Der marktkonforme Mensch

Der marktkonforme Mensch

Der marktkonforme Mensch

Ein Artikel von: Redaktion

Wo ist die politische Phantasie geblieben? Wo die Vision, die Utopie? Die fatalen Folgen der politischen Ideenlosigkeit werden durch die drohende Klimakatastrophe, den neoliberalen Sozialraub und die internationale Entsolidarisierung heute sichtbarer denn je, zeigen Nina Horaczek und Walter Ötsch in ihrem neuen Buch „Wir wollen unsere Zukunft zurück“. Und streiten für eine neue, bessere, partizipativere Politik. Nicht von oben, sondern von unten. Ein Auszug.

Hinter all den Theorien und Rechtfertigungen für bestehende Strukturen und Missstände steht letztlich immer eine Vorstellung über den Menschen, ein Menschenbild – auch wenn das in vielen Fällen nur stillschweigend erfolgt und kaum erkannt wird. Welches Menschenbild liegt den Visionen der erwähnten Eliten zugrunde? Welches Menschenbild braucht eine Gesellschaft, um die vielen Krisen der Umwelt bewältigen zu können? Über ein solches Bild zu reden, ist auch deshalb wichtig, weil jedes Bild vom Menschen immer auch eine Handlungsaufforderung an Menschen darstellt – nämlich so zu sein oder so zu werden, wie das Bild es besagt. Denn ein allgemeines Bild vom Menschen kann als »natürlich« hingestellt und als »natürlich« verteidigt werden. Wer argumentiert, es sei offensichtlich und entspreche der Natur des Menschen, gierig zu sein und auf die Mitmenschen wenig zu achten, findet in der Regel auch den Kapitalismus als natürlich, dessen Kritiker als naiv und die Sorge um die Zukunft als vergeblich.

Aber was soll im sozialen Leben »natürlich« sein? Die Kulturgeschichte zeigt, dass Verhalten, das heute als selbstverständlich gilt, auch einmal ganz anders beurteilt wurde. Im europäischen Mittelalter galt Geiz als Todsünde und wurde geächtet. Wer im Zustand dieser Sünde starb, musste damit rechnen, sofort in die Hölle zu kommen – und diese Hölle war für die Menschen damals eine bittere Realität. Das heißt nicht, dass es im Mittelalter keine geizigen Menschen gegeben hat, und auch nicht, dass diese ohne Einfluss waren, aber Geiz war eben nicht »geil«.

Wenn es gelingen soll, einen Aufbruch in der Gesellschaft zustande zu bringen, dann müssen wir unsere dominanten Bilder vom Wesen des Menschen ändern. Es geht darum, selbstbewusst alle Menschenbilder zurückzuweisen, die in den Theorien »des Marktes«, in marktfundamentalen Politiken und in den Praktiken einer ökonomisierten Gesellschaft enthalten sind. Am besten erklärt sich dieser Gedanke in einer Gegenüberstellung: Auf der einen Seite steht das Bild eines marktkonformen Menschen, auf der anderen Seite das eines Menschen mit imaginativer Kraft – und zwar jenseits der Imagination und Zukunftsprojektionen, die ihm eine ökonomisierte Gesellschaft andauernd auferlegt oder auferlegen will.

Das marktliberale Denken hat unsere Politik verändert und es wäre naiv, zu glauben, dass Jahrzehnte des Marktliberalismus an unserer individuellen Persönlichkeit spurlos vorbeigezogen sind. Ganz im Gegenteil. Der Neoliberalismus hat nicht nur die Politik in Fesseln gelegt (beziehungsweise hat sich die Politik die Fesseln anziehen lassen). Er hat auch in vielen Köpfen eine Art neoliberaler Persönlichkeit geformt. Der klinische Psychologe Paul Verhaeghe von der Universität Gent beschreibt die ihr zugrunde liegenden Praktiken so:

»Bestimmte Eigenschaften sind für das berufliche Weiterkommen heute unabdingbar. Am wichtigsten ist es, sich gut ausdrücken zu können, denn man muss so viele Menschen wie möglich für sich gewinnen. Der Kontakt kann dabei nur oberflächlich sein, das fällt nicht weiter auf. Schließlich trifft dies heutzutage auf die meisten zwischenmenschlichen Kontakte zu.«

Und:

»Des Weiteren muss man sich und die eigenen Fähigkeiten ›gut verkaufen‹ können – man kennt viele Leute, verfügt über jede Menge Erfahrung und hat erst vor kurzem ein größeres Projekt beendet. Wenn sich später herausstellt, dass das meiste davon heiße Luft war, ist dies lediglich der Ausweis für eine andere nützliche Eigenschaft: Man ist in der Lage, überzeugend zu lügen, ohne dabei ein schlechtes Gewissen zu haben. Deshalb übernimmt man auch nie Verantwortung für sein Verhalten. Außerdem ist man flexibel und impulsiv, immer auf der Suche nach neuen Anreizen und Herausforderungen. In der Praxis führt das zu riskantem Verhalten, aber keine Sorge – nicht man selbst wird hinterher die Scherben zusammenkehren müssen.«

Natürlich sei diese Art der Charakterisierung überspitzt, sagt auch Verhaeghe. Aber diese permanente Selbstoptimierung, die ständige Flexibilität, die in der Arbeitswelt von uns verlangt wird, das Sich-ständig-gut-verkaufen-Müssen, das verändert auch das Denken vieler.

Walter Ötsch, Nina Horaczek: „Wir wollen unsere Zukunft zurück. Streitschrift für mehr Phantasie in der Politik“, Westend Verlag 2021

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