„Die verzerrte Berichterstattung über die Realität ist die Realität“ (Karl Kraus). Von Hubert Seipel.

„Die verzerrte Berichterstattung über die Realität ist die Realität“ (Karl Kraus). Von Hubert Seipel.

„Die verzerrte Berichterstattung über die Realität ist die Realität“ (Karl Kraus). Von Hubert Seipel.

Ein Artikel von Hubert Seipel

Vorbemerkung der Redaktion: Die Süddeutsche Zeitung brachte am 20. Juni eine Rezension des neuen Buches von Hubert Seipel. Autorin dieses Stücks „Prügelknabe des Westens“ war die Mitarbeiterin der Münchner Universität LMU, Franziska Davies. Hubert Seipel hat ihre Buchbesprechung für die NachDenkSeiten gewürdigt und auseinandergenommen. – Zum Hintergrund siehe auch die Buchbesprechung von Irmtraud Gutschke für die NachDenkSeiten vom 12. Mai: Russland und die EU: In den Schützengräben.

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„Die verzerrte Berichterstattung über die Realität ist die Realität“ (Karl Kraus)

Als Schreiber gerät man gelegentlich in die immer gleiche Zwickmühle. Antworte ich nun auf eine Buchkritik im Feuilleton oder nicht? Eine Frage, die sich selbstverständlich nur dann stellt, wenn es sich um einen Verriss handelt. Natürlich weiß ich, dass Selbstwahrnehmung und Fremdwahrnehmung sich meistens unterscheiden und ich, sollte ich denn empört gegen eine vermeintliche Fehleinschätzung anschreiben, in der Regel nur bestätige, dass der Autor wie vorherzusehen offenkundig keine Kritik verträgt. Womöglich unter Realitätsverlust, wenn nicht gar unter ausgeprägtem Narzissmus leidet.

Die Rollenverteilung des Gewerbes ist klar, der Kritiker ist qua ungeschriebenem Gesetz von Hause aus der oberste Richter. Hier das Feuilleton oder die Jury, und dort der Autor und sein Werk – oder eben manchmal halt auch nur sein Machwerk. Das sind die Spielregeln des medialen Marktes – einerseits.

Andererseits. Auch Kritiker sind bekanntermaßen Menschen mit Vorlieben für kulturelle Codes, für politische Verbindungen und mit ausgeprägten Vorstellungen, wie die Welt zu sein hat. Wie es der Satz beschreibt, den einst der Medien-Kritiker Karl Kraus schon vor hundert Jahren zu Papier brachte. „Die verzerrte Berichterstattung über die Realität ist die Realität.“

Daraus folgt allerdings nicht zwanglos, dass man den Zustand klaglos hinnehmen muss. Auch für Rezensionen gelten Spielregeln. Und deswegen habe ich mich zum Schreiben entschlossen. Der Anlass ist der Klassiker. Ein Verriss meines Buches in der „Süddeutschen Zeitung“. Nichts Besonderes eigentlich. Doch was mich ärgert, ist die penetrante Vorstellung der Autorin Franziska Davies, ich müsste ein Buch über ein kontroverses Thema so schreiben, wie es der Kritikerin vorschwebt. Als eine Art Auftragsarbeit, bei der Abweichungen von einem vorgegebenen Entwurf streng geahndet werden, weil wir uns ja alle einig sind, worum es geht.

Mediale Schützengräben

Es geht um einen Trend. Um den zunehmenden Streit um Gut und Böse, um alles oder nichts, um ganz oder gar nicht, wie der publizistische Nahkampf diese Woche einmal mehr belegt. Weil die „Zeit“ einen Artikel des russischen Präsidenten Wladimir Putin veröffentlicht hat, gehen „Bild“, die „Süddeutsche Zeitung“ und der „Deutschlandfunk“ auf die Barrikaden. Ihre rigorose Forderung, die offenkundig nicht verhandelbar ist: Einen Bösewicht wie Wladimir Putin darf man nicht drucken – auch wenn er in dem Artikel dafür plädiert, gemeinsam einen Neuanfang in Europa zu versuchen, um die explosive Stimmung zu entschärfen. Seine Interpretation der vergangenen Ereignisse, befindet die mediale Wahrheitskommission, stimmt nicht mit der eigenen Überzeugung überein, dass nun mal der russische Präsident die Schuld an der Misere trägt.

Der selbsternannte Wohlfahrtsausschuss ist sich in seinem Plädoyer einig, was geht und was nicht. Der Kommentator des Deutschlandfunks hat es direkt formuliert: „Die Zeit hat einen Gastbeitrag des russischen Präsidenten Putin veröffentlicht. Das hätte sie nicht tun dürfen.“ Und für die Süddeutsche Zeitung steht fest: „Die Zeit der Kooperation und Kommunikation zwischen Europa und Russland“ wird erst dann kommen, „wenn er nicht mehr im Amt ist“. Bis dahin haben die Journalisten mit Stahlhelmen in den medialen Schützengräben auszuharren.

Es ist diese Form der Mobilmachung, die seit längerem die Stimmung auch in den Feuilletons bestimmt. Wir sind die Guten und das Böse kommt von außen. Wenn man über Russland schreibt, dekretiert Franziska Davies in der Süddeutschen Zeitung wie allenfalls der Chef der vatikanischen Glaubenskongregation in Rom, dann hat es vorrangig um die „inneren Widersprüche und Dynamiken“ des Landes zu gehen, über die zu schreiben ist. Punkt. Die selbsternannte Richterin verlangt prinzipiell nach grundlegender Aufklärung über „massive Menschenrechtsverletzungen“, nicht zuletzt „an Homosexuellen in der russischen Teilrepublik Tschetschenien“. Auch sie fordert, Antworten von Wladimir Putin grundsätzlich nicht einfach stehenzulassen, sondern gleich zu kommentieren und richtigzustellen, damit der unbedarfte Leser nicht selbst zu denken braucht – als eine Art betreutes Zuhören, eine Anleitung zum richtigen Verständnis.

Und da ich offenkundig kein Anhänger dieser sonderpädagogischen Geschichtsschreibung bin, andere nennen es auch Political Correctness, steht die Anklage schon plakativ im Vorspann des Artikels über mein Buch. Hubert Seipel hat sich „zum Anwalt von Russlands Präsidenten“ gemacht, lautet der plakative Vorwurf, „durch Weglassen von Fakten“.

Die Klageschrift, die sich Frau Davies wünscht, hat allerdings mit mir wenig zu tun. „Putins Macht. Warum Europa Russland braucht“, lautet der Titel meines Buches bei Hoffmann und Campe. Es geht um globale Machtverhältnisse, Geopolitik. Um alte und neue Feindbilder und um unser Verhältnis zu Russland. Um das Selbstverständnis von Wladimir Putin.

So steht es im Pressetext des Verlages und auch auf dem Cover des Buches. Es geht um die Spannungen in Europa, von denen viele historische Ursachen haben. Um jenen gelegentlich absurden Krieg der Erinnerungen. Erinnerungen an Verletzungen, die teilweise bis in die Zarenzeiten zurückgehen. Die oft bewusst, manchmal unbewusst eingesetzt werden und so die Erinnerung an den letzten großen Krieg verdrängen, den Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier gerade eindrucksvoll zum 8o. Jahrestag des Überfalles auf die einstige Sowjetunion beschrieben hat.

Es geht um die Erbfeindschaft zwischen Moskau und Washington und den besonderen Anspruch des American exceptionalism, die Welt zu missionieren, nach dem die Menschen alle gleich sind, auch wenn sich das zuhause in den USA selbst noch nicht sehr weit herumgesprochen hat und Figuren wie Donald Trump erst möglich macht. Und nicht zuletzt geht es in dem Buch darum, ob Europa weiterhin nur politischer Dienstleister für die USA ist. Ein Umstand, den der französische Präsident Emmanuel Macron mehrfach und lautstark als „den Hirntod der NATO“ beklagt hat, nicht nur, als die USA im Alleingang den Vertrag mit Russland über die Begrenzung der Mittelstreckenraketen kündigten. Die Eiszeit in den Beziehungen zu Moskau, so Macron, habe Europa nicht sicherer gemacht. Und natürlich geht es um konkrete wirtschaftliche Interessen der globalen Player USA, China und auch Russland, um Wladimir Putin – und um unterschiedliche Blickwinkel. „Geschichte wäre etwas Ausgezeichnetes, schrieb einst der Schriftsteller Leo N.Tolstoi, „wenn sie nur wahr wäre.“

Worum es in dem Buch nicht geht, ist das, was sich die Rezensentin wünscht. Es geht nicht um eine kosmopolitische Anklage mit dem Hauptverdächtigen aus Moskau auf der Anklagebank, der für das Leid der Welt verantwortlich gemacht wird. Und da beginnt das Problem für mich. Franziska Davies wünscht sich ein Buch, das ich nicht angekündigt habe und mit dem ich nichts zu tun habe.

Gelungenes Framing oder das Weglassen von Fakten

Ihr Urteil findet sich so schon gleich im Vorspann. „Hubert Seipel macht sich zum Anwalt von Russlands Präsident – etwa durch Weglassen von Fakten.“

Der Vorwurf ist leicht schizophren, aber mit etwas Mühe nachvollziehbar. Ich lasse natürlich zwangsläufig Franziska Davies‘ gefühlte Fakten weg, weil Franziska Davies gerne nicht mein, sondern ihr Skript lesen möchte. Damit ist die Lage übersichtlich. Thema verfehlt, schrieb früher gerne der Deutschlehrer in diesem Fall unter den Besinnungsaufsatz.

Der Auftakt der Buchbesprechung ist nur der Beginn einer schriftlichen Anklage, die sich schnell zu einem klassischen Fall von Framing entwickelt – jenem altbekannten Spiel der eigenen moralischen Aufwertung, bei dem der andere gerne mit ebenso haltlosen wie suggestiven Unterstellungen moralisch abgewertet wird. Franziska Davies verwendet zielsicher die gängigen Vorwürfe der eigenen Gemeinde, andere zu desavouieren.

Ihr Fazit: Hubert Seipel zeigt keine Haltung und verstößt gegen gängige Genderregeln. Er ist außerdem ein Trump-Anhänger, hat offenkundig Sympathien für das rechte Lager und autoritäre Herrscher. Gleichzeitig verletzt er vorsätzlich und systematisch die Regeln des Journalismus. Schließlich ist er ja schon lange genug in dem Geschäft, um es besser zu wissen. „Das Verletzen journalistischer Mindeststandards“, fasst die Akademische Rätin auf Zeit an der Ludwig-Maximilian-Universität München zusammen, „zieht sich durch das ganze Buch.“ Auch „wenn nicht alles falsch ist“, lautet eine hübsche, beiläufige Diffamierung der Scharfrichterin. Nicht alles eben, aber fast. Franziska Davies kann schließlich differenzieren.

Ich gestehe, das war der Moment, bei dem ich kurz schlucken musste. Ich werde ungern öffentlich so behandelt, auch nicht von der Süddeutschen Zeitung, deren vehementer Anspruch, recht zu haben, nicht unbekannt ist. Nicht umsonst hat das Blatt sich einst den Spitznamen „Bayern-Prawda“ erarbeitet.

Die Buchkritikerin geht durchaus nicht ungeschickt vor, auch wenn die Technik alt ist. Es ist Franziska Davies‘ Methode, moralische Anklagen zu formulieren und dafür Zitate aus dem Zusammenhang zu reißen, damit der Vorwurf scheinbar zutrifft. Wie jener, dass ich zum einen keine Haltung habe und deswegen auch Wladimir Putin sexuell diskriminierendes Verhalten in seinem Land durchgehen lasse.

Ich beschreibe in dem Buchkapitel „Europa und die Suche nach Gemeinsamkeiten“, wie der Politologe Ivan Krastev in seinem Buch „Das Licht, das erlosch“ die zunehmende Frustration und den wachsenden Nationalismus in Osteuropa analysiert. Es geht um westliche Identität und auch um Genderfragen. Der Westen profitiert demnach von seiner Wirtschaftskraft und blickt mit Herablassung auf Länder in Osteuropa, bei denen Begriffe wie Multikulti, Säkularismus oder Homoehe nicht hoch im Kurs stehen und die propagierte Genderlehre mit zum Auslöser einer streckenweise militanten Abgrenzung gegen Schwule und Lesben wird.

Ivan Krastevs Analyse: Millionen von Polen, Bulgaren, Rumänen arbeiten als Bauarbeiter oder billige Fließband-Metzger, Altenpfleger oder Erntehelfer in deutschen Landen. Auch tausende von Ärzten, die im Osten ausgebildet wurden, wandern in den Westen ab und hinterlassen empfindliche Lücken, die sich zuhause in einem verstärkten Nationalismus niederschlagen. Die Folge: Viele von denen, die zuhause geblieben sind, grenzen sich ab und suchen Zuflucht in der Tradition, setzen auf Nationalismus und Vaterland, Kirche oder traditioneller Familienkonstellation.

Wladimir Putin teilt eine ähnliche Einschätzung auch für Russland. „Die westlichen Ansichten sind mit den Interessen der überwältigenden Mehrheit unserer Bevölkerung in Konflikt geraten“, erklärt er. „Wir haben keine Probleme mit LGBT-Personen. Gott bewahre, lass‘ sie leben, wie sie wollen. Aber das darf nicht die Kultur, die Tradition und die traditionellen Familienwerte von Millionen von Menschen, die die Grundgesamtheit bilden, überschatten“.

Es ist Putins konservative Haltung. Man muss sie nicht teilen. Aber muss ich jetzt als Autor deswegen eine Feldstudie zur LGBT-Situation in Russland zitieren? Oder – wie die SZ-Autorin fordert – ein eigenes Kapitel über Schwule und Lesben in Russland schreiben? So, wie es etwa „die russisch-amerikanische Autorin Masha Gessen“ tut, wie mich Franziska Davies belehrt, die in der New York Times und dem New Yorker seit Jahren über die Situation von Lesben und Schwulen in Russland schreibt? Und wenn ich dies nun nicht tue, habe ich damit journalistische Grundregeln verletzt?

Muss ich, für alle nachvollziehbar, Wladimir Putin sofort prinzipiell widersprechen? Als vorsorglicher Akt einer politischen Schadensbegrenzung, so wie Jugendliche beim Kauf von Alkohol ihren Ausweis zeigen müssen. Ich glaube eher nicht. Kann man die Perspektive eines politischen Gegners, um im Jargon zu bleiben, nicht auch ohne Kommentar stehenlassen, damit sich der Leser ein eigenes Bild macht?

„Nicht völlig falsch“

Im Streit um den Hitler-Stalin-Pakt etwa, der seit längerem die politische Atmosphäre in Europa vergiftet, kritisiert Franziska Davies empört, „präsentiert Seipel einfach Putins Perspektive“. Ich habe Putins Interpretation neben die von Polen gestellt. Damit kann sich jeder selbst ein Bild machen, das immerhin, so viel räumt Frau Davies ein, „nicht völlig falsch ist“. Ihr Vorwurf: Ich hätte allerdings nicht das geheime Zusatz-Protokoll des Hitler-Stalin-Pakts mit angeführt. Also jenes Planspiel zwischen Hitler und Stalin, irgendwann den größten Teil Polens und Litauens den Deutschen und etwa Finnland, Estland oder Lettland der Sowjetunion zuzuschlagen.

Das Zusatzprotokoll ist seit Jahrzehnten bekannt. Jeder kann es nachlesen. Es spielte bei Hitlers konkreten Plänen, die Sowjetunion anzugreifen, die er schon Mitte der zwanziger Jahre in seiner Propagandaschrift „Mein Kampf“ veröffentlicht hatte, keine Rolle. Habe ich deswegen nun wichtiges Material unterschlagen, weil ich nicht ein mögliches Unrecht mit einem anderen verrechnet habe?

Die Technik der Unterstellung funktioniert am besten, wenn sie Assoziationen mit dem anerkannten Bösen auslöst. Franziska Davies hat bei mir so eine weitere politische Kontaminierung festgestellt, eine angebliche „narrative Nähe“ zu Donald Trump. Jenem Mann, der nach Ansicht der Demokraten in Washington nur ins Amt gekommen ist, weil Wladimir Putin die Wahlen in Amerika manipuliert hat und somit die Kandidatin der Demokraten, Hillary Clinton, um ihren Sieg brachte.

Die Geschichte, um die es im Buch geht, ist einfach. US-Präsident Joe Biden war unter Barack Obama Vizepräsident und nach dem Regierungssturz 2014 in Kiew von Obama beauftragt, sich um die Ukraine zu kümmern. Wochen später wurde Bidens Sohn Hunter Aufsichtsratsmitglied der größten privaten Gasfirma namens Burisma mit 50.000 Dollar Gehalt – pro Monat, versteht sich.

Hunter hatte weder Erfahrung im Gasgeschäft noch sonst irgendwas mit der Ukraine zu tun. Hunter Biden war beruflich stets Sohn des erfolgreichen Politikers Joe Biden. Das Prinzip der Familienförderung wie in der Ukraine hatte zuvor auch schon in Washington funktioniert. „Hunter Bidens Karriere verlief in weiten Strecken parallel zur Arbeit seines Vaters als Senator und Vizepräsident“, schreibt die Washington Post. Irgendwann begann dann in Kiew der Generalstaatsanwalt Wiktor Schokin gegen Burisma wegen krummer Geldgeschäfte der Firma zu ermitteln. Vizepräsident Joe Biden machte damals einen Milliardenkredit des Internationalen Währungsfonds davon abhängig, dass Schokin entlassen wird. Der wird schließlich tatsächlich gefeuert und die Ermittlungen wurden eingestellt. Was die Geschichte interessant macht, ist die Tatsache, dass Joe Biden als Vizepräsident nach eigenen Angaben in der Ukraine unermüdlich gegen Korruption kämpfte.

Mein Fehler ist es nach Meinung von Franziska Davies allerdings, dass auch „Donald Trump und seine Entourage“ ein „ähnliches Narrativ“ verbreitet haben. Eines, das „von ukrainischen Antikorruptionsaktivisten als falsch zurückgewiesen“ wurde. Ich werde sozusagen zum Komplizen Donald Trumps. Konkretere Angaben zu den vermeintlichen Zeugen der Unschuldsvermutung macht die Akademische Rätin nicht, räumt aber immerhin ein: „Dabei spricht Seipel hier durchaus einen Missstand an. Dass ausgerechnet der Sohn des amerikanischen Vizepräsidenten nach dem Sturz des Präsidenten Viktor Janukowitsch einen lukrativen Posten bei einem ukrainischen Gasunternehmen antrat, ist vermutlich juristisch irrelevant, politisch dennoch ein Skandal.“

Deutsche Heilserwartung

Auch Franziska Davies‘ Behauptung, ich bediene in meinem Buch „den rechten Mythos einer vermeintlichen Grenzöffnung durch Angela Merkel“, als es um die Flüchtlingswelle im Sommer 2015 geht, funktioniert nach dem gleichen Spiel des subtilen Rufmords, der Autor habe irgendeine mehr oder weniger ausgeprägte Nähe zum rechten Spektrum.

Der Hintergrund, auf den die Rezensentin anspielt: In dem Kapitel über den Anfang und die Gründe des Syrienkrieges beschreibe ich im Buch auch die Folgen des Konflikts für Europa und Deutschland. Jene dramatischen Wochen, als sich 2015 Millionen von Syrern auf den Weg nach Europa machen, nachdem die Terrorgruppe des Islamischen Staates zwei Drittel des Landes eingenommen hat. Die deutschen Behörden hatten Angela Merkel schon Monate vor dem Flüchtlingsansturm gewarnt. (Auch die Süddeutsche hat über die frühen Warnungen geschrieben.) Aber die deutsche Kanzlerin reagierte erst, als Länder wie Österreich, Italien oder Ungarn die Massen durchgewunken hatten. Die Folgen sind bekannt. In einem Alleingang ließ die Bundeskanzlerin für rund eine Million Menschen die deutsche Grenze öffnen. Die anschließende Bundestagswahl katapultierte die AfD mit über 12 Prozent in das Parlament, in dem sie bislang nicht vertreten war. Die Rechten werden nach CDU und SPD drittstärkste Fraktion – noch vor den Grünen.

Es war zudem Angela Merkels eigene Überheblichkeit, die der AfD Auftrieb gab. Ihre Bemerkung, „sich auch noch entschuldigen zu müssen“, wie sie pikiert die Kritik für eigene Versäumnisse in der Syrienkrise kommentierte. Es sei eben dann „nicht mehr ihr Land“, sich noch „entschuldigen zu müssen“, wenn ein Notfall vorliege. „Was heißt hier mein Land?“, fragte damals nicht nur die Zeit kritisch nach.

Meine Frage an Frau Davies wäre, würde ich ihr denn begegnen – zugegeben – mehr rhetorischer Art. Die Akademische Rätin wirft mir mit einem ebenso knappen wie unvermittelten Satz vor, ich würde bei meiner Beschreibung der Flüchtlingslage 2015 „den rechten Mythos einer vermeintlichen „Grenzöffnung“ durch Angela Merkel wiederholen“.

Ist es denn ein Zeichen rechter Gesinnung, wenn die Kanzlerin ihr eigenes Wohl mit dem des Staates verwechselt und ich anmerke, dass dies wohl der Grund war, warum die AfD in den Bundestag kam? „Als Deutsche sollten wir unsere Außenpolitik nicht mit zu viel Heilserwartung überfrachten“, erklärte Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier im vergangenen Jahr bei der Münchner Sicherheitskonferenz. Unsere Politik solle „sich nicht in moralischen Verurteilungen erschöpfen“ und in der weitverbreiteten Vorstellung, „alles wäre gut, wenn nur alle so vernünftig wären wie die Deutschen.“

Postskriptum

Franziska Augstein hat gerade einen interessanten Artikel über Putin auf Spiegel Online geschrieben und kommt zu ähnlichen Schlüssen, dass Wladimir Wladimirowitsch wohl nicht das Grundübel der politischen Szene ist, so wie Franziska Davies und die Süddeutsche Zeitung vermuten. Franziska Augstein hat allerdings einen Trick angewendet und in einem Satz in dem Artikel vorsichtshalber ein Geständnis abgelegt. Sie hat erklärt, dass sie kein Freund Putins ist.

Ich muss gestehen, ich habe schon mal ein Glas Wein mit ihm getrunken. So ähnlich wie die Kolleginnen und Kollegen, die Frau Merkel über die Jahre begleiten. Der Fotograf Andreas Mühe hat ein sehr schönes Foto von der Kanzlerin, ihren engen Mitarbeitern und den ständigen Begleitern der deutschen Medien kurz vor einem gemeinsamen Dinner im Weißen Haus in Washington gemacht. Es trägt den Titel „Die Familie“.