Corona geht (nicht), der Krieg kommt … und bleibt – Kriegsprotokoll über viele Kriegsfronten, Teil IV

Corona geht (nicht), der Krieg kommt … und bleibt – Kriegsprotokoll über viele Kriegsfronten, Teil IV

Corona geht (nicht), der Krieg kommt … und bleibt – Kriegsprotokoll über viele Kriegsfronten, Teil IV

Wolf Wetzel
Ein Artikel von Wolf Wetzel

In diesem Tagebuch geht es nicht darum, möglichst alles zu dokumentieren. In Kriegen ist das große Drehbuch immer gleich: Wenn man die „gute“ und die „böse“ Seite markiert hat, dann sieht man immer dieselbe Rollenverteilung: Auf der Seite der „Bösen“ stehen Männer in Glanz und Pose, auf der Seite der „Guten“ Menschen, die alles verloren haben. Aalglatte, reglose Gesichter auf Seiten der „Bösen“, auf Seiten der „Guten“ schaut man in viele traurige, niedergeschlagene Gesichter. Auf der Seite der „Bösen“ kalt Planende, die viel Raum einnehmen, auf Seiten der „Guten“ hilflose und schutzlose Menschen, möglichst eng beieinander. Für die „Bösen“ sprechen emotionslose Menschen und für die „Guten“ dürfen Menschen etwas sagen, die man ansonsten gar nicht hören würde. In diesem Tagebuch geht es also vielmehr darum, auf die ‚Kleinigkeiten‘, Besonderheiten zu achten, die weit über den Tag hinaus von Bedeutung sind, also aus dem Kriegsnebel hervorscheinen. Von Wolf Wetzel.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

  • Teil I dieses Kriegsprotokolls (Tag 1-7) findet sich hier
  • Teil II dieses Kriegsprotokolls (Tag 8-16) findet sich hier
  • Teil III dieses Kriegsprotokolls (Tag 17-29) findet sich hier

25.3.2022 | Tag 30

Joe Lauria wertete für Consortiumnews „geleakte“ Informationen aus dem US-Verteidigungsministerium (Pentagon) aus, die sich mit den Einschätzungen zum Ukraine-Krieg beschäftigen. Gehen wir von der Echtheit dieser geleakten Informationen aus, dann kann man von einem gewollten „Leak“ sprechen. Das wäre nicht erstaunlich, denn es gibt nicht nur konkurrierende Blöcke in Ost und West, sondern auch innerhalb des US-Staatsapparats. In diesem Fall geht es um die Sicht des Pentagons (Verteidigungsministerium) und dem Außenministerium. Liest man die geleakten Aussagen in diesem (internen) Spannungsfeld, will man dem medial-gesteuerten Narrativ entgegenarbeiten, das dabei ist, sich zu verselbstständigen.

Im Pentagon hat man die berechtigte Sorge, dass das Narrativ vom irren, unberechenbaren Putin geradezu danach schreit, einen 3. Weltkrieg zu beginnen, indem die NATO direkt militärisch eingreift. Dazu dienen die ständigen diffus im Raum gehaltenen Vorwürfe, Russland werde chemische Waffen einsetzen oder führe einen „Vernichtungskrieg“. Im Pentagon weiß man, dass man mit beiden Narrativen Angriffskriege begründet hatte: In der Ex-Republik Jugoslawien (1999), als man Serbien in 70 Tagen in Schutt und Asche legte, um die „ethnische Säuberung“ bis hin zu einem „zweiten Auschwitz“ zu verhindern. Und mit dem Vorwurf, der Irak würde chemische Waffenvernichtungswaffen einsetzen, begründete man den Angriffskrieg (2003).

26.3.2022 | Tag 31

Der israelische Journalist und executive director of „972 – Advancement of Citizen Journalism“, Haggai Matar, hat einen interessanten Artikel geschrieben, mit der Überschrift: „From Israel to Russia, occupiers are remaking the world order“. Denn man fragt sich natürlich, warum die israelische Regierung mit Blick auf den russischen Einmarsch in der Ukraine so auffallend zurückhaltend reagiert. Sind dort „Putinversteher“ am Werk? Warum unterstützen sie nicht die Sanktionspolitik? Haggai Matar hat dafür eine einleuchtende Erklärung: Wenn man die Besetzung fremder Territorien, die gewaltsame Verschiebung von Grenzen umfassend thematisieren würde, müsste man zwingend auch die israelische Besatzungspolitik zur Sprache bringen. Das will man weder in Israel noch im Westen, die Besatzungspolitik und Angriffskriege für selbstverständlich halten und dauerhaft beweisen, dass das internationale Recht für sie nicht gilt. Sie bestimmen die Weltordnung und degradieren das Völkerrecht zum Wackelhund. Am Ende seines Beitrages zitiert er den Ex-Premier Netanyahu:

They [the world] will become more like us than we will become like them.”

The great tragedy is that he was right.

27.3.2022 | Tag 32

Die ARD-Moderatorin Anne Will hatte in ihrer Talkshow nur einen Gast: Onkel Scholz, den deutschen SPD-Bundeskanzler. Es war ein einziges Torwandschießen, wobei die Torwand eine einzige Aussparung darstellte. Anne Will legte den Ball auf den Punkt und Onkel Scholz machte das Tor. Bemerkenswert war in dieser absolut ausgewogenen Sendung zweierlei: Anne Will hakte süffisant nur dann nach, wenn es um den „Nachweis“ einer SPD-Appeasementpolitik ging. Laut Anne Will habe man zulange Putin geglaubt, sich zu lange in die Irre führen lassen, habe zu lange die Strategie „Wandel durch Handel“ betrieben. Dieses Bild vom gutgläubigen Deutschland, das die Zeichen der Zeit nicht begriffen habe, durfte nicht durch eigenes Wissen gestört werden. Denn all das, was in den letzten 20 Jahren an Ostpolitik betrieben wurde, ist alles anderes als naiv und blauäugig gewesen. Man ist mit der NATO Zug um Zug in Richtung Russland vormarschiert, hat die NATO-Grenzen systematisch verschoben und gleichzeitig mit (Gas-)Geschäften gehofft, ein Beruhigungsmittel geschaffen zu haben, mit dem sich die russische Elite zudröhnen kann. In den anderthalb Stunden war also kein einziges Wort über die Osterweiterung der NATO geredet worden, über die gebrochenen Zusagen im Rahmen der 2-plus-4-Verhandlungen. Das hat nichts mit Journalismus zu tun, schon gar nicht, wenn man den Auftrag der „öffentlich-rechtlichen Anstalten“ in Erinnerung ruft.

Ein so mätressenhafter Journalismus verdient eine Pointe: Onkel Scholz erklärt uns allen zum Schluss, dass er eine leibhaftige Erscheinung hat: „Die Rückkehr des Imperialismus“.

28.3.2022 | Tag 33

Wenn man die Bilder der letzten Wochen Revue passieren lässt, dann sind es im Wesentlichen zivile Einrichtungen, die Ziel russischer Angriffe sind. Blättert man in Gedanken vier Wochen zurück, dann wurden ein Flugplatz und ein Tankdepot als militärische Ziele getroffen. Ansonsten nur Wohnhäuser, Schulen, Krankenhauseinrichtungen, Brücken und ganze Stadtteile. Die hoch gerüstete ukrainische Armee, die gewaltig ausgebaute militärische Infrastruktur ist den Bildern folgend gar nicht das Ziel russischer Angriffe. Dass dieser Bilder-Krieg geradezu dazu aufruft, einen „Völkermord“ militärisch zu verhindern, hat selbst das amerikanische Verteidigungsministerium (Pentagon) auf den Plan gerufen. Eine in die Öffentlichkeit lancierte Analyse der Defense Intelligence Agency (DIA) des Pentagon kommt zu dem Schluss: „Das Zentrum von Kiew wurde bisher kaum berührt. Und nahezu alle Langstreckenangriffe hatten militärische Ziele.“

Das ändert nichts an dem Leid all der Menschen, die diesem Krieg ausgesetzt sind. Es zeigt aber, dass die Bild-Regie selbst Teil des Krieges ist, in der die (Un-)Sichtbarmachung der Opfer des Krieges dem Erlangen von Kriegszielen untergeordnet ist. Exakt die umgekehrte Bild-Regie war im Krieg gegen die ehemalige Bundesrepublik Jugoslawien 1999 am Werk: Man sah nur grünlich schimmernde Fadenkreuze und getroffene „militärische Ziele“ (aus großer Distanz), die visualisieren sollten, dass es sich um einen „chirurgischen“ Krieg handelt, der keine zivilen Opfer in Kauf nimmt.

29.3.2022 | Tag 34

Beim Talk von Markus Lanz kommt u.a. die Leiterin des ‚taz‘-Parlamentsbüros, Anna Lehmann, zu Wort. Sie überbot auf ganz weibliche Weise alle männlichen Weicheier in der Runde. Sie stellte klar, dass natürlich ein Regime Change in Russland das Richtige sei, dass Joe Biden sich gar nicht versprochen habe, sondern einfach nur Klartext rede. Außerdem sei es doch egoistisch, wenn die Männer in der Runde die wirtschaftlichen Folgen eines sofortigen Stopps der Gaslieferungen aus Russland ins Feld führen und davon abraten. Recht verfroren fehle es den Deutschen an „Bereitschaft zum Verzicht“.

30. 3.2022 | Tag 35

Jetzt erreicht auch die Gleichschaltung der ukrainischen Medien die freie Welt. Bereits am 21.3.2022 erließ der ukrainische „Sicherheitsrat“ ein Dekret, wonach alle Fernsehsender „vereinheitlicht“ werden. Die Fernsehsender werden fortan zu einem Programm unter dem Titel „Ukraine-zusammen-Marathon“ zusammengedampft.

ARTE berichtet auf eine Weise, die geradezu beschämend ist. Zuerst erwähnt ARTE, dass ausländische Beobachter eine Einschränkung der Pressefreiheit „befürchten“, was an Selbstverblödung nicht zu überbieten ist. Gleich danach kommt eine „vereinheitlichte“ TV-Moderatorin zu Wort, die uns wissen lässt, dass jetzt „viel mehr Verantwortung“ auf ihr laste. Man fühlt sofort ganz tief mit ihr. Und zu guter Letzt lässt ARTE uns wissen, dass ganz viele Journalisten in der Ukraine diese Zensurmaßnahmen unterstützen. Also alles halb so schlimm. So langsam bekommt die Freiheit, die in der Ukraine verteidigt werden soll, eine Größe, die unter einen Fingerhut passt.

31.3.2022 | Tag 36

Man muss schon sehr weit reisen, um eine Stimme zu hören, die den russischen Einmarsch in der Ukraine nicht als Einmaligkeit einordnet, sondern so:

„Der saudische Außenpolitikexperte Mansour Almarzoqi bestätigt, er könne ‚absolut keinen Unterschied‘ zwischen den Kriegen gegen den Irak (USA, 2003) und gegen die Ukraine (Russland, 2022) erkennen; er wirft dem Westen ‚Heuchelei‘ vor. (…) Mit Blick darauf, dass der US-Angriffskrieg gegen den Irak gebilligt wurde, der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine nun aber aufs Schärfste bestraft werden soll, dass der Westen sich gegen arabische und afrikanische Flüchtlinge erbittert abschottet, europäische Flüchtlinge aus der Ukraine aber willkommen heißt, urteilt Almarzoqi, ‚verborgen unter der dünnen Fassade des Diskurses von Menschenrechten und Demokratie‘ liege weiter ‚das koloniale Erbe des Westensder Neokolonialismus, der kapitalistische Expansionismus‘. Europa habe in der Ära des Kolonialismus seinen Expansionismus, sein Streben nach Reichtum und Hegemonie, gegenüber den kolonisierten Ländern stets mit einem Anspruch vermeintlicher ‚moralischer Überlegenheit‘ begründet. Dies geschehe bis heute. Almarzoqi warnt: ‚Wenn Sie … glauben, wir würden uns nicht wehren, nicht zurückschlagen, dann irren Sie sich‘.“ (german-foreign-policy.com vom 31.3.2022)

1.4.2022 | Tag 37

Es findet ein virtueller Gipfel zwischen der EU und China statt. EU-Ratspräsident Charles Michel machte klar, worum es geht: „China kann den Völkerrechtsverstoß Russlands nicht ignorieren.“ Die chinesische Führung müsse den Angriffskrieg Russlands eindeutig verurteilen und jede Form der „Rückendeckung Russlands im Krieg gegen die Ukraine“ unterlassen. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen fügte in ganzer Fürsorge hinzu: „Das würde China hier in Europa einen großen Reputationsschaden zufügen.

Die chinesische Regierung zeigte sich gerührt. Chinas Staats- und Parteichef Xi erklärte, dass sie gerne zu diesen erwünschten Schritten bereit sei. Die EU müsse sich jedoch ihrerseits deutlich von allen Völkerrechtsverstößen distanzieren, an denen EU-Mitglieder beteiligt sind. Zugleich erwarte die chinesische Regierung, dass die EU nicht länger Rückdeckung für Aggressoren biete. Alles andere würde der EU in China einen großen Reputationsschaden zufügen.

Die EU antwortete prompt. Das würde zu lange dauern, all diesen Wünschen im Detail nachzukommen. Dafür sei jetzt keine Zeit (mehr).

2.4.2022 | Tag 38

Der Pressesprecher des russischen Präsidialamtes Dmitri Peskow gibt ein Interview. Zu den Aussichten auf eine Besserung der Beziehungen zu Europa sagte der Präsidentensprecher, dass diese nur langfristig zu erwarten seien: „Doppelte Standards im Westen gab es immer und wird es immer geben. Das ist die Ideologie (der Europäer), das ist der Arbeitsstil unserer Widersacher. (…) Es hilft nur eins: Geduldig und standhaft die eigenen Interessen zu vertreten.“ Gas für Rubel sei, so der Sprecher des russischen Präsidenten, nur der Beginn, der erste Schritt einer größeren Entwicklung: „Der Prozess der Dedollarisierung lässt sich nicht mehr aufhalten.“ (rtde vom 3.4.2022)

3.4.2022 | Tag 39

Gräueltaten im Kiewer Vorort Butscha.“ Das ist die Hauptnachricht in den staatsnahen Medien. Man sieht tote Zivilisten auf der Straße, einige mit gefesselten Händen auf dem Rücken. Man spricht von „Völkermord“ und die deutsche Bundesregierung ist sich einig, dass man keine Beweise dafür braucht, dass man nichts überprüfen muss, sondern das nächste Sanktionspaket auf den Weg bringen werde. In der „Tagesschau“ berichtet man, dass keine Journalisten vor Ort gelassen werden können, da es vermintes Gebiet sein könnte. In der Sondersendung danach sieht man Soldaten durch die Straße laufen, um die Gräueltaten zu zeigen. Warum russische Soldaten Zivilisten töten (sollen), wenn sie sich zurückziehen, erklärt niemand. Ein paar Tage zuvor mussten die Staatsmedien ein Video zeigen, das es bereits Tage zuvor gab: Auf diesem wird gefangenen russischen Soldaten in die Beine geschossen. Das medial inszenierte Verhältnis von (möglichen) Kriegsverbrechen von russischer und ukrainischer Seite wird auf 100: 1 getunt.

4.4.2022 | Tag 40

Bei ARTE gibt es das Kriegsdrama „Zeit zu leben und Zeit zu sterben“ aus dem Jahr 1958 zu sehen. John Gavin und Liselotte Pulver erleben in Douglas Sirks Kriegsmelodram Liebesfreud und -leid. Man könnte meinen, dass sich die Programmmacher bei dieser Auswahl etwas gedacht haben. Oberste Priorität: Politische Hintergründe ausblenden, alles in menschliche Schicksale ertränken: „Liebe als ‚Hoffnungsträger‘ in einer zerstörten Welt, darum ging es Regisseur Detlef Sierck (…) in seinem letzten Film, nicht um Kritik am Hitler-Regime.“ (ARTE)

Wolf Wetzel

Quellen und Hinweise:

Titelbild: santoelia/shutterstock.com

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