Bertelsmann als Weichspüler einer OECD-Studie über wachsende Ungleichheit

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Unter der Überschrift „Deutschland ist ungerechter als viele andere Länder“ berichtete gestern (3.1.2011) tagesschau.de über eine Studie der Bertelsmann Stiftung, wonach es in Deutschland deutlich ungerechter zugeht als in vielen anderen Industrieländern. Bei einem Vergleich von 31 Mitgliedstaaten der OECD landete unser Land nur auf Platz 15. So weit, so schlecht.
Statt aber über das Original der OECD-Studie „Growing Unequal?: Income Distribution and Poverty in OECD Countries [PDF – 251 KB] zu berichten, erspart sich die ARD die Kosten von 70 Euro und vor allem die Mühe der Auswertung und übernimmt eine weichgespülte Interpretation der Bertelsmann Stiftung. Dabei hätte man den Kernsatz der OECD-Studie im Original sogar auf deutsch nachlesen können:
„Seit dem Jahr 2000 haben in Deutschland Einkommensungleichheit und Armut stärker zugenommen als in jedem anderen OECD Land. Der Anstieg zwischen 2000 und 2005 übertraf jenen in den gesamten vorherigen 15 Jahren (1985 – 2000) [PDF – 251 KB].“ Wolfgang Lieb

Die entsprechenden Grafiken sehen bei der OECD wie folgt aus:

Einkommensungleichheiten

„Die steigende Ungleichheit ist arbeitsmarktinduziert. Einerseits nahm die Spreizung der Löhne und Gehälter seit 1995 drastisch zu – notabene nach einer langen Periode der Stabilität. Andererseits erhöhte sich die Anzahl der Haushalte ohne jedes Erwerbseinkommen auf 19% – den höchsten Wert innerhalb der OECD“, heißt es u.a. in der OECD-Anmerkung zu Deutschland.

Schon der Titel der OECD-Untersuchung wird von Bertelsmann weichgespült: Aus „Wachsende Ungleichheit?“ wird „Soziale Gerechtigkeit in der OECD [PDF – 3.1 MB]“.

Die Bertelsmann-Auswertung mildert die OECD-Aussage, dass in „Deutschland Einkommensungleichheit und Armut stärker zugenommen als in jedem anderen OECD Land“ ab und schreibt die Ungleichverteilung der Einkommen habe so stark zugenommen „wie in kaum einem Land. Schon im ersten Satz wird relativiert: „Deutschland hat in Sachen sozialer Gerechtigkeit noch einigen Nachholbedarf.“ Deutschland ist danach also nicht etwa zurückgefallen, sondern hat nur „einigen Nachholbedarf“.
Oder: Die Einkommensarmut habe in der Bundesrepublik Deutschland in den vergangenen zwei Jahrzehnten eben nur „deutlich zugenommen“.

Der Skandal, dass in Deutschland über 11 Prozent der Kinder unter der Armutsgrenze leben, während es in den skandinavischen Ländern nur 2,7 Prozent sind, wird als „Besorgnis erregend“ verharmlost.

Die ziemlich blamable Feststellung der OECD, dass bei den Chancen auf sozialen Aufstieg durch Ausbildung auf Rang 22 der 31 untersuchten Ländern landet, wird bei Bertelsmann wie folgt abgefedert:
„Trotz verbesserter PISA-Werte – das deutsche Bildungssystem hat unter dem Aspekt der sozialen Gerechtigkeit klare Defizite. Hier rangiert Deutschland im OECD-Vergleich nur im unteren Mittelfeld.“
Oder:
Die Investitionen in frühkindliche Bildung seien „noch stark ausbaufähig“, heißt des da beschönigend.

Nicht zu bestreitende negative Aussagen, wie etwa, dass Deutschland bei der Vermeidung von Langzeitarbeitslosigkeit im OECD-Vergleich auf dem vorletzten Platz landet, werden bei Bertelsmann in Erfolgsmeldungen über den Arbeitsmarkt eingepackt:
„Die weltweite Wirtschaftskrise ist in Deutschland am Arbeitsmarkt trotz der starken Exportabhängigkeit der inländischen Wirtschaft deutlich weniger spürbar als in anderen Ländern. Die Zahl der Arbeitslosen ist zum ersten Mal seit vielen Jahren wieder auf einen Wert unter drei Millionen gesunken, die Beschäftigungsquote hat die 70-Prozent-Marke geknackt und liegt inzwischen klar über dem OECD-Mittelwert (66,3 Prozent). Fortschritte wurden zudem bei der Erwerbsintegration von Frauen und älteren Arbeitskräften erzielt. Doch unter dem Gesichtspunkt sozialer Gerechtigkeit gibt es durchaus noch einige Schattenseiten. So haben einige gesellschaftliche Gruppen – wie Langzeitarbeitslose und Geringqualifizierte – nach wie vor große Schwierigkeiten, in Beschäftigung zu kommen.“

Faktum ist, dass jeder zweite Erwerbslos in Deutschland von Langzeitarbeitslosigkeit betroffen ist, in Kanada und in den USA nur jeder zehnte und in Norwegen ist dieses Problem sogar vernachlässigbar. Deutschland liegt beim internationalen Vergleich der Langzeitarbeitslosigkeit auf dem zweitletzten Platz. (Und dennoch gehörte Deutschland zu den ersten Ländern, das die Rente mit 67 eingeführt hat, müsste man hinzufügen.)

Bertelsmann kann es nicht lassen, selbst bei der Auswertung einer fremden Studie auf die eigenen politischen Bewertungen zu verzichten. Dass Deutschland hinter Schweden, Norwegen, Dänemark, Finnland, der Schweiz, Frankreich, Island, Neuseeland, Großbritannien und Luxemburg das Prinzip Generationengerechtigkeit „vergleichsweise gut verwirklicht“ habe, kommentiert Bertelsmann mit dem Satz: „Die Verankerung einer Schuldenbremse im Grundgesetz soll verhindern, dass nachfolgende Generationen finanzielle Lasten in übermäßiger Höhe tragen müssen.“ Nun hat die Schuldenbremse ja noch gar keine Wirkung und ist somit für den gegenwärtigen Zustand der „Generationengerechtigkeit“ völlig irrelevant. Darüber hinaus aber ist die größte Zeitbombe für intergenerative Gerechtigkeit, die in der OECD-Studie konstatierte dramatische Zunahme der intragenerative Ungerechtigkeit. Denn die Schulden der einen sind zu jedem Zeitpunkt auch in Zukunft die Vermögen der anderen.

Auch bei der Darstellung der Arbeitsmarktsituation übernimmt Bertelsmann die Propagandafloskeln der Regierung: „Gerechtigkeitslücke trotz Jobwunder“ heißt es da. Und weiter geht es mit dem Lob der Agenda-Politik: „Der Gesetzgeber hat in den vergangenen Jahren einschneidende Reformen auf den Weg gebracht, die die Situation in der Bundesrepublik deutlich verbessert haben.

Immerhin resümiert Bertelsmann:
„Der internationale Vergleich zeigt jedoch eindeutig: Soziale Gerechtigkeit und marktwirtschaftliche Leistungsfähigkeit müssen sich keineswegs gegenseitig ausschließen; dies belegen insbesondere die Erfolgsbeispiele der nordeuropäischen Länder. Auch wenn diese Länder nicht bei jedem der hier berücksichtigten Indikatoren durchweg an der Spitze stehen, so sind die „universalistischen Wohlfahrtsstaaten“ Nordeuropas doch offenbar insgesamt am besten in der Lage, für gleiche Verwirklichungschancen innerhalb ihrer Gesellschaften zu sorgen.“
Allerdings nicht, ohne dass gleich wieder einschränkend hinzugefügt wird:
„Freilich heißt dies nicht, dass Politikmuster, die in einem Land erfolgreich sind, zwangsläufig auch im Rahmen eines anderen politischen Systems genauso funktionieren.“

Am besten man schaut sich in dieser Bertelsmann-Auswertung der OECD-Studie nur die Tabellen und Grafiken an. Dann kann man sich ein eigenes Bild verschaffen, ohne dass man von den Weichspülungen der Bertelsmann Stiftung auf ideologische Fährten gelenkt wird.

Siehe das Inhaltsverzeichnis des OECD-Berichts.
Siehe auch die Zusammenfassung.

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