X ist ein Verbrecher, Y ist ein Verbrecher – führt diese Etikettierung zu etwas?

X ist ein Verbrecher, Y ist ein Verbrecher – führt diese Etikettierung zu etwas?

X ist ein Verbrecher, Y ist ein Verbrecher – führt diese Etikettierung zu etwas?

Albrecht Müller
Ein Artikel von: Albrecht Müller

Als Joe Biden seinen Kollegen Präsident Putin am Telefon einen Kriegsverbrecher nannte, habe ich in den Hinweise des Tages (nachdenkseiten.de) von gestern auf diesen Vorgang hingewiesen und Zweifel am Sinn solcher Kennzeichnungen geäußert. Nach meiner Einschätzung sind solche Etikettierungen, wie sie Kollege Jens Berger auch in seinem heutigen Beitrag Ein Held unserer Zeit (nachdenkseiten.de) benutzt, in der jetzigen Situation zum einen weitere Schritte in die unsinnige Personalisierung der kriegerischen Auseinandersetzungen und zum anderen zugleich Elemente der Eskalation. Diese Eskalation erleben wir jeden Tag – im Krieg in der Ukraine genauso wie in unseren Medien. Wir müssen aber von dieser Eskalation wegkommen. Wir müssen geistig und militärisch abrüsten. Vor allem müssen wir die Möglichkeit erhalten, dass die Verantwortlichen im Notfall vor Beginn eines Atomkrieges noch miteinander telefonieren und sprechen können. Albrecht Müller.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Vernünftige Menschen, Menschen mit Weitblick und Umsicht wissen oder erahnen zumindest, dass man mit dem Gegenüber nur schwer vernünftig und konstruktiv sprechen kann, wenn man ihn zuvor zum Verbrecher, zum Kriegsverbrecher und oder gar zum halbverrückten Alleinverantwortlichen eines schlimmen Krieges gestempelt hat. Wenn dieser Mensch noch dazu das Gefühl hat, in die Ecke getrieben worden zu sein und in der Grundstimmung „Bis hierher und nicht weiter“ und zusammen mit anderen die Entscheidung zum Krieg getroffen hat, dann wird es noch schwieriger sein, den Weg zur geistigen Abrüstung und zur Deeskalation zu finden und zu gehen.

Was wir zurzeit erleben, ist wirklich schlimm und es ist in gewisser Weise auch einmalig für die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg. Diese überblicke ich auch dank eigenen Erlebens und ich bitte Sie, liebe Leserinnen und Leser der NachDenkSeiten, zu entschuldigen, dass ich auf diese Erinnerungen zurückgreife:

Nach meiner Erinnerung gab es in der langen Zeit von 1949-1990 als auch in der Zeit des harten Kalten Krieges der Fünfzigerjahre und auch in Zeiten der Nachrüstungsdebatte keine so personalisierte und mit Verbalinjurien gespickte öffentliche Auseinandersetzung zwischen den führenden Personen in West und Ost wie heute. In der Zeit der beginnenden Entspannungspolitik, also nach dem Mauerbau 1961, und dann vor allem nach Beginn der Entspannungspolitik im Dezember 1966 und mit Beginn der sozialliberalen Koalition im Oktober 1969 legten die handelnden Personen Wert darauf, Vertrauen aufzubauen. Man hat versucht und hat dies auch ausdrücklich so formuliert, sich in die Position des Gegenübers oder Gegners zu versetzen.

Gemessen daran haben wir es heute, so meine Sicht, mit einer absoluten Verblödung zu tun, mit Rücksichtslosigkeit, mit mangelnder Umsicht und der nötigen Vorsicht sowieso.

P.S.: Dass wir in der NDS-Redaktion auch mal verschiedener Meinung sein können, sollte Sie nicht irritieren. Das kommt vor und ist kein Unglück.

Anhang

Joe Biden und Vladimir Putin im Wortduell

das Grauen in der Ukraine, das bereits drei Millionen Menschen in die Flucht trieb, führt zum direkten Duell zwischen Wladimir Putin und Joe Biden. Alle Zurückhaltung ist weg. Erstmals sagt der US-Präsident öffentlich, der Amtskollege aus dem Kreml sei ein „Kriegsverbrecher“. Diese Einschätzung bewegt sich zwar auf der Linie des Internationalen Gerichtshofs in Den Haag, der einen sofortigen Stopp des Angriffskriegs verfügte – kommt aber in Moskau als fast willkommene Provokation an.

Bidens Verbrecher-Verdikt folgte unmittelbar auf eine bewegende Videorede von Wolodimir Selenski vor dem US-Kongress. Der ukrainische Präsident ließ dabei apokalyptische Bilder mit Toten, weinenden Kindern und zerstörten Städten einspielen, und verkündete: Russland habe den Himmel über der Ukraine für Tausende Menschen in eine Quelle des Todes verwandelt. Biden kommt dem Wunsch nach Waffen mit einem weiteren 800 Millionen Dollar schweren Hilfspaket nach. Geliefert werden Flugabwehrraketen, Drohnen und Tausende Panzerabwehrwaffen. Und versprochen sind Flugabwehrsysteme mit noch größerer Reichweite.

Quelle: Handelsblatt Morning Briefing

Anmerkung Albrecht Müller: Soweit sind wir schon, in verbalen Auseinandersetzungen jener Personen, die im Notfall den Krieg auch per Telefon vermeiden sollten.

Titelbild: FOTOKITA / Shutterstock