Alexei Nawalny: Schweigt Nicht! Eine Rezension

Alexei Nawalny: Schweigt Nicht! Eine Rezension

Alexei Nawalny: Schweigt Nicht! Eine Rezension

Gert-Ewen Ungar
Ein Artikel von Gert-Ewen Ungar

Er gilt dem deutschen Mainstream als wichtigster lebender russischer Oppositioneller: Alexei Nawalny. Während seines Aufenthalts in der Berliner Charité, wo er sich von einem mutmaßlichen Giftanschlag erholte, besuchte ihn sogar die Kanzlerin. Inzwischen ist Alexei Nawalny wieder in Russland. Er sitzt im Gefängnis. Seine Bewährungsstrafe wurde wegen zahlreicher Verstöße gegen die Bewährungsauflagen in eine Haftstrafe umgewandelt, die er nun verbüßt. Seine Organisation wurde als extremistisch eingestuft und ist faktisch verboten. Im Droemer-Verlag erschien nun ein Buch, das Nawalnys Reden vor Gericht einem deutschen Publikum zugänglich macht. Von Gert Ewen-Ungar.

Ich hielt das Buch in die Kamera und wir witzelten. Ob Alexei Nawalny wohl weiß, dass er in Deutschland Buchautor geworden ist, wollte mein russischer Freund am anderen Ende des Videochats wissen, und ob er wohl Kenntnis darüber hat, was seine amerikanischen Ghostwriter in seinem Namen aufgeschrieben haben?

Beim Lesen der kleinen Schrift stellte sich schnell heraus, so witzig war das gar nicht. Vermutlich weiß Alexei Nawalny tatsächlich nicht, dass sein Name den Buchrücken eines kleinen Bandes des Droemer-Verlags ziert. Der Titel “Schweigt nicht! Reden vor Gericht”.

Das Buch enthält die Übersetzungen von vier Reden, die Alexei Nawalny nach seiner Rückkehr aus Deutschland im Januar und Februar 2021 vor Gericht gehalten hat. Wobei Reden ist eigentlich falsch. Rede klingt nach Gliederung und Aufbau. Das zeichnet die Beiträge von Nawalny aber nicht aus. Es sind eher Tiraden, assoziative Aneinanderreihungen, emotionale Einlassungen. Im Original sind alle vier Reden im Internet abrufbar. Auf der Seite der Organisation von Nawalny finden sich auch die Transkriptionen in russischer Sprache. Sie wurden mittels des in Deutschland von namhaften Autoren und Autorinnen inzwischen weitgehend etablierten Verfahrens “Copy&Paste” ins Buch übernommen. Wenn die Zeit drängt, lassen sich damit schnell die Seiten füllen. In den russischen Transkriptionen der Reden im Buch finden sich lediglich einige kleine Änderungen gegenüber den Originaltexten, wie sie auf den Seiten von Nawalnys Organisation zu finden sind.

Die Übersetzung aus dem Russischen besorgte Alexandra Berlina, sie schrieb zudem die einordnenden Kommentare zu den Reden. Das Vorwort schrieb FDP-Urgestein Gerhart Baum. Alexei Nawalny hat zum Buch selbst nichts beigetragen. Von den knapp hundert Seiten sind rund vierzig auf Russisch. Neben den Transkriptionen der Reden wurde noch das Vorwort von Gerhart Baum ins Russische übersetzt. Welchem Zweck das dient, bleibt unklar. Vermutlich einfach nur dem, die Schrift auf knapp das Doppelte aufzublasen.

US-amerikanische Ghostwriter gab es hier wohl nicht, aber es gibt natürlich einen Grund, warum mein russischer Freund auf die Idee kam, es könnte welche geben. Der auch im vorliegenden Buch vielfach zitierte Film “Putins Palast”, in dem der russische Präsident der Korruption beschuldigt wird, wurde von einer im Schwarzwald ansässigen Firma gedreht, die den Auftrag zur Umsetzung aus den USA erhalten hat. Ungereimtheiten im Sprachlichen als auch in der Auswahl der Bilder deuten darauf hin, dass das Skript und die Vorlage zum Film nicht von einem Russen stammt. Insbesondere die sprachlichen Schnitzer legen nahe, dass es sich beim Text um ein Original in amerikanischem Englisch handelt, das dann ins Russische übertragen wurde. Für viele Russen gilt es daher als belegt, dass Nawalny in Bezug auf den Film über Putins angeblichen Palast nicht der Autor, sondern lediglich bezahlter Schauspieler und Sprecher ist. Darüber hinaus handelt es sich bei dem im Film gezeigten Objekt um einen im Bau befindlichen Hotelkomplex, wie russische Journalisten herausgefunden haben. Die in Nawalnys Film gezeigten Einrichtungsgegenstände existieren schlicht nicht – inklusive der zum Symbol gewordenen goldenen Klobürste.

Über all dies erfährt man in dem Buch nichts, das Nawalnys Namen ziert. Die Übersetzerin und Kommentatorin Berlina überlässt sich ganz dem deutschen Narrativ. Das lautet: Alexei Nawalny wurde von Putin vergiftet, weil er der wichtigste russische Oppositionelle ist. Für ihn gehen die Bürger auf die Straße, er ist die große Hoffnung Russlands. Er kämpft erfolgreich gegen Korruption, gegen Unterdrückung, für Demokratie und ein freies Russland. Er stellt sich allein gegen den diebischen Opa, wie er Putin in seinen Reden vor Gericht nennt. Im Anmerkungsapparat erfährt der Leser, dass dies keine Beleidigung, sondern eine Verniedlichung ist.

Man kann in Russland Derartiges vor Gericht offenbar äußern, ohne gemaßregelt zu werden. Damit dokumentiert der Band aber neben den Worten Nawalnys vor Gericht auch den gelassenen, mehr als geduldigen Umgang der Richter und Staatsanwälte mit dem Angeklagten.

Man kann in Russland die Richter, Staatsanwälte und anwesenden Beamten beleidigen, sie korrupt nennen, ihnen das Recht absprechen zu richten, ihnen Seilschaften und Absprachen unterstellen, ohne dafür mit einer Strafe belegt zu werden. Es ist das Verdienst des Buches, diese Gelassenheit russischer Staatsbeamter und Richter auch einem deutschen Publikum zugänglich gemacht zu haben.

Außerhalb der Gerichtssäle waren im Verlauf des Prozesses in Russland jedoch vermehrt Wortmeldungen dahingehend zu hören, gegenüber Nawalny doch endlich die Samthandschuhe auszuziehen. Es gibt einen eigenen Telegram-Kanal mit Namen Anti-Nawalny (@anti_navalny) mit immerhin über 25.000 Abonnenten, der die Falschinformationen und Skandale Nawalnys sowie seines Umfelds aufdeckt. Aber auch darüber erfährt man im Buch nichts.

Es schlägt sich ganz parteiisch auf die Seite Nawalnys, möchte, dass der deutsche Leser das auch tut und nach der Lektüre für sich erkennt: Russland ist ein Unrechtsstaat. Die Kommentare zu den Reden und das Vorwort weisen dem Leser den Weg zur gewünschten Deutung. Die Prozesse gegen Nawalny sind Unrecht, wird ohne Unterlass suggeriert. Argumentiert wird dabei auch mit einem Urteil des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofs EGMR. Dieser hat angeblich die Anklage gegen Nawalny und seinen Bruder im Fall des französischen Kosmetikkonzerns Yves Rocher als politisch motiviert bewertet. Und genau hier wird die Einseitigkeit auch am deutlichsten sichtbar, denn diese Behauptung ist falsch. Genau das hat der EGMR nicht getan. Der betreffende Artikel 18 findet im Urteil ausdrücklich keine Anwendung. Die Behauptung Baums im Vorwort ist unwahr.

Dennoch suggerieren die Kommentare zu den Reden, die Prozesse gegen Nawalny seien Ausdruck eines Unrechtssystems, das Angst vor den eigenen Bürgern hat, dessen Institutionen und Organe nur zur Unterdrückung der Bevölkerung und zur Bereicherung einer kleinen korrupten Elite benutzt werden. Die nachgewiesenen Betrügereien Nawalnys, alles Fragwürdige an dieser Person, alles, was zu Fragen und zur Hinterfragung des sehr einseitigen deutschen Blicks auf Nawalny führen würde, wird von Baum weggelassen oder von Berlina in den Kommentaren und im Anmerkungsapparat rhetorisch glattgebügelt.

Befreit man sich als Leser von Vorwort und einordnendem Kommentar, befreit man sich vom Framing, zeigen die Reden deutlich, dass Nawalny eben kein Oppositioneller ist, der im Rahmen der bestehenden Verfassung an politischem Einfluss gewinnen und im demokratischen Kompromiss seine Vorstellungen umsetzen möchte. Nawalny möchte die Ordnung umstürzen, verunglimpft die Organe des Staates und ihre Vertreter. Die Reden zeigen so auch, dass die Einstufung von Nawalnys Organisation als extremistisch ihre Berechtigung hat. Kein Staat dieser Welt duldet offen vorgetragene Umsturzpläne. Das ist kein Ausdruck einer besonderen, russischen Willkür. Das ist überall auf der Welt so. Man mag einwenden, dass es in autoritären und totalitären Staaten ein zwar nicht juristisch fundiertes, aber ein moralisches Recht zum Widerstand gibt. Dass es sich bei der Russischen Föderation um einen solch repressiven Staat handelt, der das moralische Recht zu Widerstand legitimiert, müsste allerdings zunächst bewiesen werden. Substanzielle Beweise für all die Vorwürfe, Putin sei ein Autokrat und Russland eine Diktatur, werden sowohl im Buch als auch in deutschen Medien kaum angeführt und wenn doch, sind sie fragwürdig.

Die Ankündigung des Verlages sowie das Vorwort von Gerhart Baum stilisieren Nawalny zum Menschenrechtler. Er demaskiere das System Putin, meint der Verlag und hält Nawalnys Reden deshalb für ein Dokument der Zeitgeschichte. Das allerdings ist mehr als fraglich, denn sowohl bei den Reden als auch bei den Elogen auf Nawalny bleibt immer undeutlich, wofür Nawalny politisch steht. Seine Reden seien Plädoyers für die Freiheit, meint Gerhart Baum in seinem Vorwort. Aber Freiheit von was und zu was? Freiheit ist ein relativer, kein absoluter Begriff. Absolute Freiheit gibt es nicht oder, für die Nihilisten unter den Lesern sei dieses Zugeständnis gemacht, nur im Tod: frei von allem und frei zu nichts.

Insbesondere im Vorwort von Gerhart Baum verschwimmt jedwede begriffliche Schärfe und bildet so einen weiteren Kristallisationspunkt des deutschen Nawalny- und Freiheits-Geschwurbels. Und Baum schwurbelt kräftig und in einer Weise, dass es in seiner Undifferenziertheit zum Fremdschämen peinlich wird. So wirft Baum die Politik des weißrussischen Präsidenten Lukaschenko und die Putins in einen Topf. Alles gerinnt ihm zu “Regime”. Er fordert, die juristischen Mittel Deutschlands und der westlichen Staaten auch extraterritorial anzuwenden und russischen und weißrussischen Richtern, Staatsanwälten und Polizisten hier bei uns den Prozess zu machen und sie zu verurteilen. Man kann das als Phantasterei eines alten Mannes abtun, gäbe es da nicht deutlich sichtbare Zeichen des Gefühls einer moralischen Überlegenheit im deutschen politischen und publizistischen Establishment, das sich durchaus dazu berufen fühlt, über andere und gar die ganze Welt zu richten. Diese Selbstüberhebung deutscher Eliten ist eine gefährliche Entwicklung.

Biographisch ergibt sich bei Nawalny kaum ein Orientierungspunkt, der eine Einordnung ermöglicht. In den Fußnoten zu seinen Reden wird darauf hingewiesen, dass Nawalny die liberale Partei Jabloko verlassen hat. Wer russische Medien rezipiert, weiß darüber hinaus, dass sich die Partei sogar gegen eine Vereinnahmung durch Nawalnys Wahlsystem “Kluge Wahl” zur Wehr setzt. Dabei geht es darum, der Regierungspartei “Einiges Russland” so weit wie möglich zu schaden, indem man aussichtsreiche Gegenkandidaten auch dann wählt, wenn man politisch mit deren Positionen nicht übereinstimmt. Jabloko wehrt sich gegen Wahlempfehlungen durch Nawalny und sein Team. Das Verhältnis Nawalnys zu Jabloko ist zerrüttet. Im russischen Liberalismus findet er keine Heimat mehr. Eine Weile war er bekennender Nationalist, hat dem aber inzwischen abgeschworen – oder auch nicht. Man weiß es nicht genau. Selbst das ist nicht klar.

Nawalny steht politisch nur für “Putin muss weg”. Was nach Putin kommen soll, bleibt völlig dunkel. Auch die Reden geben hier keinen Hinweis auf eine tatsächlich politische Idee Nawalnys. Für den angeblich wichtigsten Oppositionspolitiker eines Landes ist das ein bisschen wenig.

In Russland selbst hat Nawalny nur eine sehr begrenzte Reichweite. Auch schon vor dem Verbot seiner Organisation galt er einer Mehrheit als vom Ausland bezahlter Einflussagent, der die Agenda seiner Geldgeber umzusetzen hat. Dass diese Auffassung nicht völlig aus der Luft gegriffen ist, auch dafür ist das vorliegende Buch, von dessen Existenz Nawalny vermutlich nichts weiß, ein kleiner Beleg. Der Name Nawalny dient als Emblem für ein im Westen etabliertes Narrativ über Russland, das zwar der immer weiter gehenden Zuspitzung und Eskalation des Verhältnisses dient, das aber mit Fakten nicht belegt werden kann.

Doch bevor jetzt diese Rezension zum Buch länger wird als das Buch selbst, schließe ich hier.

Ob sich die etwas über acht Euro für den Kauf des kleinen Bändchens lohnen, muss natürlich jeder für sich selbst entscheiden. Acht Euro für Copy&Paste und eine enge Führung des Lesers durch einseitige Kommentare und ein ebenso einseitiges Vorwort, damit der sich möglichst keine eigenen Gedanken zu den Wortmeldungen Nawalnys macht, finde ich persönlich allerdings einen sehr hohen Preis.

Die NachDenkSeiten sind für eine kritische Meinungsbildung wichtig, das sagen uns sehr, sehr viele - aber sie kosten auch Geld und deshalb bitten wir Sie, liebe Leser, um Ihre Unterstützung.
Herzlichen Dank!