Kinder als Sprachrohr?

Kinder als Sprachrohr?

Kinder als Sprachrohr?

Jörg Phil Friedrich
Ein Artikel von Jörg Phil Friedrich

Die Idee, Kinder dafür einzuspannen, politische Ziele zu erreichen, ist nicht neu. Schon vor bald 200 Jahren ließ Hans Christian Andersen in seinem Märchen „Des Kaisers neue Kleider“ ein Kind aussprechen, was kein Erwachsener zu sagen wagte, dass der Kaiser nämlich nackt sei. Allerdings kommt im Märchen das Kind ganz allein auf die Idee, seiner Verwunderung laut Ausdruck zu geben, und dass alle davon erfahren, dazu brauchte es keine Medien, weil die Begegnung des nackten Kaisers mit Volk und Kind in aller Öffentlichkeit auf der Straße stattfand. Das ist heute anders. Von Jörg Phil Friedrich.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Der verwunderte Ausruf des Kindes war keine politische Aussage, und auch heute neigen Kinder nur selten dazu, sich aus freien Stücken mit politischen Anliegen oder Forderungen in die Öffentlichkeit zu begeben. Aber dass die Äußerung von Kindern im politischen Raum einen besonderen Effekt hat, das haben die Leute, die gern politisch Einfluss nehmen, die gesellschaftlich „etwas bewegen wollen“, von Andersen gelernt. Also muss man sie anstiften, das zu sagen, was aus dem Mund eines Kindes irgendwie origineller, berührender, wirkungsvoller klingt, als wenn es ein politischer Kommentator, eine Journalistin, eine Interviewerin oder ein Philosoph sagt. Wer, wie der Autor dieses Textes, in der DDR aufgewachsen ist, weiß, dass man dieses Mittel dort schon kannte, es war natürlich kein Instrument des kritischen Journalismus, sondern eines der herrschenden Partei. In der Schule malten wir Grußkarten für Luis Corvalan und für Angela Davis, die, wie wir von der Lehrerin erfuhren, von den Imperialisten eingesperrt worden waren, weil sie für Frieden, Freiheit und Sozialismus kämpften. Die Vorlagen für die Karten konnten wir sicherheitshalber aus der Zeitung ausschneiden, die Texte wurden mit der Lehrerin besprochen, bevor sie aufgeschrieben wurden.

Textbausteine gegen die „Zukunftsangst“

In den letzten Wochen haben politische Aktivisten und Journalisten die Idee für sich entdeckt, Kinder für ihre Anliegen einzuspannen. Das würden sie natürlich bestreiten. Die Initiatoren von enkelkinderbriefe.de etwa sind sicher, dass es nicht ihre Anliegen, sondern natürlich die der Kinder sind, um die es geht. Deshalb wenden sie sich in einem Video an Kinder, um sie davon zu überzeugen, den Großeltern Briefe zu schreiben, damit diese wiederum ihre Wahlentscheidung so treffen, dass dabei das Beste für die Zukunft der Kinder herauskommt.

Sicherlich freut sich jede Oma und jeder Opa über Post von den Enkeln. Ich selbst habe schon Ansichtskarten von meiner Enkelin erhalten, auf denen sie mit etwas ungelenken Druckbuchstaben aus dem Urlaub grüßt. Wenn ich von ihr eine solche Karte erhalten würde, auf der sie mir mit wenigen Worten von ihrer Zukunftsangst berichten würde, würde mich das sehr beeindrucken.

Allerdings spüre ich im Umgang mit jungen Menschen wenig Zukunftsangst. Die meisten von ihnen genießen die fragwürdigen Segnungen der Globalisierung, wenn sie in ihren schicken Fast-Fashion-Klamotten, mobil jederzeit mit den Freunden verbunden, auf E-Scootern geschickt durch die Fußgängerzone gleiten. Ich muss das nicht mögen, um es ihnen dennoch zu gönnen. Allerdings würde ich gern mal mit ihnen darüber reden, welches ökonomische System sie damit am Leben halten und dass dieses ökonomische System es ist, das den Klimawandel zur Gefahr macht.

Aber damit die Kommunikation nicht zu komplex wird und vielleicht gar an den wirklichen Ursachen drohender Katastrophen rührt, haben die Macher der Enkelbriefe-Initiative die Sache einfach gemacht. Die Enkel sollen sich nicht selbst überlegen, was sie ihren Großeltern gern zum Thema Klimawandel sagen wollen, sie dürfen sich ein paar Textbausteine auf der Webseite zusammenklicken, daraus entsteht dann eine „persönliche E-Mail“, die sie schnell an die Großeltern verschicken können. Das nennt man wohl niederschwellig.

Es kann dahingestellt bleiben, ob die Einschätzungen und Ziele der Aktivisten zutreffend sind. Stutzig machen könnte die Initiatoren, dass sie selbst eigentlich nicht mehr die Jüngsten sind und der Großelterngeneration eigentlich näher stehen als den Kindern: Die ersten vier Protagonisten des Werbevideos, Joko Winterscheid (42), Jan Delay (45), Pheline Roggan (40) und Annette Frier (47), werden in spätestens zehn Jahren selbst zur Großeltern-Generation gehören. Warum glauben sie, dass sie selbst sich mehr Sorgen um die Kinder und deren Zukunft machen als andere in ihrer Generation?

Bedenklich ist aber vor allem, dass hier der Versuch unternommen wird, Kinder für eigene Ziele einzuspannen, indem man ihnen einredet, die eigenen Großeltern würden sich für die Sorgen ihrer Enkel sonst nicht interessieren. Damit wird ein Generationenkonflikt konstruiert und Kindern eingeredet, dessen tatsächliche Existenz sehr fragwürdig ist. Vor allem aber wird von den politischen und ökonomischen Mechanismen abgelenkt, die das Klimaproblem weiter verschärfen und deren Teil die Kinder selbst längst sind. Das Kreuz auf dem Wahlzettel als Entlastungstat befreit von weitergehender politischer Aktion und von radikalem Überdenken unseres ökonomischen Systems, der damit verbundenen Anreizstrukturen und letztlich der Bereitschaft der Konsumenten, dieses System weiter zu stützen. Dieser Ablasshandel wird nun ergänzt durch Textbaustein-Ablassbriefe, erdacht von Erwachsenen, die sie Kindern unterschieben, um sich selbst als Klimaaktivisten im Spiegel ansehen zu können.

Eingespannte Kinderreporter

Die zweite Form der Instrumentalisierung von Kindern im politischen Kampf greift die Andersen-Idee noch unmittelbarer auf – das so genannte Kinderreporter-Interview. Es ist in den letzten Tagen bereits viel über den manipulativen Charakter dieses Formats geschrieben und gesagt worden. Jedem, der sich ein solches „Interview“ einmal angesehen hat, dürfte klar sein, dass hier Kinder für die Zwecke von Erwachsenen in hochgradig manipulativer Form missbraucht werden.

Besonders verwerflich ist dabei, dass offenbar niemand in den Redaktionen darüber nachdenkt, welchen langfristigen Schaden diese Interviews vor allem bei den Kindern selbst anrichten. Mag sein, dass sie sich gerade als Star, als Prominente fühlen. Wenn sie aber wirklich, wie sie in den Interviews vorgeben, so eifrige Medien-Konsumenten sind, wird ihnen schon in diesen Tagen auch die Kritik an dem, was da mit ihnen gemacht wird, nicht entgehen. Wer begleitet diese Kinder dabei? Spätestens aus der Distanz einiger Jahre wird der einen oder dem anderen dieser Kinder aufgehen, welches Spiel da mit ihnen gespielt wurde. Entweder werden sie darunter leiden oder sie werden zu der Ansicht kommen, dass Manipulation von Anderen nun einmal wesentlicher Bestandteil des Journalismus ist. Wir sollten uns jetzt schon vor dem Moment sorgen, in dem eine Kinderreporterin von heute zur Moderatorin der Tagesschau wird.

Kinder haben politische Interessen und sind von Politik betroffen. Das gilt für ihre gegenwärtige Situation, etwa, wenn es um die Schul-Pandemiepolitik geht, genauso wie für ihre Zukunft, für die heute Entscheidungen getroffen werden. Es ist eine gute Idee, diese Generation in den Medien zu Wort kommen zu lassen und sie in den politischen Dialog gleichberechtigt einzubeziehen. Wir sollten mit ihnen sprechen, erklären und zuhören, sie ernst nehmen und sie darin unterstützen, ihre eigene gesellschaftliche, politische und ökonomische Situation zu verstehen. Das Ergebnis gehört in die Öffentlichkeit. Aber jede Form von Instrumentalisierung, wie sie sich gerade auszubreiten beginnt, ist letztlich Missbrauch und sollte so schnell wie möglich zum Tabu erklärt werden.

Titelbild: KanKhem

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