Russland als Aggressor im Ukraine-Konflikt? „Die politischen Fakten sprechen eine andere Sprache“

Russland als Aggressor im Ukraine-Konflikt? „Die politischen Fakten sprechen eine andere Sprache“

Russland als Aggressor im Ukraine-Konflikt? „Die politischen Fakten sprechen eine andere Sprache“

Ein Artikel von Marcus Klöckner

„Russland wird als ein Feind für den Frieden aufgebaut. Dabei reagiert Russland mit seiner Ukrainepolitik in Wirklichkeit auf die Expansionspolitik der NATO.“ Das sagt der Journalismusforscher Florian Zollmann im Interview mit den NachDenkSeiten. Zollmann, der sich viel mit politischer Propaganda in den Medien auseinandersetzt, sagt, Medien stellen bei der Einordnung der Spannungsverhältnisse zwischen Russland und der Ukraine „die Realität auf den Kopf“. „Die russische Seite, die eine fortschreitende Osterweiterung der NATO unter Missachtung von auf höchster politischer Ebene getroffenen Vereinbarungen wahrnimmt, wird in den Medien marginalisiert“, so Zollmann, der an der Newcastle University in England lehrt. Von Marcus Klöckner.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Herr Zollmann, derzeit konzentrieren sich Medien wieder auf Russland im Zusammenhang mit der Ukraine. Vor kurzem wurde berichtet, Russland habe 175.000 Soldaten an der Grenze zur Ukraine zusammengezogen. Was geschieht da gerade?

Vertreter führender NATO-Staaten sind empört, weil Russland angeblich Truppen an die Grenze zur Ukraine verlegt hat. Ein Blick auf die Fakten zeigt aber, dass Russland so handelt, wie jeder andere Staat auch handeln würde, der sich in einer ähnlichen geopolitischen Lage befindet.

Schon seit langem steht in der „Berichterstattung“ großer Medien außer Frage: Russland ist der Aggressor! Wie sieht Ihre Analyse aus?

Genau. Die Medienberichterstattung erweckt den Eindruck, bei Russland handele es sich um eine imperiale Macht und der Westen müsse sich und seine Alliierten vor dieser schützen.

Was hat diese Sicht mit der Realität zu tun?

Nichts. Die Realität wird auf den Kopf gestellt. Denn der historische Kontext wird in den Medien kaum angemessen beleuchtet. Die russische Seite, die eine fortschreitende Osterweiterung der NATO unter Missachtung von auf höchster politischer Ebene getroffenen Vereinbarungen wahrnimmt, wird in den Medien marginalisiert. Man stelle sich folgenden hypothetischen Sachverhalt vor: Russland hätte lateinamerikanische Staaten wie Guatemala, Nikaragua, Costa Rica, Panama und Honduras in sein internationales Militärbündnis Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (OVKS) aufgenommen und beanspruche, in diesen Ländern Atomwaffen zu installieren. Man stelle sich des Weiteren vor: Die OVKS startete eine Militärkooperation mit Mexiko und versuchte, das an den Süden der USA grenzende Land in die OVKS aufzunehmen. Wäre es in diesem Fall nicht zu erwarten, dass die USA Truppen an die Grenze von Mexiko verlegten? Und genau dieses Szenario spielt sich derzeit ab, allerdings an der Grenze zu Russland.

Wer nur die „Berichterstattung“ der Leitmedien verfolgt, dürfte wahrscheinlich im Hinblick auf Ihre Ausführungen irritiert sein.

In den Medien wird suggeriert, Russland sei der Aggressor. Der Spiegel schreibt etwa: „Wie Angst ist Gewalt für Putin ein legitimes Mittel, um politische Ziele zu erreichen. Ob er sie einsetzt, hängt davon ab, ob ihm noch andere Mittel zur Verfügung stehen. Aber wenn Alternativen schwinden, dann wächst im Kreml die Versuchung, militärisch zu handeln.“ (aus: Der Spiegel 49/2021, Seite 103)

Sie haben es angesprochen: Um den Konflikt einzuordnen, gilt zu verstehen, was es mit der „Osterweiterung“ auf sich hat.

Ein Blick in die Geschichte kann helfen. 1990 machte die Administration des US-Präsidenten George H. W. Bush dem damaligen Präsidenten der Sowjetunion, Michail Gorbatschow, eine kategorische Zusicherung: Sollte Gorbatschow zustimmen, dass ein wiedervereinigtes Deutschland der NATO angehöre, dann werde sich die NATO nicht weiter nach Osten erweitern und keine ehemaligen Warschauer Paktstaaten in das Bündnis aufnehmen. Freigegebene US-Regierungsdokumente, abrufbar über das National Security Archive, belegen, wie der damalige US-Außenminister James Baker (und auch der ehemalige deutsche Bundeskanzler Helmut Kohl) Gorbatschow versicherte, dass die NATO ihre Einflusssphäre nicht nach Osten ausbreiten würde.

Diese Zusage ist also klar und eindeutig?

Es gibt in den Medien Berichte, in denen die Bedeutung dieser Zusagen anders interpretiert wird.

Was heißt das?

So heißt es beispielsweise in einem Artikel vom Faktenfinder auf tagesschau.de vom 03. Dezember 2021, es sei bei Bakers Zusagen von 1990 lediglich um das Gebiet der ehemaligen DDR gegangen und nicht um eine NATO-Erweiterung, die weitere Warschauer-Pakt-Staaten miteinbeziehe. „Gemeint war jedoch das Gebiet der DDR – an eine NATO-Mitgliedschaft von Staaten des 1990 noch bestehenden Warschauer Paktes war damals nicht zu denken,“ so tagesschau.de.

Es wird in solchen Artikeln nahegelegt: Bei den Verhandlungen ging es damals lediglich um das DDR-Gebiet. Daher konnten Zusagen vom Westen an Russland, was eine NATO-Erweiterung auf staatliche Territorien außerhalb des ehemaligen DDR-Gebietes angeht, gar nicht gebrochen werden. Denn staatliche Territorien außerhalb des ehemaligen DDR-Gebietes waren ja nicht Teil der Verhandlungen.

Das klingt dubios. Wenn man sich in die Situation von Russland versetzt, liegt es doch auf der Hand, dass Russland, vermutlich, eine Zusage haben wollte, die über das Gebiet der DDR hinausgeht.

Es ging natürlich auch um die DDR, weil sich die Verhandlungen um die Wiedervereinigung drehten. Dennoch erscheint es schon auf den ersten Blick plausibel, dass es der sowjetischen Seite auch um weitreichendere Sicherheitsgarantien gehen musste. Und genau so sehen das auch Experten, die die Regierungsdokumente über die diplomatischen Gespräche zur deutschen Wiedervereinigung ausgewertet haben. In einem Briefing des National Security Archives schrieben Svetlana Savranskaya und Tom Blanton am 12. Dezember 2017: Die Dokumente zeigten, dass viele nationale Führer zwischen 1990 und 1991 eine NATO-Mitgliedschaft zentral- und osteuropäischer Länder ablehnten, dass Diskussionen über die NATO während der Verhandlungen zur deutschen Wiedervereinigung keinesfalls nur eng auf das Territorium der DDR begrenzt gewesen seien und dass nachfolgende sowjetische und russische Beschwerden darüber, über eine NATO-Erweiterung in die Irre geführt worden zu seien, sich in schriftlichen Protokollen von Gesprächen, die auf höchster Ebene geführt worden seien, begründeten.

Laut dieser Lesart der offiziellen Dokumente handelte es sich also um Zusagen, die der russischen Seite gemacht wurden. Und diese Zusagen wurden von der Regierung des US-Präsidenten Bill Clinton und allen republikanischen und demokratischen US-Regierungen, die Clinton folgten, im Prinzip gebrochen. Clinton leitete in den 1990er Jahren eine Politik der NATO-Erweiterung ein. Die ehemaligen Länder des Warschauer Paktes (Rumänien, Polen, Bulgarien, Ungarn, Slowakei, Tschechien und Albanien) wurden in den folgenden Jahren in die NATO absorbiert, zusammen mit den drei baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen.

Und jetzt die Ukraine?

So ist es. Der NATO geht es nun darum, auch die Ukraine in das Bündnis aufzunehmen oder sich zumindest diese Option offenzuhalten. Schon seit Jahren besteht eine militärische Zusammenarbeit zwischen der NATO und der Ukraine. Auch beansprucht die NATO für sich das Recht, Nuklearwaffen auf den Territorien neuer Mitgliedstaaten zu installieren. Russland wird damit von der NATO, einem feindlich gesinnten Militärbündnis, an seiner westlichen Flanke unter Druck gesetzt. Russlands Militärbewegungen an der Grenze zur Ukraine sind beunruhigend, müssen aber in diesem Kontext gesehen werden.

Bevor Sie weiter ausführen, vorab: Die Ukraine ist von geostrategischer Bedeutung. Sowohl für die USA bzw. die NATO, aber auch für Russland. Wo liegen auf den jeweiligen Seiten die Interessen?

Es geht allen Beteiligten darum, ihre geostrategischen Optionen zu verbessern. Die Ukraine befindet sich auf der Schwelle zwischen Europa und Asien (Eurasien). Wer die Ukraine kontrolliert, dem wird auch der wirtschaftliche Zugang zu Europa und Asien erleichtert. Außerdem spielen Bodenschätze, Gas und Zutritt zum Schwarzen Meer eine Rolle. In seinem Buch Die Einzige Weltmacht: Amerikas Strategie der Vorherrschaft bezeichnete Zbigniew Brzezinski, der ehemalige Sicherheitsberater des US-Präsidenten Jimmy Carter, die Ukraine als einen geopolitischen Dreh- und Angelpunkt auf dem eurasischen Schachbrett. Für Russland ist die Ukraine aber wohl von einer größeren Bedeutung als für die USA und die NATO.

Wie meinen Sie das?

Die USA sind bereits eine imperiale Weltmacht. Mit ihrem weitverzweigten Netz aus Militärbasen kontrollieren sie praktisch jeden Winkel auf der Erde. Die USA sind mit den wichtigsten EU-Staaten eng verflochten. Russland hat dagegen Schwierigkeiten, Zugang zum eurasischen Kontinent zu erhalten. So schrieb Brzezinski, dass ein Verlust der Ukraine Russlands geostrategische Lage drastisch beschneide. Dazu kommen historische und ethnische Faktoren, die für eine gewisse Nähe zwischen Russland und der Ukraine sprechen. Die Ukraine war bis zu ihrer Unabhängigkeit im Jahr 1991 Teil der ehemaligen Sowjetunion. Die Ukraine ist des Weiteren ein Anrainerstaat Russlands und beherbergt eine große ethnisch-russische Minderheit. Aber es gibt einen Sachverhalt, der noch wichtiger ist.

Welcher denn?

John J. Mearsheimer, einer der führenden US-Experten für internationale Beziehungen, schrieb in der Fachzeitschrift Foreign Affairs, die Ukraine diene als Pufferstaat mit einer enormen strategischen Bedeutung für Russland. Aus einer geostrategischen Sicht reagierten Großmächte immer empfindlich auf potenzielle Bedrohungen in der Nähe ihres Heimatterritoriums, schrieb Mearsheimer. So würden es die USA auch nicht akzeptieren, wenn ferngelegene Großmächte Militärkräfte in der westlichen Hemisphäre stationierten oder Nachbarstaaten wie Mexiko und Kanada in ihre Militärallianzen eingliederten. Das gehöre zum geopolitischen Einmaleins. Mearsheimer verwies außerdem auf einen wichtigen historischen Zusammenhang: Die Ukraine sei eine große Ebene aus flachem Land, die schon vom Napoleonischen Frankreich, vom Deutschen Kaiserreich und von Nazi-Deutschland überschritten worden sei, um Russland anzugreifen. Daher könne es kein russischer Staatsführer tolerieren, dass eine Militärallianz, die bis vor kurzem noch als der Erzfeind von Moskau angesehen werden konnte, in die Ukraine vordringe.

In den Medien wird der Eindruck erweckt, nur Russland habe Interessen und verfolge diese eiskalt. Ihre Analyse zeichnet ein anderes Bild.

Ja. Russland werden Machtkalkül und bellizistisches Verhalten vorgeworfen. Was die Situation in der Ukraine angeht, sprechen allerdings die politischen Fakten eine andere Sprache. Das eben dargelegte geopolitische Einmaleins scheint nicht in die Medien vorgedrungen zu sein. Russland wird als ein Feind für den Frieden aufgebaut. Dabei reagiert Russland mit seiner Ukrainepolitik in Wirklichkeit auf die Expansionspolitik der NATO.

In Ihrer Forschung setzen Sie sich auch mit Propaganda in den Medien auseinander. Sehen Sie in der Berichterstattung der Medien in Deutschland im Hinblick auf Russland den Einsatz von Propaganda?

Eindeutig. In den deutschen Medien werden russisches Verhalten und Fehlverhalten oftmals im Einklang mit politischen Interessen instrumentalisiert. Russische Handlungen werden schnell als Aggressionen abgetan, auch wenn sie rationalen realpolitischen Motiven folgen. Die gefährliche Erweiterung der NATO wird dagegen kaum mit einer ähnlichen Empörung in den Medien tituliert. Das ist den Interessen der NATO sowie den Hegemonieansprüchen der USA und des westlichen Staatenbundes dienlich.

Würden Sie diese Propaganda bitte näher beschreiben?

Diese Propaganda ist selektiv und blendet historische Basisfakten aus. Auch kann von einer Dämonisierungspropaganda gesprochen werden. Denn militärisch gesehen ist Russland den USA und der NATO nicht gewachsen. Nur was die gefährlichen Atomwaffenarsenale anbelangt, kann von einem Machtgleichgewicht gesprochen werden. Die USA operieren derzeit mit etwa 800 Militärbasen auf ausländischen Gebieten, 250.000 US-Truppen sind in etwa 160 Ländern stationiert. Russland operiert dagegen nur mit einer Handvoll Militärbasen außerhalb des Territoriums der ehemaligen Sowjetunion.

Die USA geben jährlich etwa zehnmal so viel Geld für Militär- und Rüstung aus wie Russland (für das Jahr 2022 haben die USA ein Rüstungsbudget von 752,9 Milliarden Dollar veranschlagt). Schaut man sich die NATO-Staaten ohne die USA an, so haben diese zusammengenommen einen dreimal so großen Verteidigungshaushalt wie Russland. Jede Kombination der NATO-Länder Deutschland, Frankreich und Großbritannien verzeichnet wesentlich höhere Verteidigungsausgaben als Russland. Für den Westen stellt Russland also keine Gefahr dar.

Trotzdem muss auch gesagt werden, dass es sich bei Russland um eine Oligarchie handelt. Es gibt innenpolitische Repressionen und außenpolitische Machtansprüche. Russland kann der Ukraine in der Tat Schaden zufügen. Die westliche Propaganda verdeckt jedoch die Tatsache, dass eine offensive Vorgehensweise Russlands in der Ukraine viel mit der offensiven Politik der NATO zu tun hat. Der Ukraine-Konflikt könnte diplomatisch gelöst werden, wenn die USA und mächtige NATO-Staaten wie Deutschland ihre historischen Versprechen einhalten würden.

Titelbild: danielo/shutterstock.com

Florian Zollmann ist Senior Lecturer in Journalism an der Newcastle University in Großbritannien. Kürzlich veröffentlichte er zum Thema Russland und westliche Propaganda den Text: ‚Manufacturing a New Cold War: The National Security State, “Psychological Warfare” and the “Russiagate” Deception‘, erschienen im Handbook of Global Media Ethics, herausgegeben von Stephen J. R. Ward bei Springer International Publishing, Seiten 985-1012.

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