Der NSU-Komplex ist am Ende

Wolf Wetzel
Ein Artikel von Wolf Wetzel

Das wahrscheinlich letzte Kapitel der „juristischen Aufarbeitung“ ist abgeschlossen. Es geht um André Eminger, ein absolut überzeugter Nazi, engster „Kamerad“ des NSU (Nationalsozialistischer Untergrund) und Mitangeklagter im NSU-Prozess in München. Nach einem fragwürdigen Urteil des Bundesgerichtshofes (BGH) bleibt Eminger auf freiem Fuß: Der BGH verwirft die Revision der Bundesanwaltschaft. Von Wolf Wetzel.

Anfangs warf die Bundesanwaltschaft André Eminger Beihilfe zu Mord vor und forderte zwölf Jahre Haft. Das Gericht sah dies zuerst auch so und ordnete 2017 Untersuchungshaft an. Am Ende sah es das Oberlandesgericht (OLG) dann ganz anders: André Eminger habe zwar dem Trio geholfen, aber gleichzeitig nichts gewusst – vom Nationalsozialistischen Untergrund, den er selbst in Wort und Tat propagiert hat. André Eminger wurde zu zwei Jahren und sechs Monaten Haft verurteilt … und konnte nach Urteilsverkündung das Gericht als freier Mann und als Star der Neonaziszene verlassen. Ging es wirklich nur um einen Neonazi? Was bis heute unterschlagen wird, ist die Tatsache, dass André Eminger nicht nur glühender Nazi war und ist, sondern auch eine ergiebige Quelle.

André Eminger gehörte zu den treuesten Kameraden des NSU. Er „betreute“ Beate Zschäpe bei ihrer viertägigen Flucht. Dies dokumentieren auch mehrere Telefonate zwischen ihr und André Eminger. Was man alles aus den Verbindungsdaten herauslesen kann, bleibt im Dunkel. Denn genau diese wurden gelöscht. Um diese „Panne“ perfekt zu machen, wurde auch die automatisch angefertigte Sicherungskopie vernichtet. Vieles spricht dafür, dass die Verbindungsdaten mehr verraten würden als den engen Kontakt zu Beate Zschäpe. Und man kann dem Gericht durchaus unterstellen, dass es nicht unbedingt einen Nazi schützen würde, wenn nicht andere „Verwicklungen“ damit ans Tageslicht kämen. Diese Besonderheit erklärt auch, dass er bis zur letzten Minute geschützt wurde, selbst im Gerichtssaal. Die Nebenklage spricht das Offensichtliche klar an:

„Eminger war verantwortlich für ein Fanzine, in dem für rassistische Morde geworben wurde, in dem rechtsterroristische Konzepte verbreitet wurden. Die Nebenklage hatte aus diesem Grunde auch beantragt, den Zwickauer V-Mann Ralph Marschner zu vernehmen, weil dieser Angaben zu den weiteren Aktivitäten Emingers hätte machen können. Dieser Antrag wurde von Verfassungsschutz und Bundesanwaltschaft vereitelt, das Gericht hatte kein Interesse an weiterer Aufklärung. Nun wird argumentiert, es gäbe keine weiteren Informationen dazu, dass Eminger von den Aktionen Zschäpes, Böhnhardt und Mundlos (Kenntnis) gehabt habe. Der Verfassungsschutz hat also erfolgreich die Aufklärung verhindert, dies führt im Ergebnis zu einer milderen Verurteilung Emingers.“ (nsu-nebenklage.de vom 11. Juli 2018)

Im Klartext: Die Bundesanwaltschaft und das Gericht haben gemeinsam dafür gesorgt, dass eine Beweisführung unterbleibt, die das „Scheinurteil“ hätte gefährden können. Denn hätte eine solche Beweiswürdigung dazu geführt, dass André Eminger der „vierte Mann“ im NSU ist, wäre die Anklage vom „Trio“ Makulatur und der Prozess geplatzt.

Ob André Eminger nur als sprudelnde „Quelle“ genutzt wurde, indem man ihn abhörte, indem man ihn observierte (und so am NSU dran war) oder indem man ihn als „Quelle“ führte, also bezahlte, liegt abermals in vernichtetem Beweismaterial begraben.

André Eminger fühlte sich jedenfalls sehr sicher und wollte selbst die läppische Strafe von 2 ½ Jahren nicht hinnehmen und die Staatsanwaltschaft legte ebenfalls Revision ein. Beides wurde jetzt durch das BGH-Urteil zurückgewiesen.
André Eminger hatte seinen Spaß und die Angehörigen der Opfer wurden ein letztes Mal verhöhnt.

Für eine wirklich ernsthafte Betrachtung dieses Trauerspieles an politischer und juristischer Aufklärung bleibt nur noch eine satirische Glosse:

Was haben wir gelernt? Was ist die Moral der Geschichte?

Erstens bestimmt nicht der NSU, wie viele Mitglieder er hat, sondern die Staatsanwaltschaft und das Gericht. Basta. Es waren drei. Alle anderen brauchen wir noch.

Zweitens hat der engste und treueste Kamerad des NSU, André Eminger, keine blasse Ahnung. Er ist zwar Nazi, überzeugter Nazi, aber er wusste von den anderen uns bekannt gemachten Mitgliedern des NSU nicht, dass die auch Nazis waren/sind.

Drittens wusste André Eminger schon gar nicht, warum er dem als Trio agierenden NSU ständig Campingwagen auf seinen Namen angemietet und den Pass einer Frau weitergegeben hatte. Ein Zusammenhang zwischen typischen Untergrundaktivitäten und einem neonazistischen Weltbild wäre völlig aus der Luft gegriffen:

„Die Richterinnen und Richter des OLG München kamen zu der Überzeugung, dass André E. jahrelang weitgehend ahnungslos war. Und der BGH hat keine Rechtsfehler in ihrer Beweiswürdigung gefunden.“ (spiegel.de vom 15.12.2021)

Viertens waren André Eminger und die uns als Trio vorgestellten NSU-Mitglieder zwar laut und bekennend für den „führerlosen Untergrund“, also für einen Kampf im Untergrund mit allen Mitteln. Aber das heißt doch nicht, dass er, also André Eminger, davon etwas gewusst hat, geschweige denn das auch getan hat, wofür er glühend eintritt.

Fünftens war der Verfassungsschutz über Handyortung etc. an André Eminger dran, bis zur letzten Minute. Aber daraus abzuleiten, dass der Verfassungsschutz mit den observierten Aktivitäten etwas anfangen konnte oder gar Schlüsse daraus hätte ziehen müssen, wäre eine maßlose Überforderung eines Geheimdienstes.

Sechstens sind wir sehr stolz auf unser oberstes Gericht, das Bundesverfassungsgericht (BVerfG). In Polen und Ungarn waren haarige Justiz“reformen“ notwendig, um die obersten Gerichte zu Dienern politischer Entscheidungen zu machen. In Deutschland geht das ganz ohne. Darauf sollten wir stolz sein.

Siebtens muss man aus all diesen Gründen den Verfassungsschutz stärken, denn er hat auch unter großem Druck und Erklärungsnot immer dichtgehalten und sogar persönlichen Unbill (Versetzung in den Ruhestand etc.) klaglos in Kauf genommen.

Achtens: Ohne diese Personen an führender Stelle hätte es keinen „NSU-Komplex“ gegeben. Um ihnen jetzt die Anerkennung und den Respekt zu zollen (Respekt ist ganz wichtig), der ihnen gebührt, schlagen wir vor, dass mit Abschluss des NSU-Komplexes eine fachübergreifende Kommission eingerichtet wird, um alles noch reibungsloser, noch ausgereifter zu machen.

Neuntens verdienen insbesondere jene Mitarbeiter Vorrang bei der Vergabe dieser lukrativen Posten, die trotz einiger Angriffe und Vorwürfe standhaft geblieben sind und die Kränkungen in Kauf genommen haben.

Das Experten(ohne *)gremium wird also aus folgenden Personen bestehen:

  • Michael Menzel, Ex-SOKO-Chef in Eisenach/Tod im Campingwagen 2011
  • Helmut Roewer, Ex-Chef des Verfassungsschutzes in Thüringen
  • Klaus-Dieter Fritsche, Ex-Vize-Präsident des Verfassungsschutzes (BfV)
  • Andreas Temme, Ex-V-Mann-Führer in Kassel (auch „Klein Adolf“ genannt)
  • Hans-Georg Maaßen, Ex-Präsident des Verfassungsschutzes (BfV)

Sie zusammen bringen viele Jahre und Jahrzehnte an unersetzbaren Erfahrungen auf die Waage und wissen auch für die Zukunft und mit dem neuen Bundeskanzler Olaf Scholz, wo die „rote Linie“ ist und wann sie nicht mehr da ist.

Zehntens: Wenn irgendjemand behauptet, die zahlreichen bis endlosen NSU-Skandale hätten uns geschadet, den können wir beruhigen. Das Gegenteil ist der Fall. Der Verfassungsschutz hat noch nie so viele Befugnisse gehabt wie heute. Was zu NSU-Zeiten noch verboten war, ist jetzt dem Geheimdienst erlaubt. Wir haben heute noch mehr Personal, noch mehr Geld. Wir haben ihn zusammen und vereint aus der Grauzone in die VIP-Lounge geholt. Wie sagte unser sehr geschätzter Ex-Verfassungsschutzchef Hans-Georg Maaßen so treffend, so unglaublich witzig:

„Wir sind ein attraktiver Arbeitgeber. Und ich kann sagen, in manchen Bereichen unseres Hauses kann man all das machen, was man schon immer machen wollte, aber man ist straflos.“


Quellen und Hinweise:

Warum die Revision im Fall des NSU-Helfers André E. gescheitert ist, spiegel.de vom 15.12.2021
Die Urteile im NSU-Prozess in München. Das Ende eines Scheinprozesses, NachDenkSeiten vom 11. Juli 2018

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