Ukraine-Krieg – Was ist eigentlich das Ziel des Westens?

Ukraine-Krieg – Was ist eigentlich das Ziel des Westens?

Ukraine-Krieg – Was ist eigentlich das Ziel des Westens?

Jens Berger
Ein Artikel von: Jens Berger

Der Westen liefert Waffen, reißt die letzten diplomatischen Brücken ein und gibt sich dabei ungemein solidarisch mit dem Volk der Ukraine. Die Solidarität der Menschen wird sicher gut gemeint sein. Auch mir tränt das Herz. Doch wer das Leid der Menschen minimieren will, sollte nicht auf Eskalation, sondern auf Deeskalation setzen. Ob wir es wollen oder nicht, dieser Krieg ist nur am Verhandlungstisch zu beenden und wer ihn in die Länge zieht, sorgt letztlich nur für noch mehr Leid – auch und vor allem in der Ukraine. Der geostrategische Konflikt zwischen dem Westen und Russland wird auf dem Rücken der Ukrainer ausgetragen und ein Ende ist nicht nur nicht in Sicht, sondern wahrscheinlich vom Westen auch gar nicht gewollt. Die Ukraine droht zu einem Schlachtfeld der Supermächte, einem neuen Afghanistan zu werden. Das ist auch für die Ukrainer keine wünschenswerte Perspektive. Von Jens Berger.

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Wenn man sich in diesen Tagen die Einschätzungen von Sicherheits- und Militärexperten zum Krieg in der Ukraine anhört, so ist die Mehrheit über die strategischen Fehler der russischen Militärführung überrascht. Fragt man sie jedoch, wie sie die Chancen der Ukraine auf einen militärischen Sieg einschätzen, so lautet die Antwort einhellig: „Null“. Letztlich geht es nur darum, wie lange dieser Krieg dauert und wie hoch die Verluste sind, die man sich gegenseitig beibringt. Konsens ist dabei auch, dass die schlimmen Folgen für die ukrainische Zivilbevölkerung umso größer sein werden, je länger der Krieg dauert. Wenn man nun Eins und Eins zusammenzählt, kann man nur zu dem Schluss kommen, dass jede Verlängerung des Krieges das Leid der Zivilbevölkerung vergrößert. Waffenlieferungen mindern nicht das Leiden der Ukrainer. Vielmehr ist das genaue Gegenteil der Fall.

Das ist den allermeisten sicher wohlmeinenden Unterstützern solcher Waffenlieferungen im Volk sicher nicht so bewusst. Bei den politischen Verantwortlichen sieht es jedoch anders aus. Über Pläne der US-Regierung, die Ukraine zu einem neuen Afghanistan für Russland zu machen, berichtete die Washington Post bereits im letzten Dezember. Die Rede ist davon, Russland in einen Guerilla-Krieg auf ukrainischem Boden zu ziehen, den der Westen in einer „rechtlichen Grauzone“ ohne direkte Beteiligung durch Waffenlieferungen und Unterstützung ukrainischer Aufständischer führt. Liest man sich die Meldungen über Waffenlieferungen durch, die auch von Deutschland in den letzten Tagen genehmigt wurden, muss man daraus schlussfolgern, dass unsere Regierung in genau diese Strategie der USA eingebunden ist. Es ging nie darum, einen Krieg in der Ukraine zu verhindern. Man wollte Russland eine Falle stellen und der russische Bär ist in diese Falle getappt.

Was nun? Ohne noch größeren Gesichtsverlust kann Russland den völkerrechtswidrigen Angriffskrieg nicht rückgängig machen und ohne Sicherheitsgarantien durch die NATO wird man dies ohnehin nicht tun. Sicherheitsgarantien können aber nur am Verhandlungstisch gegeben werden. Diplomatie und Verhandlungen sind also alternativlos, will man das Blutvergießen beenden. Das mag dem Westen schmecken oder nicht. Und ja, es ist nicht gerade befriedigend für das Gerechtigkeitsempfinden, wenn am Ende derjenige, der das Völkerrecht bricht, seine Ziele durchsetzen kann. Aber ist das so neu? Haben Serbien, Afghanistan, Libyen, Syrien oder der Irak am Ende ihre Interessen gegen die Interessen des völkerrechtswidrig angreifenden Westens durchsetzen können? Das macht den Angriffskrieg Russlands um kein Jota besser und soll nichts rechtfertigen oder beschönigen – aber man soll bitte auch nicht so tun, als sei dies ein singulärer Fall und der Wertewesten würde sich auf der anderen Seite stets an das Völkerrecht halten.

So „ungerecht“ man das finden mag, eine Rückkehr in das Europa von vor dem Ukrainekrieg wird es nicht geben. Rein rational betrachtet, hat die Ukraine die Wahl zwischen einem kleineren Übel und einem endlosen Krieg als Schlachtfeld der Supermächte. Afghanistan lässt grüßen. Wäre es für die Menschen in der Ukraine so schlimm, wenn man sich beispielsweise darauf einigen könnte, dass die Ukraine auf die Krim und die strittigen Gebiete im Donbass verzichtet und sich dazu verpflichtet, neutral und demilitarisiert zu sein? Dies wäre ein möglicher Kompromiss, der Grundlage für eine Einigung zwischen West und Ost sein könnte. Die Alternative wäre ein dauerhafter Bürgerkrieg in der Ukraine – ein zweites Afghanistan, in dem nicht nur tausende junge Russen, sondern auch tausende Ukrainer bei einem sinnlosen Krieg zwischen einer Besatzungsmacht und Aufständischen ihr Leben lassen.

An jedem weiteren Tag in diesem Krieg sterben Menschen. Existenzen werden vernichtet, die Zukunft zerstört. Wer sich – wie wir alle – ein möglichst schnelles Ende des Mordens wünscht, der sollte keine Waffen in das Kriegsgebiet liefern, sondern die Konfliktparteien an einen Tisch bringen. Aber wer soll das tun?

Machen wir uns nichts vor. Weder die USA noch die NATO haben ein Interesse daran. Für die USA kann es ja gar nichts Besseres geben, als dass Russland durch die Sanktionen verarmt und durch den Krieg in der Ukraine ausgeblutet wird. Vielleicht steht am Ende ja tatsächlich der schon lange angestrebte Regime Change in Moskau? Und es behaupte nun nur niemand, der USA oder ihren westlichen Partnern ginge es auch nur im Ansatz um die „armen Ukrainer“. Die sind nur bedauernswerte Bauern in einem zynischen geopolitischen Schachspiel.

Die einzige Chance für einen nicht vollkommen katastrophalen Ausgang des Krieges wäre es, wenn „der Westen“ erkennen würde, dass er nicht ein homogener Block ist, sondern dass es innerhalb des Westens unterschiedliche Interessen geben müsste. Deutschland und Frankreich können kein Interesse an einem „neuen Afghanistan“ vor der eigenen Haustür haben und sollten auch an einer neuen Hochrüstungsspirale und einem „Eisernen Vorhang“, der Mittel- und Osteuropa dauerhaft trennt, kein Interesse haben. Um dies zu verhindern, müssten sie sich aber von den USA und deren Vasallen in Osteuropa emanzipieren und – so schwer das auch in dieser Woche vorstellbar ist – auf Russland zugehen und als ehrlicher Makler einen dauerhaften Frieden verhandeln. Das ist jedoch ferner denn je. Wenn es jemals einen Hoffnungsschimmer auf eine Überwindung der US-Dominanz in Europa und dem Denken innerhalb der NATO-Logik gab, so ist er mit dem Angriffskrieg Russlands verglommen. Die NATO ist mächtiger denn je und auch Deutschland ist spätestens seit Olaf Scholz’ Kriegsrede am vergangenen Sonntag tiefer im Strudel transatlantischer Eskalationspolitik versunken denn je. Das heißt auch: Das Leiden der Ukrainer wird fortdauern – nicht trotz, sondern wegen unserer falschen „Solidarität“.

Titelbild: Drop of Light/shutterstock.com

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