Die Lehren aus dem Afghanistan-Desaster. Von Mohssen Massarrat

Die Lehren aus dem Afghanistan-Desaster. Von Mohssen Massarrat

Die Lehren aus dem Afghanistan-Desaster. Von Mohssen Massarrat

Mohssen Massarrat
Ein Artikel von Mohssen Massarrat

Eines der großen Schurkenstücke der Manipulationsindustrie – gemeint sind die federführenden Politikerinnen, Politiker und Medien – ist der in weiten Kreisen unserer Multiplikatoren erfolgreiche Versuch, das Afghanistan-Desaster des Militärs und der NATO zum Projekt zu noch mehr Militär und zu inbrünstigen Bekenntnissen zur NATO umzudeuten. Wie das immer wieder versucht wird, wurde einvernehmlich beim Triell der drei Kanzler-Kandidaten am vergangenen Sonntag sichtbar. „NATO, NATO über alles“ – das ist der Grundtenor. (Siehe hier: Ein Wochenende tumber Meinungsmache zur Bundestagswahl ). Unser Autor Mohssen Massarrat[*] bietet ein konkretes Gegenkonzept zu der erkennbar von Interessen der Rüstungswirtschaft und des Militärs geprägten Mehrheitsmeinung von Politik und Medien. Albrecht Müller.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Die Lehren aus dem Afghanistan-Desaster. Von Mohssen Massarrat

Zahlreiche Afghanen, junge und alte, kleben buchstäblich am US-Transportflugzeug auf dem Flughafen von Kabul. Der Pilot erhält trotzdem die Order, abzufliegen. Dieses Bild kann nie aus dem Gedächtnis getilgt werden, es führte bildlich die ungeheure Verzweiflung dieser Menschen vor Augen, die alles riskierten, um sich ein neues Leid zu ersparen. Dass der amtierende Präsident Afghanistans, Ashraf Ghani, Mitte August mit Koffern voll gefüllt mit US-Dollar die Flucht ergriffen hat, ist bekannt. Weniger bekannt ist jedoch dessen Coup mit dem Machtwechsel: Am Abend vor seiner Flucht ordnete der Präsident eine Lagebesprechung im benachbarten Verteidigungsministerium für den darauffolgenden Tag an. Sämtliche aus verschiedenen Fraktionen und Stämmen bestehenden Regierungsmitglieder konzentrierten sich auf dieses schicksalhafte Treffen, wussten jedoch nicht, dass Ashraf Ghani etwas ganz Anderes im Schilde führte: Er verhandelte, so wird berichtet, mit den Taliban des paschtunischen Haghani-Stammes, dem er selbst angehört, um ihnen und nicht den Taliban aus dem rivalisierenden Durrani-Stamm den Präsidentenpalast und damit die Regierung zu übergeben. Die Stammesloyalitäten und -konflikte sind in Afghanistan offenbar manifest, und sie spiegeln sich tatsächlich in allen Bereichen wider, in der Regierung, in der Armee und in den staatlichen Institutionen. Wäre vor diesem Hintergrund möglicherweise die Unkenntnis über die zutiefst in der afghanischen Gesellschaft verwurzelte archaische Stammes-Tradition die eigentliche Ursache des desaströsen Scheiterns der USA und des Westens in Afghanistan? Mitnichten. Vieles spricht dafür, dass die USA sich für derartige Fragen nicht sonderlich interessiert haben, weil es ohnehin auch nie ihr Ziel war, Afghanistan zu modernisieren, Menschen- und Frauenrechte oder die Rechtsstaatlichkeit durchzusetzen. Nicht erst seit Nine Eleven, also seit 20, sondern bereits seit über 40 Jahren verfolgen die USA in Afghanistan ganz andere Ziele.

Schon auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges machten die USA Afghanistan, eines der ärmsten Länder der Welt, zum Kriegsschauplatz, um die Sowjetunion in einen Krieg gegen die afghanischen Mudjahedin zu verwickeln. Zbigniew Brzezinzki, der Sicherheitsberater von Jimmy Carter, rühmte sich offen, mit seiner Strategie den kommunistischen Rivalen ihr eigenes Vietnam beschert zu haben. Die USA rüsteten 1978 auf Brzezinskis Anraten hin tatsächlich die streng islamischen Mudjahedin auf, die gegen die Modernisierungspolitik der gottlosen Kommunisten in Kabul massiven Widerstand leisteten, und brachten die Volksdemokratische Partei Afghanistans so in Bedrängnis, dass diese ihre Schutzmacht Sowjetunion zu Hilfe rief. Die SU tappte in Brzezinzkis Falle, marschierte 1979 mit der Sowjetarmee in Afghanistan ein und verwickelte sich in einen beinahe 10 Jahre andauernden zermürbenden Krieg gegen die afghanischen Mudjahedin, an dessen Ende die schmachvolle Niederlage der zweitstärksten Armee der Welt mit ungeheuren menschlichen und materiellen Verlusten stand. Diese Fehlentscheidung hat dem Zerfall der SU ganz sicher einen kräftigen Schub verpasst.

Die einzig verbliebene Supermacht USA stellte nach Nine Eleven mit War on Terror in Afghanistan sich selbst eine Falle und musste Afghanistan schließlich im August 2021 nach 20 Jahren, dem längsten Krieg, in den die USA je verwickelt waren, verlassen und unfreiwillig ihre Niederlage eingestehen. Das Scheitern auf der ganzen militärischen, politischen und moralischen Linie ist so offensichtlich, dass kein ernstzunehmender Mensch sich traut, es zu beschönigen, von einigen ewig gestrigen PolitikerInnen und JournalistInnen einmal abgesehen. In keinem anderen US-Krieg sind die ganzen abgründigen Intentionen, Lügen, humanitär katastrophalen Folgen in der Weltöffentlichkeit so klar ans Tageslicht gespült worden wie in diesem Krieg:

Das schlimmste moralische Vergehen der USA und ihrer Nato-Verbündeten besteht darin, mit ihrem Versprechen, in Afghanisten Menschen- und Frauenrechte schützen und Rechtsstaatlichkeit herstellen zu wollen, erst die legitimen Wünsche und Sehnsüchte nach Freiheit, Emanzipation und moderner Lebensweise bei Millionen Frauen und Männern im Land für ihre eigenen Zwecke zu instrumentalisieren, um sie dann mit einem Schlage zu verraten. Die Aussage des US-Präsidenten Biden „wir haben niemals Demokratie in Afghanistan einführen wollen“ entlarvt die grandiose Täuschung der Menschen in Afghanistan und der Welt. Sie ist auch eine schallende Ohrfeige für die US-Verbündeten, die ebenfalls genötigt wurden, ihre eigenen Bevölkerungen zu belügen. Alle Versuche im letzten Jahrhundert, Afghanistan von oben zu modernisieren, sind gescheitert, so scheiterte Mohammad Daoud Khan, nachdem er die Monarchie 1973 stürzte, am Widerstand der mit 40 Prozent stärksten Bevölkerungsgruppe mit zutiefst verwurzelten Stammesstrukturen, einem äußerst rigiden Patriarchat und einem dem Wahabismus in Saudi Arabien nahestehenden streng islamischen Glauben. Auch die kommunistisch geführte demokratische Volkspartei Afghanistans, die 1978 die Macht übernahm, scheiterte an den verkrusteten Traditionen der dominierenden paschtunischen Stämme. Selbst die Spaltung dieser Partei hatte ihre Wurzeln in der Rivalität unter den afghanischen Stämmen. Welche Lehren sind nun aus dem afghanischen Desaster zu ziehen?

Erstens muss konstatiert werden, dass zwar die USA und ihre Nato-Verbündeten gescheitert sind, jedoch der US-Militär-industrielle Komplex als der eigentliche Sieger so stark wie noch nie dasteht. Mindestens ein Drittel der Kriegskosten der USA, die nach Angaben des Watson Institutes zwischen 2001 und 2021 2260 Tausend Milliarden Dollar betrugen, flossen direkt in den Rüstungssektor. Trotz des ungeheuren Leids zahlreicher Völker im Mittleren Osten war dieser Industriezweig der Vereinigten Staaten immer der Kriegsgewinner. Das Mindeste, was die Nato nunmehr angesichts der für die Völker der Mitgliedsstaaten gänzlich sinnlosen Kriegskosten tun müsste, wäre die Rücknahme des Nato-2-Prozent-Ziels von 2014 und der sofortige Stopp weiterer Erhöhungen der Rüstungsausgaben in Deutschland. Mit dem Desaster in Afghanistan ist der Beweis erbracht, dass die bisherigen Kriegseinsätze der Nato komplett sinnlos waren und nichts als menschliches Leid für zahlreiche Völker und für die eigenen Soldaten, nichts als Zerstörung der Umwelt und der Wirtschaft der betroffenen Länder und nichts als noch mehr Terrorismus hervorgebracht haben. Der eigentliche Anlass, durch Erhöhung der Verteidigungsausgaben die Leistungsfähigkeit der Nato zu stärken, hat sich letztlich als eine Farce erwiesen und ausschließlich zur Subventionierung der Rüstungsindustrie gedient.

Zweitens haben sich die Nato-Verbündeten der USA anlässlich des Terrorangriffs von Nine Eleven uneingeschränkt mit den USA solidarisiert, sind dem auf Drängen der USA ausgerufenen Nato-Bündnisfall trotz völkerrechtlicher Bedenken gefolgt und haben sich am Afghanistankrieg trotz wachsender Kritik aus den eigenen Bevölkerungen bis zum bitteren Ende beteiligt. Was jedoch die USA von der Solidarität der Nato-Verbündeten wirklich halten, zeigten sie ganz offen, indem die US-Regierung vor dem Rückzug der US-Armee aus Afghanistan ihre Verbündeten nicht einmal vorab informierten. Nie zuvor haben die USA ihre Verachtung für die Nato-Verbündeten so offen gezeigt wie bei dieser Entscheidung. Von wegen mitgefangen, mitgehangen. Die USA verfolgten seit geraumer Zeit eine knallharte Hegemonialpolitik auf Kosten nicht nur von Völkern der Dritten Welt, sondern auch auf Kosten ihrer eigenen Nato-Verbündeten. Es ist daher an der Zeit, dass die westlichen Verbündeten der USA ihre sicherheitspolitische Abhängigkeit, genauer ihre Unterordnung unter die USA, sehr ernsthaft überdenken. Eine europäische Armee, wie aus militaristischen Kreisen in der EU als Antwort auf die unbestreitbare Unzuverlässigkeit der USA ins Spiel gebracht wird, kann angesichts der militärischen Stärke der bis zu den Zähnen bewaffneten Nuklerarmächte nun ein neues Wettrüsten hervorrufen, die Sicherheit für die westlichen Staaten jedoch niemals erhöhen. Die Regierungen westlicher Staaten in Europa und in Asien müssten stattdessen endlich erkennen, dass regionale Sicherheitsarchitekturen nicht nur mehr Sicherheit für sie bedeuten, sondern auch das Potential haben, eine umfassende Abrüstung, insbesondere der Atomwaffen, in Gang zu setzen. Die regionale Sicherheit – zusammen mit Russland in Europa und mit China in Asien – dürfte nicht nur die Bereitschaft dieser beiden Atommächte zur Abrüstung ihres Atomarsenals erhöhen, sondern auch die Vereinigten Staaten zur atomaren Abrüstung bewegen. Solange der militärisch-industrielle Komplex in den USA in allen Bereichen der US-Gesellschaft fest im Sattel sitzt, besteht keine Aussicht, dass sich die US-Regierungen von innen heraus zur atomaren Abrüstung aufraffen können. Der Druck muss daher von außen kommen.

Drittens und schlussendlich hätten Afghanistans Anrainerstaaten Pakistan, Iran, Tadschikistan, Usbekistan und China die historische Gelegenheit, alle miteinander und unter der Aufsicht der Vereinten Nationen, die Flüchtlingsfrage zu regeln. Schließlich sind gerade diese Staaten, vor allem jedoch Pakistan und Iran, die Hauptbetroffenen, die in den letzten drei Dekaden über 8 Millionen Afghanen bei sich aufgenommen haben. Außerdem können mögliche sicherheitspolitische Bedrohungen, die von einer Taliban-Regierung gegen die Anrainerstaaten ausgehen könnten, durch die regionale Kooperation eingedämmt werden. Schließlich und letztendlich könnte auch die reale Gefahr, die Taliban-Regierung gegen die Nachbarstaaten aufzuwiegeln, im Keim erstickt werden. Dazu müsste auf Initiative des UN-Generalsekretärs Guterres eine Konferenz dieser Staaten einberufen werden. Die Nato-Staaten hätten bei einer solchen regionalen Konferenz, wie Annalena Baerbock dies vorgeschlagen hat, allerdings nichts zu suchen. Die grüne Kanzlerkandidatin will offenbar den Bock zum Gärtner machen – ein Schlag ins Gesicht der leidtragenden Völker im Mittleren Osten.

Titelbild: hyotographics / Shutterstock


[«*] Der Autor ist Professor i. R. für Politik und Wirtschaft der Universität Osnabrück und lebt in Berlin.

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