Interventionskriege sind das Gegenteil von Sicherheitspolitik

Interventionskriege sind das Gegenteil von Sicherheitspolitik

Interventionskriege sind das Gegenteil von Sicherheitspolitik

Ein Artikel von Bernhard Trautvetter

Eine Lehre aus dem desaströsen Afghanistan-Krieg muss sein: Armeen dürfen nicht in die Rolle geraten, politische Probleme regeln zu sollen, die sie nicht auflösen können. Die einzig verantwortbare Strategie muss sich den Konflikt-Ursachen zuwenden. Von Bernhard Trautvetter.

Der WDR-Presseclub vom 4. Juli zur Thematik „Die Lehren aus Afghanistan – Wofür brauchen wir die Bundeswehr und die Nato?“ ermöglichte den Zuschauern zum Teil Einblicke in Entwicklungen und Zusammenhänge, die man in einem Mainstream-Medium nicht vermutet hätte. Hier boten sich Chancen, hinter die üblicherweise kommunizierten Informationen zu blicken[1]. Die Fragestellungen, die das Thema laut Volker Herres als Moderator strukturieren sollten, waren unter anderem: Wozu braucht es die Nato? Was können wir aus Einsätzen der Bundeswehr wie dem in Afghanistan lernen? Auf der Website des WDR-Presseclubs wird das Thema so angekündigt:

“Der tödlichste und gefährlichste Militäreinsatz nach dem Zweiten Weltkrieg ist zu Ende. Die Bundeswehr hat die letzten Soldaten still und heimlich aus Afghanistan abgezogen, der vollständige Abzug der internationalen Truppen steht unmittelbar bevor. Unzählige Menschen sind gestorben, Milliarden in den Wiederaufbau geflossen. Jetzt stehen die Taliban wieder kurz vor den Toren Kabuls. War alles umsonst? Was bedeutet dieser Einsatz für die künftigen Aufgaben der Bundeswehr?

Die Bilanz ist desaströs. Weit mehr als 100.000 Zivilisten wurden getötet, die US-Armee verlor mehr als 2.400 Soldaten, die Bundeswehr 59. Zeit für eine ehrliche Bilanz, die Verteidigungsministerin Kramp-Karrenbauer versprochen hat. Das Motiv für die Militäraktion der NATO war zunächst Vergeltung für den Terrorangriff am 11. September 2001 in den USA. Die Bundesregierung versprach bedingungslose Solidarität. Die Taliban wurden aus Afghanistan vertrieben, Osama bin Laden 2011 in Pakistan getötet. Die internationalen Truppen blieben weiter mit dem Ziel, für Demokratie, Menschenrechte und Wohlstand zu sorgen. Heute ist Afghanistan auf dem Papier eine islamische Republik mit demokratischer Verfassung, doch wahrscheinlich werden die Taliban schon in einigen Monaten die Macht übernommen haben und das Rad zurückdrehen.”[2]

Schon dieser Text macht deutlich, dass es den Programmgestaltern nicht primär um völkerrechtliche Fragen geht, wie die, ob das Agieren der Nato und der Bundeswehr überhaupt mit der UNO-Charta im Einklang steht. Vergeltung und „bedingungslose Solidarität“ sind keine völkerrechtlichen Begriffe. Und wenn die dominanten  Mächte dieser Erde das Völkerrecht durch das Unrecht des Stärkeren ersetzen, dann wächst die Gefahr, dass dieses Regelwerk als Basis einer internationalen Friedensordnung immer weiter aufgeweicht und entwertet wird. Dann bleibt Gewalt als letzte Regelungsinstanz, in anderen Worten: Dann hauen die dazu fähigen Staaten sich die Erde gegenseitig um die Ohren, solange das dann noch geht.

Im Afghanistankrieg gibt es das ISAF-Mandat, das der Weltsicherheitsrat im Dezember 2001 genehmigt hat und den US-„Antiterror-Krieg“ (OEF), der kein völkerrechtliches Mandat innehat.

Die Bundeswehr war seit 2001 mit insgesamt 160.000 Personen im Afghanistan-Einsatz; die in der Presseclub-Sendung erwähnten Kosten differieren von ca. 12 Mrd. bis  18 Mrd. Euro. Die ZDF-Dokumentation „Die Kosten des Krieges“ vom 23.12.2020 errechnet mit circa 47 Mrd. Euro ungefähr das Dreifache der offiziellen Kosten. Die US-Kosten belaufen sich auf bis zu zwei Billionen US-Dollar, eine Billion sind 1.000 Milliarden, eine Milliarde sind 1.000 Millionen.[3] Zu den Kosten kommen die Summen hinzu, die sich aus Zerstörungen und Tötungen ergeben, auch aus der Verminung großer Areale.

Die USA hatten keinen Monat nach dem 11. September 2001 den „Antiterror“-Krieg „Operation Enduring Freedom“ (OEF) ausgerufen. Zwei weitere Monate später gab der UN-Sicherheitsrat im Anschluss an die Petersberger Konferenz bei Bonn, an der nicht alle Akteure des Krieges beteiligt worden waren, freie Hand, „Maßnahmen zu ergreifen“, die eine „Bedrohung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit“ abwenden. Dafür sollten Staaten, die dazu bereit sind, eine „Internationale Sicherheitsunterstützungstruppe“  (ISAF) einsetzen, die diese Aufgaben wahrnimmt.[4] Die Trennlinien zwischen dem nicht durch die UNO abgedeckten OEF-„Antiterrorkrieg“ und der völkerrechtskonformen ISAF-Truppe, die keine UNO-Blauhelmsoldaten umfasst, gestalteten sich unklar.[5] Trotzdem interessierte sich die Presseclub-Runde nicht für völkerrechtliche Fragen bei ihrer Suche nach Antworten auf die Fragen nach den Lehren des Krieges.

Die Journalistin Sandra Petersmann kennzeichnete in der Presseclub-Diskussion die Bilanz des Krieges nach fast zwei Jahrzehnten als „verheerend”. Die ursprünglich ausgegebenen Ziele wurden verfehlt: Afghanistan sollte aufhören, Hinterland für Terroristen zu sein, die militärischen Fähigkeiten der Taliban sollten zerstört werden. Das Gegenteil ist inzwischen eingetreten.

Die Taliban sind so stark wie nie, sie fühlen sich in der Position des Siegers. Der Bevölkerung wurde viel versprochen, davon bleibt praktisch nichts, es gibt keinen nachhaltigen Erfolg.

Der ehemalige Bundeswehr-Offizier Hasnain Kazim differenzierte, es habe anfangs Erfolge gegeben, man habe die Taliban aber unterschätzt, sie erwiesen sich als professioneller als gedacht, sodass der Einsatz am Ende gescheitert sei.

Der Blogger Thomas Wiegold kam ebenfalls zu dem Schluss, dass der Afghanistan-Krieg alles in allem gescheitert ist, der vernetzte Ansatz der Verbindung von Militär mit zivilen Kräften funktionierte nicht. Die Bundeswehr sei darauf eingestellt, dass Soldaten in Kriegen leiden und sterben sowie körperlich und seelisch verletzt werden.

Die freie Journalistin Julia Weigelt bestätigt die seelische Problematik und berichtet von einer Studie der Bundeswehr über das ‘Posttraumatische Belastungssyndrom’, die ergab, dass 25 Prozent der Soldaten mit psychischen Erkrankungen zurückkommen.

Sandra Petersmann weitete den Blick auf geschädigte Menschen, indem sie auf die afghanischen Kräfte verwies, die den Nato-Streitkräften auf verschiedene Weise zugearbeitet hatten. Wenn sie das ihnen zugebilligte Recht wahrnehmen wollen, Visa z.B. für Deutschland zu beantragen, dann sind viele von ihnen darauf angewiesen, den gefährlichen Landweg zur Anlaufstelle der Botschaft in Kabul zu nutzen. Sie brauchen dann Geld für den Flug nach Deutschland, das viele nicht haben. In dem hier sichtbar werdenden Sicherheitsvakuum steigt die Gefahr, dass der Terror neue Räume besetzt.

Hasnain Kasim lehnte jedes Gespräch mit den Taliban ab, da sie Barbaren seien, mit denen man nicht reden kann. Die freie Journalistin Julia Weigelt betonte, wenn es keine militärische Lösung gibt, dann muss man auch mit Menschen reden, mit denen man nicht reden möchte.

Sandra Petersmann verwies darauf, die Nato habe mit Kriegsverbrechern, also anderen Barbaren, kooperiert und eine Kultur der Straflosigkeit begünstigt, sie haben mit Drohnenangriffen gegen Dörfer zum Leid der Zivilbevölkerung beigetragen. Der Gedanke, wer Feind meines Feindes ist, ist mein Freund, führte Menschenrechtsverletzer an die Seite der Nato. Einige von ihnen kamen in von der Nato geschützten Gebieten in Schlüsselpositionen der Macht. Dass man nicht auf Versöhnung hingewirkt hat, hing damit zusammen, dass die Opfer nicht ins Zentrum der Aufmerksamkeit kamen.

Julia Weigelt ergänzte, dass das Ziel eines dauerhaften Friedens dann nicht zu erreichen sein wird, wenn man Menschen als Barbaren entmenschlicht. Sie kritisierte, dass es von Anfang an statt um Frieden um eine Bestrafungs-Aktion gegangen war.

Sandra Petersmann gab Frau Weigelt recht und nannte die Regierung in Kabul korrupt und zur Einigung der Interessensgruppen unfähig. Die Bevölkerungsstruktur des Landes mit ihren verschiedenen Stämmen wird in der Regierung nicht abgebildet. Die Taliban haben ein leichtes Spiel, den Menschen deutlich zu machen: „Schaut Euch die Korrupten in Kabul an!“.

Thomas Wiegold erklärte die Arroganz der USA damit, dass die Afghanen um die Anschaffung russischer Hubschrauber baten, da sie diese reparieren können. Die USA lehnten das ab und ziehen jetzt ab. Dies kann zum Beispiel Nachschub-Probleme mit sich bringen; und Soldaten ohne Nachschub haben, so Frau Weigelt, eine erhöhte Motivation, überzulaufen. Das Projekt, die Streitkräfte auszubilden, ist mangels Nachhaltigkeit gescheitert.

Julia Weigelt verwies auf eine völlig falsche Prioritätensetzung beim Mitteleinsatz: Wie in Mali sei die Förderung des Aufbaus der materiellen Infrastruktur kein Schwerpunkt. Streitkräfte sind dafür ohnehin ungeeignet. Während die Bundeswehr je Jahr 500 Millionen Euro verbraucht, erhält die Entwicklungszusammenarbeit mit 70 Millionen Euro nicht einmal ein Siebtel der Summe für den Krieg. Sandra Petersmann ergänzte, in Afghanistan sei das Verhältnis noch krasser, den von ihr so bezifferten 18 Milliarden für den Krieg steht eine anteilig verschwindend geringe Summe für den Aufbau gegenüber.

Hasnain Kasim verwies auf Grautöne, die das Bild relativieren, er erwähnte Schulen, Brunnen, Brücken und Mobilfunkmasten, diese werden allerdings von Taliban-Kämpfern wiederholt zerstört. Julia Weigelt verwies auf ganz neue Gefahrenmomente, die das Militär nicht zu lösen in der Lage ist: Zu der Armut kommt die Erderwärmung – wenn in Afrika immer mehr Regionen mit Temperaturen über 56 Grad Celsius unbewohnbar werden, werden nicht einmal mehr Zäune helfen.

Soldaten, die einen Einsatz ohne erlebten Sinn verarbeiten müssen, erleiden eine ‚moral injury‘ (moralische Verletzung). Es ist leichter, Soldaten zur Bekämpfung von Herausforderungen einzusetzen, da diese Befehlen gehorchen. Andere Berufsgruppen müssen angeworben werden, seien es Polizisten, Sozialarbeiter oder Richter. So kommt die Armee in eine Rolle, politische Probleme regeln zu sollen, die sie nicht auflösen kann. Die einzig verantwortbare Strategie muss sich den Konflikt-Ursachen zuwenden.

Diese Abschluss-Bilanz einer Flaggschiff-Sendung in einem wichtigen deutschen Medium hat wichtige Fakten und Zusammenhänge deutlich gemacht – das fanden Zuschauer, die ich gesprochen habe, sensationell, auch wenn es sich dabei um ganz offensichtliche Wahrheiten handelte. Das Auffällige besteht darin, dass diese klaren Fakten und logischen Schlussfolgerungen in der Meinungsmache gemeinhin vermisst werden müssen.

Das kann dazu führen, dass die Militarisierung der Weltpolitik immer weiter um sich greift, dass die Zeit verlorengeht, die vielleicht noch verbleiben würde, die ökologischen und sozialen Zukunftsgefährdungen abzuwenden; und es kann dazu führen, dass eine schwierige militärische Situation der Kontrolle entgleitet und eine Dynamik entfaltet, die in einem finalen Inferno mündet. Die einzig verantwortbare Antwort auf diese Gefahr ist das Zusammenwirken aller Bewegungen, die sich für das Überleben der Menschheit starkmachen.

Titelbild: Fat Jackey


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