommen – 1979 durch eine von NBC produzierte vierteilige Fernsehserie. Eli Wiesel nannte sie eine „Seifenoper“. Der in Hollywood-Manier inszenierte Vierteiler war bewusstseinsprägend, indem er Empathie mit den Opfern weckte. Doch die Täter blieben fern gerückt. Über den systemischen Wurzeln dieser Verbrechen lag ein Schleier. Angesichts von sechs Millionen ermordeten Juden hat sich die Bundesrepublik immer wieder demonstrativ an die Seite Israels gestellt, als dessen Schutzmacht sich die USA sahen. Die Schuld an den 27 Millionen Toten – zwei Drittel davon Zivilisten – in der Sowjetunion rückte in den Hintergrund. Ganz einfach, weil die Anti-Hitlerkoalition keinen Bestand hatte und bald ein Kalter Krieg begann, der die deutsch-deutsche Grenze zur Frontlinie machte.

Gorbatschows Illusionen

Gorbatschows einseitiger Versuch, die Konfrontation zu beenden, ist im besten Falle illusionär gewesen. Er brauchte dringend wirtschaftliche Unterstützung für sein verschuldetes Land, sah die Chance auf ein Ende des Wettrüstens und hatte die Idee eines gemeinsamen europäischen Raumes von Lissabon bis Wladiwostok. Der aus heutiger Sicht naive Traum endete mit dem Zerfall der UdSSR und mit dem Vorrücken der NATO in viele jener Staaten und Gebiete, die vorher mit ihr verbunden gewesen waren.

Die in der BRD genährte Vorstellung, die Maueröffnung sei durch eine friedliche Revolution in der DDR bewerkstelligt worden, ist eine nationalistische Fiktion. Ohne die sowjetische Zustimmung wäre die deutsche Vereinigung nicht zustande gekommen. Um seine mindestens blauäugige Hoffnung, die Deutschen würden sich dankbar erweisen, wurde Gorbatschow geprellt. Seine westdeutschen Gesprächspartner können sich auf die Schultern klopfen, wie bedingungslos er ihnen vertraute, dass die Preisgabe der DDR auch für die DDR-Bürger am besten sei. Denjenigen noch einen Schutz zu geben, welche die DDR im Sinne des sowjetischen Bündnisses gestützt hatten, interessierte ihn nicht. Er vermochte es wahrscheinlich auch nicht mehr.

Deutsch-sowjetische Freundschaft im Osten nicht nur Staatsraison

So wie die DDR durch den Beitritt zur BRD „geschluckt“ wurde, ist ihren Bürgern auch das dort herrschende außenpolitische Freund-Feind-Schema übergestülpt worden. Auch das ist ein Grund, warum sich gerade viele Ostdeutsche mit bundesdeutscher Politik nicht identifizieren können. Deutsch-sowjetische Freundschaft war ja nicht nur Staatsraison, sondern für viele auch Herzenssache gewesen. Gorbatschows Vision eines gemeinsamen „europäischen Hauses“ war von solcher Strahlkraft, dass ihr Scheitern zur deutschen Schuld gegenüber den Russen hinzukommt. Deutschland wird nie wirklich vereint sein, wenn solcherlei ostdeutsche Befindlichkeiten nicht ernstgenommen, ja unterdrückt werden. DDR-Vergangenheit für alle möglichen Probleme der Gegenwart haftbar zu machen, hat sich eingebürgert. Westdeutsche sind fein raus, angeblich brauchen sie nichts zu revidieren.

Fein raus sind sie in gewisser Weise auch nach Kriegsende gewesen. Der Osten zahlte Reparationen an die vom Krieg gebeutelte UdSSR, der Westen hatte den Marshallplan. Die mit vielen strategischen und wirtschaftlichen Hintergedanken gezahlten 13,12 Milliarden Dollar zwischen 1948 bis 1952 zeigten Wirkung im Interesse der USA am freien Handel und an Europa als Exportmarkt. Vor allem aber dienten sie dazu, das gibt sogar Wikipedia zu, „die politische und wirtschaftliche Lage zu stabilisieren, um den sowjetischen Einfluss in Europa einzudämmen“. Mit dem Marshallplan ist es vorbei, doch die gegen Russland gerichtete Tendenz US-amerikanischer Politik ist geblieben. Und ich mache mir keine Hoffnung, dass sich nach dem Gespräch der beiden Präsidenten Putin und Biden daran grundsätzlich etwas ändert.

Deutschland bleibt in den Mustern des Kalten Krieges gefangen

Deutschland als Verbündeter der USA bleibt in den Mustern des Kalten Krieges gefangen. Wer auch immer Schäubles Absage formulierte, hat in Gedanken nach Washington geschaut, wie die Worte dort wohl aufgenommen werden, und in diesem Zusammenhang, auch nach Warschau, Kiew, Riga, Vilnius, Tallinn, die ja als Bollwerk gegen Russland dienen sollen. Wobei in diesen Staaten, Ironie der Geschichte, immer noch nicht begriffen wurde, dass sie „dienen“. Zum eigenen Vorteil zu handeln, gelingt ihnen nur insoweit, wie sie das transatlantische Interesse wachhalten können. Von vermeintlicher russischer Bedrohung zu faseln, weckt vielleicht tatsächlich Mitgefühl bei Europapolitikern, die selbst in solchen Vorstellungen aufgewachsen sind. Man wundert sich ja immer wieder über die menschliche Fähigkeit, sich Realität zurechtzubiegen.

Dass dies auch verbürgte historische Fakten betrifft, mag man kaum glauben und muss sich doch eingestehen, dass die Deutung von Geschichte mit gegenwärtigen machtpolitischen Interessen zusammenhängt. Am 19. September 2019 verabschiedete das EU-Parlament eine Resolution, die Hitler und Stalin gleichermaßen die Schuld am Kriegsausbruch zuwies. Der ausführliche Text kann auf der Webseite des EU-Parlaments nachgelesen werden. 535 Abgeordnete stimmten für diese Entschließung, 66 dagegen und 52 enthielten sich der Stimme. Wobei allein schon der Titel verräterisch ist: „Bedeutung des europäischen Geschichtsbewusstseins für die Zukunft Europas“. Es ist also nicht von historischen Tatsachen die Rede, sondern von der Widerspiegelung derselben im Sinne eines politischen Ziels. Wie zynisch hier Geschichte instrumentalisiert wurde, lag offen zutage. Es wurde hingenommen, vielleicht auch mit dem Hintergedanken, denjenigen eine verbale Genugtuung zu geben, die ständig klagten und forderten, und gleichzeitig Russland einen Schlag zu versetzen. Dass es eine tiefe Beleidigung war, ein Schlag ins Herz geradezu, musste man wissen.

In seiner Ansprache zum „75. Jahrestag des Großen Sieges: Gemeinsame Verantwortung vor Geschichte und Zukunft“ am 19. Juni 2020 setzte sich Wladimir Putin detaillierter als erwartet mit der Verzerrung von Fakten auseinander. Ausführlich belegte er, wie bei der Zergliederung der Tschechoslowakei auch Polen agierte und wie Großbritannien und Frankreich die Tschechen und Slowaken im Stich ließen, „mit dem Ziel, dass Deutschland und die Sowjetunion unvermeidlich aufeinanderstoßen und einander ausbluten könnten“. Auch deutsch-englische Kontakte gab es hinter den Kulissen, wohingegen die trilateralen Verhandlungen von Vertretern Frankreichs, Großbritanniens und der UdSSR bewusst verzögert wurden. „In der entstandenen Situation unterzeichnete die Sowjetunion den Nichtangriffspakt mit Deutschland faktisch als Letztes der europäischen Länder, und das vor dem Hintergrund der realen Gefahr, mit einem Zweifrontenkrieg konfrontiert zu werden – mit Deutschland im Westen und Japan im Osten, wo bereits intensive Kämpfe am Fluss Chalcha stattfanden.“

Die Neuordnung Europas nach 1990 als erneute Demütigung Russlands

Der Hitler-Stalin-Pakt vom August 1939 mit dem geheimen Zusatzprotokoll ist in der DDR kaum thematisiert worden. Auch der Zusammenhang zwischen Erstem und Zweitem Weltkrieg sollte keine Rolle spielen. Die Klage über verlorene deutsche Gebiete unterlag dem Verdikt des Revanchismus. Die „nationale Demütigung“ Deutschlands durch den Versailler Vertrag, so Putins Einschätzung, habe den „Nährboden für radikale und revanchistische Stimmungen“ gebildet. „Paradoxerweise trugen westliche Staaten, vor allem Großbritannien und die USA, direkt oder indirekt dazu bei“, indem sie in deutsche Rüstungsproduktion investierten. Dass die Grenzziehungen durch die Siegermächte des Ersten Weltkriegs zu „Zeitminen“ wurden, betraf, ungesagt, ebenso den Friedensvertrag von Brest-Litowsk, durch den Russland 26 Prozent seines damaligen europäischen Territoriums verlor, wo mehr als ein Drittel der Bevölkerung lebte. Tatsächlich hat Stalin davon einiges wieder rückgängig gemacht, was heutigen Nationalisten in Osteuropa Wasser auf die Mühlen gibt. Die Neuordnung Europas nach 1990 ist eine erneute Demütigung Russlands gewesen.

Die Verweigerung eines offiziellen Gedenkens an den 22. Juni 1941 entspricht kaltschnäuziger Siegermentalität, ist Abweisung deutscher Schuld an diesem Vernichtungsfeldzug, der das Ziel hatte, „Osteuropa bis zur Linie Astrachan-Archangelsk zur Kolonie“ zu „machen, um eine Basis für den Aufstieg zur Weltmacht zu gewinnen“ (Hans-Heinrich Nolte). Und es ist wohl auch ein untergründiger Versuch, den Makel des Verlierers loszuwerden, weil die Sowjetunion der Okkupation widerstand. Wie bundesdeutsche Politiker vom hohen Ross herab Russland auf eine geradezu unerträgliche Weise zu belehren trachten, gehört zu dieser Logik.

Heiko Maas’ Schachzug

In der Öffentlichkeit fast unbemerkt hat es, wie auf der Webseite des Bundestages nachzulesen, am 9. Juni eine Debatte zum Thema gegeben, die das politische Dilemma offensichtlich werden ließ. Außenminister Maas sprach zwar davon, dass mit dem Überfall auf die Sowjetunion das „mörderischste Kapitel“ des Vernichtungskriegs im Osten Europas begann, welcher der „Versklavung und Auslöschung ganzer Staaten und Völker“ dienen sollte, unternahm dann aber einen geschickten Schachzug, um den „30 Millionen Menschen, die in Mittel- und Osteuropa ihr Leben lassen mussten“, den Mord an 27 Millionen in der Sowjetunion zu subsumieren. Geradezu himmelschreiend war es in diesem Zusammenhang, wie er die „eklatanten Verletzungen“ des Völkerrechts durch die Regierungen von Belarus und Russland anprangerte, die neonazistischen Umtriebe in der Ukraine aber durch Schweigen rechtfertigte. Dass Dietmar Bartsch für die Fraktion „Die Linke“ NATO-Manöver im Osten Europas kritisierte, ist auf der Webseite des Bundestages verschwiegen und nur in einem analytischen Artikel von Dagmar Henn auf „rt.de“ nachzulesen.

Deutsche Peinlichkeit. Auch wenn ich immer noch die Hoffnung habe, dass Bundespräsident Steinmeier zum Gedenken an den 22. Juni 1941 noch eine würdige Rede hält, die Bundesrepublik hängt immer noch ihrem russophoben, antikommunistischen Schatten aus Nazizeiten an und macht zudem – sich teils gegen eigene Interessen im Kielwasser der USA bewegend – nicht immer den Eindruck, ein wirklich souveräner Staat zu sein.

Titelbild: horyd yury / Shutterstock

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