Dieser Krieg läuft anders als erwartet.

Jürgen Todenhöfer
Ein Artikel von Jürgen Todenhöfer

Dies ist ein Beitrag des früheren CDU-Bundestagsabgeordneten Jürgen Todenhöfer. Direkt aus Kiew. Nicht jede Frau und jeder Mann wird alle Facetten seiner Sicht der Dinge teilen. Die genannten Details über „Kriegserfolge“ und Kriegsschäden zum Beispiel können wir nicht überprüfen. Jedenfalls ist es aber ein interessanter Diskussionsbeitrag. Albrecht Müller.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Die russische Armee kommt in der Ukraine seit Tagen nicht mehr richtig voran. Die Hauptgründe für die Misserfolge Russlands sind:

  • ihre überhebliche Strategie; sie haben die Ukraine militärisch nicht ernst genommen;
  • ihr veraltetes Material und
  • die niedrige Motivation der Truppe: “Warum führen wir eigentlich diesen Krieg? Warum funktioniert nichts?”

Die Gründe für die Erfolge der Ukraine sind:

  • ihre hohe Motivation. Sie kämpfen für ihr Leben, für ihre Freiheit, getragen vom Beifall großer Teile der Weltöffentlichkeit.
  • Sie haben teilweise hoch überlegene Waffen, geliefert von ihren Verbündeten im Westen.
  • Und sie sind erfolgreich. Sie zerstörten über 500 russische Panzer, holten mehr als 100 Flugzeuge herunter. Über 15.000 russische Soldaten wurden nach Angaben des ukrainischen Verteidigungsministeriums ausgeschaltet. Die eigenen Verluste liegen angeblich bei einem Zehntel dessen (Stand 24. März). All das ist ziemlich überraschend.

Moskau hat sich verpokert. Auch wer, wie ich, Russland schätzt und respektiert, muss sich das eingestehen. Alles andere wäre doppelte Moral. Die von Moskau genannten Kriegsgründe reichen für diplomatische oder wirtschaftliche Aktionen, aber nicht für einen Krieg, nicht für das Erschlagen von Menschen.

Ja, die Nato hat Russland schamlos betrogen, ja, der Westen hat das Land systematisch unfair behandelt. Aber das ist nach keinem Gesetz der Welt ein Kriegsgrund. Russland hätte “zurückrempeln” können – jeder kalte Krieg wäre besser gewesen als dieser groteske heiße Krieg.

Dass die USA und ihre Verbündeten allein seit 9/11 tausend Mal mehr Morde begangen haben als Russland jetzt in der Ukraine, interessiert im Westen nur wenige. Heuchelei war schon immer eine Spezialität amerikanischer Außenpolitik. Allein im Irak, in Afghanistan und Pakistan starben 3,9 Millionen Menschen durch Amerikas Kriege. Aber all die völkerrechtswidrigen Kriege der USA machen den Ukrainekrieg Russlands kein bisschen besser.

In der Ukraine sind laut UNO bisher 977 Zivilpersonen ums Leben gekommen. (Stand: 22. März) Darunter 121 Kinder. Selbst wenn man von einer hohen Dunkelziffer ausgeht und es inzwischen dreimal soviel zivile Tote gäbe, zeigt sich, dass die Behauptung des Westens, Russland wolle das ganze ukrainische Volk “auslöschen”, bewusst falsch ist. Russland will sich die Ukraine einverleiben. Das ist ebenfalls inakzeptabel, aber etwas ganz anderes. Wenn der Bürgermeister von Kiew, Vitali Klitschko, in einer Videobotschaft sagt:

“Das ist ein Genozid. Die vernichten die Zivilbevölkerung, die vernichten unser Land“, „Wir können die Leichen nicht zählen“, dann sagt er glatt und bewusst die Unwahrheit.

Zumindest zurzeit, nach 4 Wochen Krieg. Dieser Krieg kann noch viele böse Überraschungen bringen, die ich ausdrücklich nicht ausschließe. Morgen kann alles anders aussehen.

Deshalb noch einmal: Es gibt für diesen Krieg keine Entschuldigung. Er ist völkerrechtswidrig. Jeder einzelne getötete Zivilist ist eine Tragödie. Egal ob 900 oder 900.000. Dieser Krieg muss gestoppt werden. Ein sofortiger Waffenstillstand ist das Mindeste.

Aber auch in diesen Stunden des Zorns müssen wir in die Zukunft blicken. Zumindest wenn wir wirklich nachhaltigen Frieden wollen. Dazu brauchen wir Russland. Ohne Russland wird es nie dauerhaften Frieden in Europa geben.

Es ist daher jetzt erst recht im vitalen Interesse aller Europäer, eine gerechte Friedensordnung zu finden, in der Russland seine Nachbarn respektiert, aber auch die USA Russland respektieren. Den Ukrainekrieg Russlands braucht niemand, Russland brauchen wir alle. Rechtsstaatlich und demokratisch.

Langfristig gehört nicht nur die Ukraine, sondern auch Russland in die EU und in die Nato. Diese langfristige Vision wird realisiert werden oder Europa wird zerfallen.

Ich plädiere daher für eine baldige europäische Friedenskonferenz, wie jene KSZE, die in den 70er Jahren schon einmal den Ost-West-Konflikt entschärfte. Auch Amerika muss hier teilnehmen. Wir sollten endlich mehr für den Frieden tun als für den Krieg. Das Grundgesetz fordert von unseren Politikern, dem Frieden zu dienen und nicht dem Krieg.

Nachtrag Albrecht Müller zur Anmerkung über die KSZE, der frühere CDU-Bundestagsabgeordnete möge mir das nachsehen: die KSZE, die Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, fand 1975 statt. Das war 6 Jahre nach Willy Brandts Regierungserklärung mit dem Kernsatz „Wir wollen ein Volk der guten Nachbarn sein“ und 5 Jahre nach dem Abschluss des Moskauer Vertrages zwischen der Sowjetunion und der Bundesrepublik Deutschland am 12. August 1970. Die Entschärfung des Ost-West-Konflikts begann nicht mit der KSZE, sondern mit der 1966 begonnenen und von der CDU/CSU bekämpften Ost- und Vertragspolitik. Ich weiß, das gehört jetzt nicht zum Thema Krieg in der Ukraine. Aber die historische Wahrheit über den früheren Ost-West-Konflikt und den Beginn der Entspannungspolitik ist auch für die Beratung des heutigen Konfliktes einigermaßen von Bedeutung.

Das möchte ich auch zu Ehren von Egon Bahr anmerken, der in diesen Tagen seinen 100. Geburtstag gehabt hätte. Auf dem wiedergegebenen Foto ist Egon Bahr stehend rechts hinter Willy Brandt und dem sowjetischen Ministerpräsidenten anlässlich der Unterzeichnung des Moskauer Vertrages.

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