„Mehr Fortschritt wagen“ – in zentralen Fragen stimmt das nicht

Albrecht Müller
Ein Artikel von:

Die neue Koalition hat gestern ihre programmatischen Vorstellungen in einem 178 Seiten langen Papier vorgelegt. Die Ampel verspricht in der Überschrift in Anlehnung an Willy Brandts „Mehr Demokratie wagen“ von 1969 „Mehr Fortschritt wagen“. Für einige programmatische Vorstellungen wie zum Beispiel die Erhöhung des Mindestlohns auf 12 €, die Kindergrundsicherung, das Versprechen, Steuerhinterziehung konsequent zu bekämpfen, und den Schwerpunkt Klimaschutz gilt diese Grundaussage. Auch etwas scheinbar Formales, das aber den Geist der künftigen Zusammenarbeit sichtbar machen könnte, die Disziplin beim Aushandeln des gemeinsamen Programms war ein Fortschritt – keine Durchsteckereien, eine auffallende Zurückhaltung des Kanzlerkandidaten und die Verhandlungsgeschwindigkeit. Aber zumindest in zwei zentralen Bereichen der Programmatik sind die Koalitionäre nicht fortschrittlich, sondern reaktionär. Reaktionär ist I. die Vorstellung zur Reform der Altersvorsorge, reaktionär sind II. zentrale Aussagen oder das Fehlen von notwendigen Aussagen zur Außen- und Sicherheitspolitik. Albrecht Müller.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Es folgt zunächst I., dann in Kürze in einem 2. Beitrag der Text zu II., zum Rückfall in die Zeit vor 1990 in der Außen- und Sicherheitspolitik.

I. Mit ihren Vorstellungen zur Reform der Altersvorsorge fällt die Ampel hinter 1952 zurück

Damals hatte der Ökonom Mackenroth festgestellt – übersetzt auf das anstehende Problem: In der Regel müsse die Versorgung der Rentner und der Kindergeneration von der zur gleichen Zeit lebenden arbeitsfähigen Generation geleistet werden. Siehe hier zitiert aus:

In der Präambel ist die Linie der Reform der Altersvorsorge niedergelegt: „Wir halten das Rentenniveau stabil, erweitern die gesetzliche Rentenversicherung um eine teilweise Kapitaldeckung und werden das System der privaten Altersvorsorge grundlegend reformieren.“
Ab Seite 72 beginnt dann der eigentliche Teil zur Altersvorsorge. Dort sind einige programmatische Festlegungen getroffen:

  • „Wir werden das Mindestrentenniveau von 48 % dauerhaft sichern.“ – Anmerkung: Das ist keine besondere Leistung. Im Vergleich mit Österreich zum Beispiel schneiden wir damit ganz schlecht ab. Siehe einen Artikel dazu zum Beispiel hier.
  • „In dieser Legislaturperiode steigt der Beitragssatz nicht über 20 %.“ – Anmerkung: Diese Festlegung ist wie eine Fessel zur Minderung der Leistungsfähigkeit der gesetzlichen Rente. Auch in der Vergangenheit haben die Akteure, die das Kapitaldeckungsverfahren und die Privatisierung der Altersvorsorge mit Riester-Rente und Rürup-Rente betrieben haben, auf diese Fesselung gesetzt. Sie haben gleichzeitig mit der Einführung der Riester-Rente (heimlich und ohne dies zu erwähnen) den Beitragssatz de facto um 4 % erhöht. Auch jetzt hat die Festlegung auf Beitragsstabilität wiederum den Zweck, die Schleuse für andere Vorhaben wie die sogenannte Aktienrente zu öffnen.
  • „Es wird keine Rentenkürzungen und keine Anhebung des gesetzlichen Renteneintrittsalters geben.“ – Anmerkung: das ist o. k.
  • „Um diese Zusage generationengerecht abzusichern, werden wir zur langfristigen Stabilisierung von Rentenniveau und Rentenbeitragssatz in eine teilweise Kapitaldeckung der gesetzlichen Rentenversicherung einsteigen. Diese teilweise Kapitaldeckung soll als dauerhafter Fonds von einer unabhängigen öffentlich-rechtlichen Stelle professionell verwaltet werden und global anlegen. Dazu werden wie in einem ersten Schritt der Deutschen Rentenversicherung im Jahr 2022 aus Haushaltsmitteln einen Kapitalstock von 10 Milliarden € zuführen. … Wir werden der Deutschen Rentenversicherung auch ermöglichen, ihre Reserven am Kapitalmarkt reguliert anzulegen.“ Und weiter:
  • „Die betriebliche Altersversorgung wollen wir stärken, unter anderem durch die Erlaubnis von Anlagemöglichkeiten mit höheren Renditen.“
  • „Wir werden das bisherige System der privaten Altersvorsorge grundlegend reformieren. Wir werden dazu das Angebot eines öffentlich verantworteten Fonds mit einem effektiven und kostengünstigen Angebot mit Abwahlmöglichkeit prüfen. Daneben werden wir die gesetzliche Anerkennung privater Anlageprodukte mit höheren Renditen als Riester prüfen.“

Hinter diesen in Variation formulierten programmatischen Vorstellungen der neuen Ampelkoalition steckt die Vorstellung, an den Kapitalmärkten, insbesondere an den Aktienmärkten würden Werte geschaffen. Das ist eine zutiefst reaktionäre Vorstellung. Sie lebt in dem Glauben, dass Spekulation und damit das Antreiben von Aktienkursen zu einem Mehrwert führen würde und dass man diesen Mehrwert für die Verbesserung der Altersvorsorge nutzen könne. Das ist wirklich abstrus. Volkswirtschaftlich und gesellschaftlich betrachtet sind Kurssteigerungen auf den Aktienmärkten keine Wertschöpfung. Dass eine Versammlung von drei Parteien, mit SPD und Grünen sogar mit fortschrittlichem Hintergrund, anderes glaubt, lässt tief blicken und Schlimmes erahnen. Vielleicht kommen die Koalitionäre demnächst auch noch auf den Gedanken, man möge die Altersvorsorge mit der Entwicklung auf den Immobilienmärkten verknüpfen.

Die Erfahrungen mit der Riester-Rente hätten eigentlich zur Rückkehr zur Vernunft führen müssen. Sie hätten die politisch Verantwortlichen, im konkreten Fall die Koalitionäre, lehren müssen, dass Umwege über die kapitalgedeckte Altersvorsorge teuer sind und am Ende nichts bringen. Sie kosten mehr für Verwaltung und neue Bürokratien und damit wird zunächst einmal das für die Altersvorsorge der aktuellen Rentnergeneration vorhandene Geld gemindert.

Es hätte nahegelegen, über die Grenze nach Österreich zu schauen, und es hätte nahegelegen, aus Gründen der Fairness und der Gleichbehandlung in unserer Gesellschaft Gruppen in die gesetzliche Rente einzubeziehen, die bisher ihre eigenen Systeme haben: Freiberufler, Beamte, Abgeordnete usw.

Was jetzt zum Thema Altersvorsorge vorliegt, ist wirklich nicht fortschrittlich. Wenn es auf den Parteitagen der SPD und der Grünen noch ausreichend rational und sozial denkende Delegierte gibt, dann dürfte dieser Teil des Koalitionsprogramms jedenfalls nicht angenommen werden. Ähnliches gilt für die Außen- und Sicherheitspolitik.

Dieser Teil II. folgt in Kürze.