„Wenn es darauf ankommt, haben die Wissenschaftler nicht mehr viel zu sagen“

„Wenn es darauf ankommt, haben die Wissenschaftler nicht mehr viel zu sagen“

„Wenn es darauf ankommt, haben die Wissenschaftler nicht mehr viel zu sagen“

Ein Artikel von Marcus Klöckner

„Sprechen Sie mal mit Doktoranden, auch in der Grundlagenwissenschaft, die wissen genau, von welchen Themen sie besser die Finger lassen“ – das sagt der Physiker Alexander Unzicker im Interview mit den NachDenkSeiten. Unzicker setzt sich in dem gerade erschienenen Buch „ Einsteins Albtraum – Amerikas Aufstieg und der Niedergang der Physik“ unter anderem mit der Instrumentalisierung der Wissenschaft auseinander. Im NachDenkSeiten-Interview erklärt er, was er mit „Einsteins Albtraum“ meint, spricht über die Atombombe und eine manchmal arrogante Wissenschaft. Von Marcus Klöckner.

Herr Unzicker, Sie sind Physiker und haben gerade ein Buch über „Einsteins Albtraum“, den Aufstieg Amerikas und den „Niedergang der Physik“ geschrieben. Was ist mit Einsteins Albtraum gemeint?

Die Grundlagenphysik ist seit langem in einem Zustand der Degeneration: Die Theorien sind zu Science Fiction mit Gleichungen geworden, die Experimente oft eine recht hirnlose Gigantomanie. Wissenschaft war früher, sagen wir vor hundert Jahren, die kompromisslose Wahrheitssuche Einzelner, heute ist sie oft ein bürokratisches Monstrum, das mehr Pfründe sichert als Erkenntnis bringt. Wenn man sich damit beschäftigt, wie Einstein und seine Zeitgenossen an die großen Fragen der Natur herangegangen waren, kann man sagen: Ja, das ist ein Albtraum.

Und wie kam es zu dieser Veränderung?

Eine Ursache und, wenn Sie so wollen, auch ein Alptraum ist, dass die Physik, basierend zum Teil auf Einsteins Erkenntnissen, die furchtbarsten Vernichtungswaffen entwickelt hat. Das hat ihm sicher auch schlaflose Nächte bereitet, gerade ihm, der sich mehr als andere Wissenschaftler zum Pazifismus bekannte.

Die Atombombe nimmt in Ihrer Betrachtung eine zentrale Stelle ein.

Sie hat mehr verändert, als man gemeinhin denkt. Die Atomphysik wurde in der Zeit von 1930 bis 1950 von einer „harmlosen“ Beschäftigung im Elfenbeinturm zu einem Machtwissen, das über die Weltherrschaft entschied. Es gab einen Bruch in der Forschungstradition, weg von dem gründlichen, naturphilosophischen Verstehen und hin zu anwendungsorientierter Forschung, die an Modellen herumwurstelt, die vor allem funktionieren sollen. Das sieht man bis heute.

Was hat sich denn durch die Forschung an der Atombombe verändert?

Sie müssen sich das vorstellen: Um 1930 arbeiteten zum Beispiel in Göttingen Forscher aus allen Ländern friedlich an der Atomphysik. Dann kamen die Nazis, parallel dazu einige gefährliche Entdeckungen… und 15 Jahre später arbeitet praktisch die ganze intellektuelle Elite in riesigen Geheimlaboratorien, um eine Bombe mit nie dagewesener Sprengkraft zu bauen. Davon hat sich die Physik nie wieder ganz erholt.

Kann man denn sagen, jemand war verantwortlich für die Atombombe?

Seit Entdeckung der Radioaktivität 1896 war die Entwicklung wohl vorgezeichnet. Von dort führt eigentlich ein direkter Weg zur Nukleartechnik. Für die verschiedenen Entdeckungen waren wohl Kreativität und Geschicklichkeit nötig, aber kein genialer Geistesblitz. Letztlich war es sorgfältiges und systematisches Ausprobieren. Insofern trägt auch niemand eine Schuld dafür, früher oder später wäre die Bombe gebaut worden. Und man will sich nicht ausmalen, was geschehen wäre, hätte sie Hitler zuerst in die Hände bekommen. Es gab Leute, die früh die Gefahren erkannt haben.

Es gab Wissenschaftler, die sich weigerten, bei der Entwicklung der Atombombe mitzuarbeiten. Sie erwähnen in Ihrem Buch, dass etwa russische Atomphysiker, die ihre Expertise nicht zur Verfügung stellen wollten, verhaftet und deportiert wurden.

Pjotr Kapitza, ein bekannter Physiker, der viel später den Nobelpreis erhalten sollte, kam noch mit sieben Jahren Hausarrest davon. So eine Situation in einem Regime wie unter Stalin oder Hitler muss man sich konkret vorstellen, wenn man beispielsweise Werner Heisenberg beurteilen will, der als junger Physiker die Quantenmechanik mitbegründet hatte, aber nach 1933 in Deutschland blieb und am Uranprojekt mitarbeitete.

Wie sehen Sie im Allgemeinen das Spannungsverhältnis zwischen Wissenschaft und politischer Macht?

Wenn es darauf ankommt, haben die Wissenschaftler nicht mehr viel zu sagen. In Los Alamos waren sie zum Beispiel mit deutlicher Mehrheit gegen einen Abwurf über bewohntem Gebiet in Japan, aber die Waffe war den Militärs nicht mehr aus der Hand zu nehmen. Umgekehrt sitzt die Wissenschaft, über große Zeiträume betrachtet, am längeren Hebel. Denn die von ihr generierte Technologie bestimmt die Lebensbedingungen der Zivilisation viel mehr als sogar Kriege und manche Schurken, die die Welt als Staatsoberhäupter erlebt hat. Auf lange Sicht haben die Gesellschaften einen Evolutionsvorteil, in denen Wissenschaft gedeihen kann.

Immer wieder ist zu hören, dass Wissenschaft „frei“ sei. In der Konsequenz wird Wissenschaft als eine Art Sphäre betrachtet, die „frei“, also unabhängig von äußeren Einflüssen und Interessen ist. Wie sehen Sie das?

Im Idealfall, ja! In der Praxis leidet die Wissenschaft, sobald ihre ergebnisoffene, vielschichtige und evidenzbasierte Arbeitsweise von politischem Schwarzweißdenken okkupiert wird, das ist offensichtlich. Unterschätzt wird aber, wie sehr die Freiheit in der Wissenschaft von ihr selbst bedroht ist. Damit meine ich Bürokratisierung, große Institutionen, Dogmen in vielen Fachgebieten, die Effekte des Gruppendenkens sind enorm. Sprechen Sie mal mit Doktoranden, auch in der Grundlagenwissenschaft, die wissen genau, von welchen Themen sie besser die Finger lassen. Das hängt auch mit der Art und Weise zusammen, wie Wissenschaft seit 70 Jahren betrieben wird – mit viel Geld und großen Institutionen. Aber wie Karl Popper sagte: Big Science may destroy great science.

Was hat das nun mit Amerika und Europa zu tun, wie Sie im Untertitel suggerieren?

Es gab große Unterschiede in der Mentalität und in der Denkkultur. In Europa ging man naturphilosophisch an die Physik heran, man wollte etwas verstehen, die Erfindungen ergaben sich als Folge. In Amerika stand die Anwendung ganz im Vordergrund, es sollte funktionieren. Heisenberg wundert sich zum Beispiel in seiner Autobiographie darüber, dass die konzeptionellen Probleme der Quantenmechanik, worüber man sich in Europa die Köpfe heiß diskutierte, in Amerika einfach niemanden interessierten. Man entwickelte diese sogenannten Standardmodelle mit vielen anpassbaren Parametern, und gut war es. Keine Fragen. Warum beschenkt uns die Natur mit irgendwelchen willkürlichen Zahlen? Vielleicht wiederhole ich mich: Da hätte sich Einstein an den Kopf gefasst.

Stehen Sie mit Ihrer Kritik an der modernen Physik allein?

Ich glaube nicht. Viele Wissenschaftler spüren, dass da etwas falsch läuft. Sabine Hossenfelder schreibt zum Beispiel, dass sich die Physiker heute mehr mit mathematischen Phantasien beschäftigen als mit der Realität und kritisiert ebenfalls neue Teilchenbeschleuniger, die nur um ihrer selbst willen gebaut werden. Aber ich denke, diese Entwicklung hat Ursachen, die noch weiter zurückreichen. Deswegen war es mir wichtig, die historische Entwicklung zu beleuchten. Und da springen die verschiedenen Traditionen in Europa und Amerika ins Auge.

Was sehen Sie positiv an den USA, was negativ?

Machen wir uns nichts vor: Im 19. Jahrhundert war es eine Auswahl von mutigen und tatkräftigen Leuten, die in die USA ausgewandert sind. Das begründete letztlich ihren Aufstieg zur Weltmacht. Sie waren einmalig, was Kooperation und Organisation betraf, und wie Einstein es ausdrückte: freundlich, hilfsbereit und – neidlos. Da könnten sich die Europäer etwas abschneiden. Trotzdem: Reflexionen über elementare Naturgesetze, dieses manchmal grüblerlische Nachdenken über die letzten Ursachen, war nicht so ihr Ding. Dennoch galten die Bastler der Bombe – ich überzeichne jetzt etwas – wie Compton, Lawrence und Oppenheimer nach dem Krieg plötzlich als die großen Physiker. Auch der sympathische Richard Feynman entspringt dieser Tradition. Man muss aber leider sagen: Hinsichtlich elementarer Fragen – beispielsweise die Ursache der Gravitation, wie sie von Ernst Mach thematisiert wurde – waren sie ziemlich ignorant, um nicht zu sagen arrogant.

Und im Hinblick auf Europa?

Die Art und Weise, wie in Europa früher Physik getrieben wurde, ist letztlich mit Einstein, Schrödinger und Dirac ausgestorben. Was die Forschungstradition betrifft, wurde Europa rekolonialisiert, eigentlich die ganze Welt, die ja von der westlichen, eigentlich amerikanischen, Zivilisation dominiert ist. Ich spreche hier von Denkweisen.

Was bedeutet die Entwicklung, die Sie beschreiben und analysieren, für die Zukunft der Physik, aber auch für die Zukunft der Zivilisation?

Wir erleben hier, wie sehr oft in der Geschichte, eine Parallele zwischen wissenschaftlicher und politisch-militärischer Vormachtstellung. Aber ich glaube, jeder kann heute sehen, dass das Imperium USA sich im Niedergang befindet: wirtschaftlich, moralisch, aber auch wissenschaftlich. Ich sehe das als eine Langzeitfolge einer pragmatischen, jedoch zu kurzfristigen Denkweise. Wie sich die Zivilisation weiterentwickelt, spielt sich also auch in unseren Köpfen ab.

Lesetipp: Alexander Unzicker: Einsteins Albtraum – Amerikas Aufstieg und der Niedergang der Physik. Westend. 17.01.22. 240 Seiten. 22 Euro.

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