Ulrich Teusch: „Ich mache mir Sorgen um den demokratischen Rechtsstaat“

Ulrich Teusch: „Ich mache mir Sorgen um den demokratischen Rechtsstaat“

Ulrich Teusch: „Ich mache mir Sorgen um den demokratischen Rechtsstaat“

Ein Artikel von Marcus Klöckner

Politische Angst: Das ist es, was der Journalist und Autor Ulrich Teusch zum ersten Mal in seinem Leben während der Corona-Krise verspürt hat. Und das hat seinen Grund: „Es geht in diesem Land vielfach nicht mehr mit rechtsstaatlichen Dingen zu. Wir erleben eine Krise der Verfassung, des Rechtsstaats, der Rechtsprechung, der Rechtssicherheit“, sagt Teusch im Interview mit den NachDenkSeiten. Ein Interview über sein Buch „Politische Angst – Warum wir uns kritisches Denken nicht verbieten lassen dürfen“, den Freiheitsbegriff und darüber, was er unter „Antipolitiker“ versteht. Von Marcus Klöckner.

Man nahm mir meine Grundrechte. Selbst auf das Recht, Rechte zu haben, war kein Verlass mehr.“
Herr Teusch, das schreiben Sie in Ihrem aktuellen Buch. Was ist der Hintergrund dieser Aussagen?

Ich mache mir Sorgen um den demokratischen Rechtsstaat, wobei mein Akzent weniger auf „demokratisch“ als auf „Rechtsstaat“ liegt. Was seit anderthalb Jahren in diesem Land und in ähnlicher Weise in anderen Ländern stattfindet, mag demokratisch legitimiert sein. Immerhin sind die meisten Exekutiven ja frei gewählt, und glaubt man Umfragen, dann erfreuen sie und ihre „Maßnahmen“ sich immer noch einer breiten Zustimmung der Bevölkerung. Anders sieht es mit dem Rechtsstaat aus: Viele Grundrechte wurden faktisch außer Kraft gesetzt. Es wird der Eindruck erweckt, als sei es völlig in Ordnung, den Bürgern Rechte zu nehmen und sie ihnen – unter von der Exekutive diktierten Bedingungen – irgendwann (vielleicht) wieder zurückzugeben. Welches Grundrechtsverständnis offenbart sich da?

Inzwischen kann man feststellen: Es geht in diesem Land vielfach nicht mehr mit rechtsstaatlichen Dingen zu. Wir erleben eine Krise der Verfassung, des Rechtsstaats, der Rechtsprechung, der Rechtssicherheit. Die Judikative, angefangen beim Bundesverfassungsgericht, macht eine erbärmliche Figur. Und die wenigen rühmlichen Ausnahmen – etwa in Weimar – werden in ungehöriger Weise unter Druck gesetzt. Das sind unglaubliche Vorgänge. Wo soll das hinführen, wo soll das enden?

Ihr Buch heißt „Politische Angst“. Mir ist aufgefallen, dass Sie recht offen über Ihre Ängste schreiben…

Ja, das ist ein sehr persönliches Buch, jedenfalls über weite Strecken. Das heißt: Ich berichte viel von eigenen Erlebnissen, Erfahrungen, Empfindungen, und ich glaube, dass vieles von dem, was ich da schreibe, repräsentativ ist, also von vielen anderen Menschen so oder ähnlich auch erlebt, erfahren und empfunden wurde (und wird). Ich hoffe, dass sich die Leserinnen und Leser in dem Text wiedererkennen und er ihnen vielleicht hilft. Was die Angst betrifft: Ich schreibe in der Tat ziemlich offen über meine Ängste. Es hat mich einige Überwindung gekostet, das zu tun, mich also in dieser Weise zu offenbaren. Aber es ist, glaube ich, einfach notwendig. Es hat keinen Sinn, Normalität vorzutäuschen, wo keine mehr ist.

Was hat es denn nun mit der politischen Angst auf sich? Und warum haben Sie diese verspürt – zum ersten Mal in Ihrem Leben, wie Sie schreiben?

Zunächst: Angst ist natürlich ein großes Thema und dieses Thema hat viele Dimensionen und Facetten. Wir wissen mindestens seit Machiavelli und Hobbes, dass Angst ein überaus effektives Herrschaftsmittel ist. Die entsprechenden Machttechniken wurden im Lauf der Geschichte stetig perfektioniert. Sie werden auch gegenwärtig wieder eingesetzt. Das ist vielfach beschrieben und analysiert worden, zuletzt etwa von Rainer Mausfeld, Hannes Hofbauer und anderen. Es bleiben jedoch Fragen: Warum lassen sich Menschen überhaupt (und so leicht) ängstigen? Warum geben die meisten von ihnen dem Druck immer wieder nach? Warum opfern sie ihre individuelle Freiheit allzu oft einer trügerischen Sicherheit? Und warum sind wenige andere standhaft?

Was mich selbst betrifft: Ich habe es in der Tat im Zuge der Corona-Krise zum ersten Mal in meinem Leben mit politischer Angst zu tun bekommen. Bis dahin kannte ich auf politischem Feld nur Sorge, Anspannung, Ärger, Empörung. Nie fühlte ich mich unmittelbar und persönlich bedroht. Nun jedoch überwältigten mich die schlagartigen, herrischen politischen Eingriffe in mein Leben. Das kam alles plötzlich, unerwartet – und meine emotionale Reaktion darauf hat mich überrascht.

Warum hat sie das überrascht?

Weil meine Ichwerdung, meine Individuation, eigentlich erfolgreich verlaufen ist. Ich habe eine stabile, selbstbewusste Persönlichkeit ausgebildet. Individuelle Freiheit und Autonomie gehen mir über alles. Und ich litt nie darunter, dass ich mit meinen politischen Ansichten meist zu einer kleinen Minderheit gehörte, dass mich mein Individualismus also möglicherweise zum gesellschaftlichen Außenseiter stempelte. Politisch „nicht anschlussfähig“ zu sein, war für mich nichts Ungewöhnliches. Damit kam ich klar.

Doch das hatte sich jetzt geändert. Zum ersten Mal in meinem Leben hatte ich das Gefühl, dass ich einen hohen Preis für meine Freiheit zahlen musste. Das Gefühl, politisch allein, einsam, isoliert zu sein, dieses Gefühl stellte sich jetzt dauerhaft ein und zudem mit einer Intensität, die mir bis dahin unbekannt war. Es wurde noch absichtsvoll verstärkt durch die staatlich verordneten Kontaktverbote und -einschränkungen. Ich kam mir verloren vor, aus der Zeit gefallen, fühlte mich unfrei. Meine Angst war politisch begründet. Ja, ich empfand politische Angst. Und ich tue es nach wie vor.

Würden Sie für uns einordnen, wie Sie die Zeit seit März 2020 erlebt haben? Was ist da passiert?

In einem der Anfangskapitel des Buches erzähle ich ja recht ausführlich und in anonymisierter Form die dramatische, authentische Geschichte einer vierköpfigen Familie. Diese Familie wurde nicht Opfer von Corona, sondern der „Maßnahmen“ gegen Corona. Sie ist haarscharf an einer Katastrophe vorbeigeschlittert. Schicksale dieser Art gibt es zuhauf, auch noch deutlich schlimmere. Sie gehen vermutlich allein in diesem Land in die Millionen. Das alles hätte es nicht geben dürfen und dürfte es nicht geben. Womit ich Ihre Frage schon beantwortet habe: Ich halte den staatlich-administrativen Umgang mit „Corona“ für vollkommen einseitig, kontraproduktiv, verfehlt. Die Folgen sind katastrophal und werden uns noch lange, sehr lange in Atem halten.

Halten wir doch mal auseinander, wie sich die Verantwortlichen auf politisch-administrativer Seite samt ihrer Experten verhalten haben und wie die Bürger reagiert haben. Plötzlich haben Politiker – im Namen der Sicherheit – die Grundrechte massiv eingeschränkt. War das für Sie nachzuvollziehen?

Nein, das war für mich von Anfang an nicht nachvollziehbar. Ich glaube auch nicht (mehr), dass die drastischen Eingriffe lediglich unserer Sicherheit und Gesundheit dienen sollten.

Sondern?

Der sozialen Kontrolle. Es handelte sich um gezielt repressive Maßnahmen. Wer das nicht glauben will, sollte mal kurz kontrafaktisch denken und sich vorstellen, die Abwehr- und Schutzmaßnahmen wären tatsächlich in bester Absicht ergriffen worden, also allein der brennenden Sorge um unser aller Gesundheit, unser aller Leben geschuldet gewesen. Nehmen wir an, diese rein mitmenschliche, uns allen zugewandte Haltung wäre der maßgebliche politische Ansatz der Obrigkeiten gewesen. Wie hätten sie, also die Obrigkeiten, in diesem Fall die von ihnen für erforderlich gehaltenen „Maßnahmen“ gegenüber der Öffentlichkeit, also uns, kommuniziert und begründet?

Die Antwort liegt auf der Hand: Sie hätten sie gänzlich anders kommuniziert, gänzlich anders begründet, als sie es tatsächlich getan haben. Sie hätten ein völlig anderes gesellschaftliches Klima erzeugt. Sie hätten auf Freiwilligkeit gesetzt, hätten mit guten Argumenten und mit Geduld zu überzeugen versucht, hätten mit Anreizen gearbeitet etc. Obwohl man also mit der Krise auch ganz anders hätte umgehen können, ist man mit ihr genau so und nicht anders umgegangen: nämlich autoritär und repressiv. Das war kein Fehler und kein Versehen – es war Absicht. Und es erlaubt Rückschlüsse auf die Motivlage der politisch Verantwortlichen. Zudem nimmt das Ganze kein Ende: Der Deutsche Bundestag beharrt mit seiner Mehrheit und mit ebenso abenteuerlichen wie lächerlichen Begründungen darauf, dass wir uns weiterhin in einer „epidemischen Lage von nationaler Tragweite“ befänden. Das grenzt an Willkür. Und wenn man auf der Basis von Willkür herrscht, landet man irgendwann bei der Willkürherrschaft.

Zu den Bürgern. Masken, Abstandsgebote, Ausgangssperre, Tracking- oder Tracing-App: All das wurde weitestgehend hingenommen. Erstaunlich, oder?

Ich nehme eine tiefe Spaltung der Gesellschaft wahr: Wir haben eine Minderheit, die unter den Zumutungen des repressiven Maßnahmenstaates leidet und sich so gut es geht gegen sie auflehnt. Dieser gegenüber steht ein großer Teil der Bevölkerung – ich weiß nicht, ob es (noch) die Mehrheit ist – der sich der offiziellen Corona-Politik bereitwillig angeschlossen und die diversen „Maßnahmen“ mitgetragen hat. Diese Menschen hatten offenkundig kein Problem damit, dass zahlreiche Grundrechte flächendeckend außer Kraft gesetzt wurden. Sie glaubten an den Ernst der Lage und an die ungeheure Gefährlichkeit des „neuartigen“ Virus. Sie glaubten auch den im Panikmodus berichtenden Altmedien.

Wie erklären Sie dieses Verhalten?

Sie meinen die Affirmation, die Anpassung, den Konformismus? Ich folge da Erich Fromm, auf den ich ja im Buch öfter Bezug nehme. Ich vermute, dass ein so großer Teil der Bevölkerung sich der neuen Normalität auch deshalb so bereitwillig und zuverlässig fügte und fügt, weil er Angst davor hat, zur Minderheit zu gehören und im Ernstfall alleinzustehen. Weil er sich vor einer abweichenden Positionierung fürchtet. Weil ihm die Last der Freiheit zu schwer wäre. Er geht konform, um diese Last abzuschütteln. Es handelt sich also möglicherweise um ein Fluchtverhalten.

Fromm bezeichnet diesen Menschentypus, diesen Charakter als „autoritär“…

Ja, Menschen dieses Typs bewundern die Autorität und sind bereit, sich ihr zu unterwerfen, möchten aber gleichzeitig selbst eine Autorität sein, der sich die anderen zu unterwerfen haben. Sie kennen nur Macht und Ohnmacht, nur Herrschen und Beherrscht-Werden – aber niemals Solidarität. Der autoritäre Charakter, sagt Fromm, habe sogar eine regelrechte Affinität zu Lebensbedingungen, welche die menschliche Freiheit einschränken. Er liebe es, sich dem Schicksal zu ergeben. Dies mache seinen „Heroismus“ aus.

Sie haben viel über den Begriff Freiheit nachgedacht. In den Medien war der Tenor in etwa wie folgt: In einer Gesellschaft müssen alle aufeinander Rücksicht nehmen. Das Freiheitsbedürfnis des einzelnen Bürgers muss da zurückstehen, wo die eigene Freiheit ein Problem für die anderen Bürger mit sich bringt.
So einfach ist es dann aber doch nicht, oder?

Dass alle aufeinander Rücksicht nehmen sollten, ist ja nicht falsch. Die Betonung liegt aber auf „alle“. Solidarität ist keine Einbahnstraße. Wenn zum Beispiel gesagt wird, „Jeder Corona-Tote ist einer zu viel“, dann gilt auch: „Jeder Maßnahmen-Tote ist einer zu viel.“ Auch in einer schweren Krise müssen wir in der Lage sein, alle mit ins Boot zu holen, Kompromisse zu schließen, einen modus vivendi zu finden. Mit einem virologischen Tunnelblick kann man keine komplexe Gesellschaft steuern. Dazu braucht es einen breiten gesellschaftlichen Diskurs, bei dem sich niemand ausgeschlossen fühlen darf. Leider hat in den vergangenen anderthalb Jahren so ziemlich das Gegenteil stattgefunden.

Sie führen in Ihrem Buch einen interessanten Vergleich an. 1969 hieß es von Willy Brandt: „Mehr Demokratie wagen“. Vor einigen Monaten veröffentlichte die Süddeutsche Zeitung einen Artikel mit der provokanten Überschrift: „Mehr Diktatur wagen“. Welche Veränderungen in Politik und Gesellschaft sehen Sie im Hinblick auf diese sich gegenüberstehenden „Marschrichtungen“?

Was sich gegenwärtig abspielt, würde ich auf die Formel bringen „Weniger Demokratie wagen“. Wir erleben einen stetigen Abbau von Rechtsstaat, Demokratie, Liberalität. Der Druck steigt. Es wird gedroht und verboten, es wird erzwungen und gemaßregelt, es wird bestraft und sanktioniert, es wird gegängelt und schikaniert, es wird drangsaliert und denunziert, es wird bevormundet und gecancelt. Nicht einmal auf die Beachtung zivilisatorischer Minimalstandards in Gestalt des simplen politischen Anstands kann man sich noch verlassen. Diese Erosion hat lange vor „Corona“ begonnen, aber die aktuelle Krise wird von der Staatsmacht und den ihr verbundenen großen Konzernen genutzt, um den Abwärtsprozess zu beschleunigen und zu intensivieren.

Lange vor Corona, sagen Sie. Seit wann läuft denn dieser Prozess?

Schwer zu sagen: Ging es schon los mit Ende des Kalten Krieges? Oder nach 9/11? Mit dem Finanzcrash 2008? In jedem Fall sind die goldenen Jahre – sie dauerten von der Mitte der 1960er bis Anfang der 1980er – in denen man mehr Demokratie wagte, sich ein hohes Maß an Liberalität und eine beachtliche Diskursbreite leisten konnte, definitiv vorbei. Viele Demokratien, nicht nur die deutsche, befinden sich seit Jahren in einem sich stetig verschärfenden Krisenmodus, aus dem sie keine Auswege finden.

Manche befürchten, dass sich unsere Geschichte wiederholen könnte…

Sie meinen, dass wir wieder in diktatorische Verhältnisse abgleiten könnten? So weit ist es noch nicht und so weit wird es wohl auch nicht kommen, hoffentlich. Dennoch ist die Entwicklung alarmierend. Ich arbeite im Buch ja einige Ähnlichkeiten zwischen den heutigen Verhältnissen und den Jahren 1930 bis 1934 heraus, also dem Ende der Weimarer Republik und der beginnenden NS-Zeit. Wer aus der Geschichte lernen will, sollte sich diese entscheidenden Jahre, diese abschüssige Bahn genau ansehen.

Was haben Sie bei Ihrer Auseinandersetzung mit dieser Zeit gelernt?

Mir wurde klar, dass der Übergang von der Republik zur Diktatur ein längerer Prozess war. Die Weimarer Republik hat nicht am Stichtag 30. Januar 1933 geendet und es hat nicht postwendend die Nazi-Diktatur begonnen. Die Ernennung Hitlers zum Reichskanzler war zwar ein eminent wichtiges Ereignis, aber sie war nicht die Scheidelinie zwischen Demokratie und Diktatur. Der Machtübernahme der NSDAP war eine dreijährige Agonie der Weimarer Republik vorausgegangen, in der mit Präsidialkabinetten und Notverordnungen regiert wurde. Im Sommer 1932 war die preußische Regierung durch einen Staatsstreich und ohne nennenswerten Widerstand aus dem Amt gefegt worden. Stellt man dies in Rechnung, dann muss man realistischerweise sagen: Die Etablierung der NS-Diktatur kam nicht mit einem Schlag, sie war kein punktuelles Ereignis, sondern ein Prozess, der sich über etwa vier Jahre hingezogen hat. Die Deutschen sind langsam in die Diktatur hineingewachsen. Irgendwann, irgendwo wurde ein point of no return überschritten. Danach ging dann alles mit atemberaubender, die Widerstandskräfte lähmender Geschwindigkeit. Ich behaupte nicht, dass Deutschland heute in einer gleichartigen Situation sei oder dass sich die Geschichte wiederhole. Aber die Lage ist ernst. Wenn Deutsche eine Lehre aus ihrer Geschichte ziehen können, dann lautet sie: Seid wachsam und wehret den Anfängen!

Was haben Sie noch gelernt?

Mir ist aufgefallen, dass seinerzeit viele Leute, die es besser hätten wissen müssen, sich in die eigene Tasche gelogen, die Dinge schöngeredet haben, so etwa viele führende Publizisten des Landes. Um sie herum brannte alles, aber sie waren nicht willens oder in der Lage, eine realistische Lageeinschätzung abzugeben – mit fatalen Folgen. Gerade in schweren politischen Krisensituationen braucht es einen harten Realismus. Der fehlte damals vielen, und der ist auch heute Mangelware.

Welche Möglichkeiten gibt es denn für unsere Gesellschaft, den Entwicklungen entgegenzutreten?
Sie sprechen in Ihrem Buch davon, dass wir „Antipolitiker“ brauchen. Was meinen Sie damit?

Mein Buch besteht ja aus zwei großen Teilen. Der erste Teil ist zeitdiagnostisch ausgerichtet und verbreitet, wie ich zugeben muss, wenig Zuversicht. Im zweiten Teil – er heißt „Orientierungen“ – sieht es etwas anders aus. Da mache ich eine Reihe von Vorschlägen: Was kann man hier und heute konkret tun? Was brauchen wir? In welche Richtung sollten wir uns bewegen? In diesem Zusammenhang erläutere ich das Konzept „Antipolitik“, das ich von dem ungarischen Schriftsteller György Konrád übernehme. Antipolitiker wehren sich nicht gegen die Politik als solche, sondern gegen die exzessive Politisierung, nicht gegen den Staat, sondern gegen den Etatismus, sie bauen – in den Worten Konráds – „Dämme gegen die politische Flut“. Sie verteidigen die Zivilgesellschaft oder die kleinen Communities gegen die Anmaßungen der Politik. Sie wollen nicht in einem herkömmlichen Sinn „an die Macht“, sondern sie entziehen sich dem üblichen politischen Spiel beziehungsweise setzen ihre eigenen Spielregeln. Ich halte diesen Ansatz für sehr fruchtbar und versuche, ihn mit Inhalt zu füllen.

Wie sollten die Antipolitiker weiter agieren?

Ich will einen wichtigen Aspekt nennen: Antipolitiker gibt es links, rechts und in der Mitte. Sie sollten sich finden! Und sie tun es bereits. Viele Menschen überschreiten zurzeit politische Grenzen und werden sich fundamentaler Gemeinsamkeiten mit anderen Strömungen bewusst – bemerken zugleich grundlegende Differenzen zu Gruppierungen, mit denen sie sich bis dato in Übereinstimmung glaubten. Das mag zunächst irritieren, könnte aber auch politische Impulse setzen. Was sollte gegen Umgruppierungen und neue Bündnisse einzuwenden sein? Was sollte staatskritische Konservative, Libertäre und antiautoritäre Linke daran hindern, hier und da gemeinsame Sache zu machen, für gemeinsame Ziele zu streiten? Was sollte sie hindern, die politischen Abstandsgebote zu ignorieren?

Vielleicht bahnt sich hier ja eine Entwicklung an, die in der Zeit „nach Corona“ noch an Bedeutung gewinnen wird: keine festgefügten Lager mehr, keine ideologischen Borniertheiten, keine Berührungsängste (also kein „political distancing“), sondern flexible, überraschende, schwer kalkulierbare und immer themenbezogene Kooperationen ganz unterschiedlicher Kräfte. Man müsste sich da auch gar nicht groß absprechen – getreu dem Motto: getrennt marschieren, vereint schlagen. Solche Kreuz- und Querfronten, wie ich sie nenne, könnten eine befreiende Wirkung entfalten, also die etablierte Politik auf Trab bringen – und eine demokratische politische Kultur revitalisieren.


Anmerkung der Redaktion: Die Spekulationen des Interviewten zur Querfront teilen wir nicht und halten sie auch für abenteuerlich.


Lesetipp: Politische Angst – Warum wir uns kritisches Denken nicht verbieten lassen dürfen. Westend. 26. Juli 2021. 160 Seiten. 16 Euro.


Titelbild: Christin Klose/shutterstock.com

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