Quick-Commerce – die Rückkehr der Dienstbotengesellschaft

Quick-Commerce – die Rückkehr der Dienstbotengesellschaft

Quick-Commerce – die Rückkehr der Dienstbotengesellschaft

Jens Berger
Ein Artikel von: Jens Berger

Sie schießen wie Pilze aus dem Boden der Besserverdiener-Viertel in deutschen Großstädten – Bringdienste mit Namen wie Gorillas oder Flink, die mit dem Versprechen antreten, über eine App zusammengeklickte Supermarkt-Artikel in weniger als 10 Minuten bis zur Haustür zu liefern. Die Mehrkosten für die Kunden sind überschaubar, die Geschäftsmodelle alles andere als nachhaltig. Dass die Verluste nicht noch größer ausfallen, liegt nur daran, dass man seinen Kampf um den Markt auf dem Rücken schlecht bezahlter, weitestgehend rechtloser Mitarbeiter austrägt, die durch die Corona-Maßnahmen ihre vorherigen Jobs verloren haben. In einer halbwegs fairen und gleichen Gesellschaft hätten solche Geschäftsmodelle keine Chance. Ihr Siegeszug in Deutschland zeigt, wie ungerecht und ungleich unsere Gesellschaft geworden ist. Von Jens Berger.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Im Kaiserreich war es üblich, dass jeder Kolonialwarenladen in einem besseren Stadtviertel einen oder mehrere Boten beschäftigte. Dies waren oft Kinder oder Jugendliche, die den feinen Herrschaften dann für ein paar Pfennige die schweren Einkaufstaschen bis vor die Haustür trugen, wo sie vom Hauspersonal entgegengenommen wurden. In Ländern der Dritten Welt und den sogenannten Schwellenländern mit ihren enormen, aber gesellschaftlich akzeptierten Unterschieden zwischen Reich und Arm gab es diese Dienstleistung auch in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts, während sie in Mitteleuropa nahezu in Vergessenheit geriet. Kinderarbeit ist seit langem verpönt und in einer Gesellschaft mit einer breiten Mittelschicht galten Geschäftsmodelle, die sich derart eindeutig auf die Ausbeutung prekärer Niedriglöhner gründeten, als unanständig. So trugen selbst die Besserverdiener jahrzehntelang ihre Einkaufstüten selbst. Doch diese Zeiten sind vorbei. In städtischen Besserverdiener-Vierteln kann man heute seine Einkäufe bequem per App zusammenstellen und sie sich in weniger als zehn Minuten von einem Niedriglöhner auf dem Fahrrad oder Mofa bis zur Haustür liefern lassen. Und dies noch nicht einmal sonderlich teuer. Beim Branchenprimus Gorilla ist man bereits mit einer festen Liefergebühr von 1,80 Euro dabei. So wird das Ausbeuten noch nicht einmal ein Privileg der Oberschicht. Jeder kann mitmachen und das zeitgemäß per Klick und ohne Gewissensbisse.

Wie funktioniert ein solches Geschäftsmodell? Erfunden wurde es, wo auch sonst, in den USA. Dort startete 2013 der Lieferdienst goPuff mit seinem Angebot, Supermarktartikel blitzschnell und mit einem geringen Aufpreis von Kurieren an Kunden ausliefern zu lassen, die ihren Einkauf über die unternehmenseigene App abgeschlossen haben. In Deutschland wurde dieser Sektor lange von den Einzelhandels-Platzhirschen und dem eCommerce-Giganten Amazon mit seinem Angebot Amazon fresh beherrscht. Nur dass diese Angebote sich eher auf größere Einkäufe bezogen und auch „erst“ am gleichen oder dem nächsten Tag ausgeliefert wurden und nicht bereits wenige Minuten nach der Bestellung. Diesen Sektor deckte zuerst der Lieferdienst Gorillas ab, der erst im Mai 2020 gegründet wurde und natürlich ganz massiv von den Corona-Maßnahmen profitierte. Wer Angst vor dem Virus oder keine Lust hatte, sich mit Maske in den Supermarkt zu begeben, konnte sich von den Fahrradkurieren – sie selbst nennen sich „Rider“ – von Gorillas zeitnah und ohne großen Aufpreis die Waren nach Hause liefern lassen. Binnen eines Jahres wuchs Gorillas in einem atemberaubenden Tempo – heute wird das Unternehmen auf eine Milliarde Euro taxiert, beschäftigt rund 6.000 Mitarbeiter und ist in den Besserverdiener- und Szenevierteln zwanzig deutscher und zahlreicher internationaler Großstädte vertreten.

Dies wäre ohne Corona auch aus einem ganz anderen Grund nicht möglich gewesen. Die „Rider“, also die Fahrradkuriere, von Gorillas verdienen nur knapp über dem Mindestlohn und sind aufgrund der überambitionierten Lieferzeit und Arbeitsbedingungen wie aus dem Frühkapitalismus nicht gerade ein begehrter Traumjob. In einem funktionierenden Arbeitsmarkt gäbe es gar nicht genügend Interessenten, die sich auf diesen Knochenjob zu diesen Konditionen einlassen würden. Die Corona-Maßnahmen haben jedoch gerade in den Großstädten vor allem in den prekären Jobs gewütet, aus denen Lieferdienste wie Gorillas im letzten Jahr ihr Personal rekrutierten – Aushilfsjobber aus der Gastronomie, oft Migranten, die kaum Deutsch sprechen; nicht umsonst ist Englisch die Betriebssprache bei Gorillas. Auch zahlreiche Studenten sind unter den Mitarbeitern, also größtenteils jüngere Menschen, für die während der Maßnahmen-Krise kein soziales Netz gespannt wurde und die aufgrund ihrer prekären Arbeitsverhältnisse auch nicht von Kurzarbeit oder sonstigen staatlichen Hilfen profitieren konnten. Die Maßnahmen und die Weigerung der Politik, Opfern der Maßnahmen zu helfen, die in prekären Arbeitsverhältnissen beschäftigt sind, haben das Geschäftsmodell des Quick-Commerce, so bezeichnen sich diese Dienste, eröffnet.

Finanziert wird die atemberaubende Expansion dieser Unternehmen vornehmlich durch Risikokapital; und hier ist der Begriff „Risiko“ durchaus ernstzunehmen. Nachhaltig ist dieses Geschäftsmodell nämlich nicht. Wenn ein Rider einen Stundenlohn von 10,80 Euro bekommt, muss er sechs Kunden pro Stunde beliefern, um nur seinen Lohn über die Liefergebühren von 1,80 Euro pro Bestellung zu erwirtschaften. Schon das ist nicht möglich. Hinzu kommen indirekte Kosten (z.B. die Sozialabgaben) der Beschäftigten, die Kosten für die Logistik – die lokalen Auslieferungslager sind geschäftsmodell-bedingt natürlich auch in den „besseren“ und somit teuren Stadtteilen untergebracht, in denen die Kundschaft lebt. Und so macht Gorillas – internen Dokumenten zufolge, die das Managermagazin ausgewertet hat – mit jeder Bestellung 1,50 Euro Verlust. Das erinnert an eine klassische Blase, die jedoch in der risikokapitalgetriebenen Internet-Ökonomie schon fast normal ist. Man sammelt einen dreistelligen Millionenbetrag von Investoren ein und expandiert trotz roter Zahlen in einem atemberaubenden Tempo mit dem Ziel, das Unternehmen später für einen Milliardenbetrag an einen multinationalen Konzern zu verkaufen oder selbst an die Börse zu gehen und weitere Milliarden Investorengelder einzusammeln. Real wird zwar Geld verbrannt, was aber nicht interessiert, solange der Unternehmenswert losgelöst von der Realität bewertet wird. Irgendwann platzt die Blase zwar, aber wenn dies innerhalb der Gewinn- und Verlustrechnung eines hochprofitablen Multis wie Amazon oder Google passiert, deren Rücklagen schier unermesslich sind, ist dies nur noch eine Randnotiz.

Die eigentlichen Verlierer sind neben den ausgebeuteten Niedriglöhnern die meist als Familien- oder Kleinbetrieb geführten Konkurrenten aus der Realwirtschaft. Während Dienste wie Amazon fresh eher mit den großen Supermarktketten konkurrieren, sind Gorillas und Co. eine Kampfansage an die kleinen Kioske, Büdchen und Spätis, die in der Großstadt der erste Anlaufpunkt sind, wenn man noch eine kleine Besorgung zu erledigen hat. Hat Amazon den klassischen Einzelhandel in den Städten ruiniert, drohen Gorillas und Co. nun den kleinen Geschäften im großstädtischen Bereich den Boden unter den Füßen wegzureißen. Aber was soll´s? Der ehemalige Späti-Besitzer kann sich ja aufs Fahrrad schwingen und zum Mindestlohn Rider werden. Insbesondere im Dienstleistungssektor ist die Prekarisierung ja ohnehin kaum mehr aufzuhalten, zumal weder Politik noch die Endkunden einen Hauch von Problembewusstsein haben. Da ist es wichtiger, dass die Niedriglöhner umweltschonend mit dem Fahrrad unterwegs sind und die Einkäufe dem Kunden in einer Tüte aus recyceltem Papier überreichen; schließlich will man die Welt retten und wenn dabei eine neue Schicht von Dienstboten entsteht, die einem für wenig Geld unliebsame Aufgaben abnimmt, wird dies eher als Kollateralnutzen wahrgenommen. Man lebt in seiner kleinen Blase und stört sich nicht an den Arbeitsbedingungen der Dienstbotenschicht, sondern höchstens daran, dass im schönen Kiez nun Lastwagen unterwegs sind, die die Auslieferungslager morgens beliefern. Man gibt zwar vor, international und kosmopolitisch zu denken, hat aber bei konkreten Fragen doch meist nur einen Horizont, der nicht über die eigene Blase hinausgeht. Wäre es anders, gäbe es das Geschäftsmodell des Quick-Commerce überhaupt nicht.

Nun sind es ausgerechnet die Ausgebeuteten, die die Risse dieses Geschäftsmodells aufzeigen. Nachdem ein Berliner „Rider“ von Gorillas wegen fadenscheiniger Begründungen fristlos gekündigt wurde, kam es zu wilden Streiks der Beschäftigten und Bestrebungen, einen Betriebsrat zu gründen – sehr zum Missfallen der Geschäftsführung, die – zu Recht – fürchtet, dass ihr auf der Ausbeutung der Mitarbeiter basierendes Geschäftsmodell dadurch noch deutlichere Risse bekommt. Man kann nur hoffen, dass die Mitarbeiter sich durchsetzen; denn weder Politik noch Verbraucher sind gewillt, dieser Fehlentwicklung entgegenzuwirken, die im Kleinen ein „gutes“ Beispiel dafür ist, was im Großen schiefläuft.

Titelbild: Timeckert/shutterstock.com

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