Das politische Interesse stürzt ab

Das politische Interesse stürzt ab

Das politische Interesse stürzt ab

Albrecht Müller
Ein Artikel von: Albrecht Müller

Ein Freund und gelegentlicher Autor der NachDenkSeiten, Hans Bleibinhaus, hat mir jetzt Folgendes berichtet: Sein SPD-Ortsverein „Schwabing West“ in München findet niemanden in seinen Reihen, die oder der bereit wäre, den Vorstand zu übernehmen. Deshalb wurden jetzt alle Mitglieder postalisch angeschrieben, über das mangelnde Engagement informiert und ermuntert, anzutreten. Dieser Vorgang ist interessant. Schwabing West ist ein großer Ortsverein. Wenn sich dort niemand für die Leitung des Ortsvereines findet, dann zeugt das nicht nur davon, wie tief die SPD inzwischen gefallen ist, sondern auch von einem Tiefstand des politischen Interesses, der programmatischen Diskussion und vermutlich auch von der beruflichen Beanspruchung der meisten Menschen im aktiven Alter. Albrecht Müller.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Wo ist die große und aufwühlende Diskussion zur Programmatik? Wer will noch die Welt verbessern?

Wir stehen jetzt knapp 2 Monate vor der nächsten Bundestagswahl. Ich erlaube mir die Frage: Was wissen Sie von den für die Wahl formulierten und einigermaßen umfassenden programmatischen Vorstellungen der Parteien? Ich weiß fast nichts. Eine tiefere Debatte um die Programmatik ist nicht sichtbar – von einzelnen Elementen wie „Klima“ abgesehen. Kennen Sie Politikerinnen und Politiker, die „die Welt verbessern“ wollen und dafür konkrete und einigermaßen umfassende Vorschläge gemacht haben?

Ein Stück weit spielt auch die ökonomische Situation der meisten Menschen eine Rolle. Sie müssen oft in mehreren Stellen schuften, um zum Beispiel in München und vielen anderen Städten ihre Wohnung und ihre Miete zu finanzieren. Schon das übersteigt die Kraft vieler Menschen. Wo sollen sie da noch Kraft und Zeit für politisches Engagement herholen?

Parteien wie die CSU und die CDU, die mehr Jobs zu vergeben haben als alle anderen Parteien zusammen, werden geringere, wenn gar keine Probleme haben, Leute für Parteiämter zu motivieren. Aber dieses Engagement hat mit der Programmatik nichts zu tun und bringt auch keine Menschen in die Politik, die die Welt verbessern wollen.

Medien bestrafen politisches Engagement, statt es zu ermuntern

Man muss sich nur mal die Berichte und Kommentare anschauen, mit denen die Querdenker in den letzten Wochen bedacht werden. Da ist in der Regel kein bisschen Wohlwollen für Menschen erhalten, die sich politisch engagieren, deshalb demonstrieren und sogar bis nach Berlin fahren, um dort zu demonstrieren. Sie werden alle über einen Kamm geschoren, sind Corona-Leugner, Antidemokraten oder einfach nur meschugge. Beispielhaft für diesen Umgang gebe ich hier einmal wieder, was der „Berliner Tagesspiegel“ unter der Überschrift „Tagesspiegel Checkpoint“ heute früh verschickt hat:

Tagesspiegel Checkpoint vom Montag, 02.08.2021 | Teils bewölkt bei bis zu 22°C.
  
+ Sie waren wieder da: Querdenker pöbeln durch Berlin + Bund und Länder wollen Jugendlichen Impfangebot machen + Fußballverband untersagt Opferfonds für Betroffene rechter Gewalt Trikotwerbung +
 
Sie waren wieder da: Insgesamt 5.000 Querdenker:innen und andere Corona-Verharmloser:innen haben am Sonntag trotz Demoverbot in unterschiedlichen Teilen Berlins protestiert. Masken- und Abstandsgebote wurden systematisch ignoriert, Absperrungen durchbrochen, Maskentragende angespuckt, Journalist:innen und Polizist:innen bedroht und angegriffen. Jörg Reichel, Berliner Landesgeschäftsführer der Deutschen Journalistinnen- und Journalistenunion in Verdi, wurde von mehreren Demo-Teilnehmern geschlagen und getreten (Team Checkpoint wünscht gute Besserung!). Mindestens in Charlottenburg, Schöneberg und Kreuzberg herrschte auf den Straßen ein Stück weit Anarchie. In der U1 verabschiedeten sich zwei maskenlose „Querdenker“ mit „Heil Hitler“. Stadtweit wurden 600 Menschen vorläufig festgenommen.

Für den Tagesspiegel waren die Kollegen Sebastian Leber, Christoph Kluge und Julius Geiler vor Ort (alle Ereignisse können Sie hier im Liveblog nachlesen). Letzterer verabschiedete sich am Abend „etwas fassungslos“ von einem Tag, „an dem Berliner und Berlinerinnen in ihrer eigenen Stadt ständig angepöbelt und beleidigt wurden und Pressevertreter die meiste Zeit komplett auf sich allein gestellt waren“. Mehr noch: In einem Fall schützte ein Pressevertreter sogar einen auf sich allein gestellten Polizisten, der am Boden lag (Video hier). Was bislang fehlt, ist eine Gesamtstrategie. Eine politische Idee, wie man damit umgeht, dass da im Namen der „Liebe“ und „Freiheit“ einfach nur rumgehasst und an den Grundfesten unserer Demokratie gerüttelt wird. Sie sollte wehrhaft bleiben.“

Soweit der Berliner Tagesspiegel. Er dient vielen Journalistinnen und Journalisten, die aus der Hauptstadt berichten und kommentieren, als Orientierung zu ihrer Information und für ihre Meinungsbildung.

Diese Art von Berichterstattung und Kommentierung führt bei den normalen Menschen, die sich politisch engagieren wollen, in der Regel zu Frust und zur Abwendung. Das bedeutet, dass auch jene Menschen, die sich ernsthaft Gedanken machen über die Coronapolitik zum Beispiel und die abwägen wollen, schon entmutigt und abgestoßen werden davon, sich politisch zu engagieren. Immerhin wird in dem Text des Berliner Tagesspiegels ja auch grundsätzlich festgestellt, dass, wer demonstriert, an den „Grundfesten unserer Demokratie“ rüttelt. Soweit sind unsere Medien schon: staatstragend bis zum Exzess und sie warnen de facto vor dem politischen Engagement. Kein Wunder, dass sich so wenige engagieren wollen. Dem SPD-Ortsverein „Schwabing West“ und allen anderen politischen Vereinigungen, die unter mangelndem politischen Interesse und Engagement leiden, kann man nur noch wünschen, dass sie diese tumbe Medienbarriere zu überwinden vermögen.

Titelbild: Jaz_Online / Shutterstock