„Starke Schiene“. Die neue Bahn-Strategie ist nichts für Kunden, Beschäftigte und das Klima.

„Starke Schiene“. Die neue Bahn-Strategie ist nichts für Kunden, Beschäftigte und das Klima.

„Starke Schiene“. Die neue Bahn-Strategie ist nichts für Kunden, Beschäftigte und das Klima.

Ein Artikel von Ralf Wurzbacher

Die Deutsche Bahn AG schrieb auch im zweiten Pandemiejahr 2021 rote Zahlen. Die am Freitag präsentierte Bilanz offenbart ein fast gleichbleibend geringes Fahrgastaufkommen, Defizite in der Cargosparte und einen riesigen Schuldenberg. Zur „Belohnung“ genehmigt sich Vorstandschef Richard Lutz ein höheres Fixgehalt und einen Trip ins Wolkenkuckucksheim: Für 2030 verspricht er 300 Millionen Passagiere im Fernverkehr. Reine Illusion, meinen die Verfasser des „Alternativen Geschäftsberichts“ und „mit dieser Führungsspitze nicht machbar“. Auch sonst geht das Gegengutachten mit den Verantwortlichen hart ins Gericht. Als Therapieansatz empfehlen die Autoren: mehr menschliche Intelligenz. Von Ralf Wurzbacher.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Will man ermessen, was die Deutsche Bahn alles nicht ist, nicht hat und nicht kann, hilft verlässlich ein Blick in die Schweiz. Zum Beispiel ist in unserem Nachbarland das Streckennetz seit über zwei Jahrzehnten vollständig elektrifiziert. In Deutschland sind es knapp über 61 Prozent oder 20.397 von 33.400 Kilometern. Bei Mitberücksichtigung nicht bundeseigener Schienenwege stehen gerade einmal 54 Prozent der Anlagen unter Strom. Während etwa auch Österreich, Italien und Belgien beim Ausbau deutlich weiter sind, knattern bei uns noch immer massenhaft Dieselloks durch die Lande und pfeifen auf den Klimawandel.

Aber es geht voran: 2020 legte der Fortschritt übers gesamte Jahr einen Satz von 19 neu elektrifizierten Schienenkilometern hin – Respekt! Wobei das wirklich den Minusrekord der zurückliegenden Jahre markierte. Das Vor-Corona-Jahr 2019 trumpfte noch mit 62 Kilometern auf, die Jahre zwischen 2014 bis 2018 gar mit durchschnittlich 73 Kilometern und von 1994 bis 1999 kamen im Mittel sogar 462 Kilometer dazu. Bis wir mit den Eidgenossen mithalten können, ist es freilich noch ein Stückchen Arbeit. Bliebe es beim vorgelegten Tempo, stünde das Gesamtnetz in 93 Jahren voll im Saft.

Verriss auf 80 Seiten

Besagte Kennziffern stammen aus dem „Alternativen Geschäftsbericht Deutsche Bahn 2020/21“ der im Bündnis „Bahn für alle“ organisierten DB-kritischen Bahn- und Fahrgastverbände. Dieses umfasst 21 Organisationen, von denen in diesem Jahr die Initiative „Bürgerbahn statt Börsenbahn“ die Federführung bei der Erstellung des Reports innehatte. Dieser erscheint traditionell einen Tag im Vorfeld der Präsentation der offiziellen Bilanzzahlen durch den Vorstand des Staatskonzerns. Und während Letzterer die chronische Misere der Bahn einmal mehr bis zur Unkenntlichkeit beschönigt, nimmt das 80-seitige Gegengutachten bei der Kritik an Misswirtschaft und Fehlstrategien der DB-Verantwortlichen kein Blatt vor den Mund.

Im amtlichen, am 31. März vorgelegten „Integrierten Bericht 2021“ wird auch auf die im Vorjahr abgeschlossene Elektrifizierung der sogenannten Südbahn verwiesen. Dabei handelt es sich um einen Streckenabschnitt von 262 Kilometern Länge von Ulm über Friedrichshafen am Bodensee bis ins bayerische Lindau, der infolge der Umstellung mit 160 Stundenkilometern befahren werden kann. Nach vier Jahren Bauzeit sei das Projekt fertiggestellt worden – mehr erfährt man dazu nicht auf 280 Seiten DB-Rapport.

Innovation nach 90 Jahren

Anders im „Alternativen Bericht“. Dort liest man, dass die Südbahn-Elektrifizierung schon 1927 zugesagt wurde. In den folgenden fast 90 Jahren habe es nicht weniger als zwölf „konkrete Versprechungen“ durch die jeweils zuständigen Stellen gegeben, das Vorhaben zeitnah umzusetzen. Die wiederholt beschworene „Priorität“ erledigte sich aber stets so sicher, wie am Ende einmal mehr die Kosten durch die Decke gingen. Waren noch 1985 Ausgaben von 85 Millionen DM taxiert, lag die Schlussabrechnung Ende 2021 bei 370 Millionen Euro. Inflationsbereinigt bedeutet dies mehr als eine Vervierfachung des ursprünglichen Ansatzes.

Gleichwohl war Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) bei der Eröffnung am 6. Dezember hin und weg. Mit der Inbetriebnahme werde „das Ende des fossilen Zeitalters im oberschwäbischen Bahnverkehr eingeläutet“ und überhaupt sei das Ländle eine der innovativsten Gegenden Europas. Von wegen: Der Alternativbericht schlüsselt allein sechs noch bestehende „Diesellöcher“ auf der Landkarte auf und obwohl es jeweils um sehr kurze Abschnitte geht, ist für keinen einzigen eine Modernisierung in absehbarer Zeit vorgesehen.

Bus statt Bahn

Überhaupt wirkt das Ganze ziemlich planlos. Zwischen Friedrichshafen und Lindau verkehren die Züge weiterhin eingleisig, was „sich in Zukunft als Achillesferse erweisen“ werde. Dasselbe gilt für den Abschnitt Friedrichshafen – Radolfzell am nördlichen Bodensee-Ufer, wobei hier auch eine Oberleitung fehlt. Und dann hat die „Innovation“ sogar eine zusätzliche Lücke gerissen. Bisher war die auf einer Insel gelegene Lindauer Altstadt mit dem Regionalexpress erreichbar. Neuerdings bleibt alternativ nur die Fahrt mit dem Bus oder eine Zuckeltour mit der Regionalbahn samt einer halben Stunde Fahrzeit extra.

Das passt ins Bild: Verspätungen, marode Infrastruktur, fehlende Anbindungen, ein chaotisches Preissystem zu horrend hohen Tarifen. Das alles gehört zur Deutschen Bahn wie Fliegen zu einem Hundehaufen. In ihrem Geschäftsbericht rühmt sich die Führung damit, dass „rund 90 Prozent der Verkehrsleistung im Personen- und Güterverkehr (…) heute bereits elektrisch erbracht“ würden. Sofern diese Zahlen überhaupt stimmen, denn sie sind schwer zu überprüfen, liegt dies vor allem an der einseitigen Ausrichtung am tatsächlich zum größten Teil strombetriebenen Fernverkehr. Im scheinbar unlukrativen Nahverkehr in der Provinz spart man sich nicht nur vielfach die Anbindung ans Stromnetz. Man hängt die Menschen sogar vom Bahnverkehr ab, indem man ungebremst Schienenwege stilllegt. Allein im Vorjahr hat der Konzern 111 Streckenkilometer verglichen mit 2020 außer Betrieb gestellt.

Zerstörungswerk

Winfried Wolf, Sprecher von „Bahn für alle“ und als renommierter Bahnexperte einst Mitglied der LINKE-Fraktion im Bundestag, hat den Raubbau im Kapitel „Infrastrukur“ nachgezeichnet. Seit der sogenannten Bahnreform 1991 wurde das Netz demnach um 19 Prozent geschrumpft, von 41.000 sind heute noch knapp über 33.000 betriebene Streckenkilometer übrig. Die Länge aller Gleise büßte um 21 Prozent ein, die Zahl der Weichen und Kreuzungen ging um 54 Prozent zurück, die der Infrastrukturanschlüsse um über 80 Prozent. Vor Pressevertretern in Berlin beklagte Wolf am vergangenen Donnerstag: „Es bleibt dabei, der DB-Konzern schützt die Infrastruktur nicht, wie in der Verfassung verlangt, er zerstört sie.“ Kein Bundesverkehrsminister könne sich im Amt halten, wenn unter seiner Regie jährlich Autobahnabfahrten, Hunderte Kilometer Standstreifen und Dutzende Raststätten abgeschafft würden. „Dass eben dies seit drei Jahrzehnten mit dem Schienennetz passiert, ist dagegen keine Erwähnung wert.“

Stattdessen wirbt die Bahn damit, bis 2025 wenigstens 70 Prozent der Schienen zu elektrifizieren, ohne zu erwähnen, dass dies praktisch ein Selbstläufer ist, wenn man das Netz nur weiter eifrig zurückbaut. Aber wie Wolf sagte: Mit derlei Wahrheiten behelligt man die Bürger lieber nicht. Lieber verkündete der Vorstandsvorsitzende Richard Lutz am Freitag, im laufenden Jahr wieder schwarze Zahlen schreiben zu wollen. Die Rezepte, mit denen das geschehen soll, sind dabei wie gehabt: Kunden abkassieren, an Beschäftigten „sparen“ und das Auslandsgeschäft der bahnfremden Konzerntöchter stärken. Beim eigentlichen Kerngeschäft wird dagegen gewurstelt wie bisher, was heißt: Man verpulvert Milliardensummen für widersinnige Prestige- beziehungsweise Immobilienprojekte wie Stuttgart 21 oder die Verlegung des Bahnhofs Hamburg Altona und unterlässt praktisch alles, was einen Zugewinn an Kunden und einen umwelt- und klimagerechten Bahnbetrieb verspricht.

Partner-Bahncard abgeschafft

Wie passend! Just am Tag, an dem der Vorstand die tiefroten Zahlen seiner Jahresbilanz 2021 vorlegte, hat die DB AG die sogenannte Partner-Bahncard faktisch eingestampft. Lediglich die Verlängerung eines bestehenden Vertrags war bis 31. März noch möglich. Damit stoße man bislang überzeugte Fahrgäste wie auch potentielle Neukunden vor den Kopf, monierte der ökologische Verkehrsclub Deutschland (VCD). Gerade nach Ende der Coronakrise werde es darum gehen müssen, „Menschen durch attraktive Einstiegsangebote auf die Schiene zu holen“, erklärte Verbandssprecher Bastian Kettner.

Tatsächlich sind die Fahrgastzahlen im Fernverkehr in zwei Jahren Pandemie auf ein Niveau um den Dreh von 80 Millionen eingebrochen. 2019 waren es noch über 150 Millionen. Für 2022 peilt Lutz eine Erholung auf 100 Millionen an, um schließlich im Jahr 2030 bei 300 Millionen zu landen. Wolf von „Bahn für alle“ nannte diese Zielmarke „völlig illusorisch“. Laut „Alternativem Geschäftsbericht“ sei jedenfalls sicher: „Mit diesem Personal an der Spitze (…) ist das nicht machbar.“ Weiter heißt es dort: Von der neuen Unternehmensstrategie „starke Schiene“ fehle jede Spur, statt einer „Klimabahn“ sei eine „Betonbahn“ unterwegs, „die die schlechten Eigenschaften von ‚staatlichem Eigentum‘ mit den schlechten Eigenschaften von ‚privatwirtschaftlicher Unternehmensform‘ kombiniert“ und enorme Summen öffentlicher Gelder zum Aufbau eines immer größeren Wasserkopfes fresse. Dabei gönnten sich die „Führungskräfte in guten wie in schlechten Zeiten satte Boni und verstehen von Schienenverkehr vielfach nur Bahnhof.

Rekordumsatz – Milliardenschulden

Wie zum Beweis genehmigen sich Lutz und sein für den Personenverkehr zuständiger Vorstandskollege Berthold Huber eine zehnprozentige Erhöhung ihrer Fixgehälter. Grünes Licht dafür hatte am vergangenen Mittwoch der Aufsichtsrat gegeben. Damit liegen die festen Jahresbezüge des DB-Chefs demnächst bei fast einer Million Euro. Hinzu kommen großzügige Boni, auf die der Konzernvorstand in den beiden Vorjahren noch verzichtet hatte – wegen der Härten der Pandemie. 3.500 weitere Bahn-Manager hatten ihre lukrativen Zulagen aber sehr wohl eingestrichen, was angesichts milliardenschwerer staatlicher Corona-Hilfen seinerzeit einigen Unmut provozierte.

Dabei fiele die Bilanz des Vorjahres ohne den Beistand durch die Bundesregierung noch schlechter aus. Unter dem Strich erwirtschaftete der Konzern ein Minus von 911 Millionen Euro nach Verlusten von fast 5,7 Milliarden Euro im Jahr davor. Zugleich kletterte der Umsatz um über 18 Prozent auf ein historisches Allzeithoch von 47,3 Milliarden Euro. Die Defizite im Kerngeschäft des Personen- und Güterverkehrs konterkariert ein Rekordergebnis bei der Logistiktochter Schenker mit einem operativen Gewinn von 1,2 Milliarden Euro. Dass der Schuldenstand trotz Verlusten mit knapp 29 Milliarden Euro auf dem Vorkrisenniveau verharrte, kann sich Wolf nur mit „kreativer Buchführung“ erklären. Auch das „Manager-Magazin“ hatte jüngst konstatiert: „In den Geschäftsberichten herrscht Blendwerk vor.“

Global-Player-Ambitionen

Zur Täuschung gehört: Schwarze Zahlen schreibt die Bahn vor allem mit ihren Trassen- und Bahnhofsnutzungsentgelten, also damit, die private und öffentliche Konkurrenz insbesondere im Nahverkehr zu gesalzenen Preisen im eigenen Netz verkehren zu lassen. Die DB-Züge, gerade im Fernverkehr, fahren dagegen rote bis tiefrote Zahlen ein. Auch die Güterverkehrssparte DB Cargo bleibt laut Wolf „defizitär“ und „das Sorgenkind der Bahn“. Eine Blendgranate ist auch der sogenannte Deutschland-Takt. Unter diesem Logo betrieben das Bundesverkehrsministerium und die DB-Führung „eine Fortsetzung der Betonbahnpolitik“, monierte Wolf. Dabei ginge es um „neue Höchstgeschwindigkeitsstrecken, neue sündhaft teure Tunnelprojekte und Zielfahrpläne, die (…) den Schienenverkehr ziemlich sicher neu aus dem Takt geraten lassen, da viel davon auf Kante genäht ist“.

Nicht nach dem Geschmack von Bahn-Chef Lutz dürften die Pläne der Bundesregierung sein, die Infrastruktureinheiten – DB Netz, DB Station und Service – zu einer neuen, gemeinwohlorientierten Sparte zusammenzulegen, in der die erzielten Gewinne zu 100 Prozent verbleiben und für Investitionen genutzt werden sollen. Bislang wurden die Profite in die Holding abgezweigt, um insbesondere die Global-Player-Ambitionen der Bahn-Bosse zu pushen. Immerhin scheint sich damit ein noch im „Alternativen Geschäftsbericht“ für das Jahr 2020 erwartetes Szenario vorerst nicht zu bewahrheiten. Seinerzeit ging die Sorge um, die Corona-Krise könnte der kommenden Regierungskoalition einen Vorwand zur Zerschlagung und Teilprivatisierung des integrierten Konzerns liefern. Anscheinend steht dies derzeit nicht auf der Agenda. Aber Wachsamkeit bleibt geboten.

Menschliche Intelligenz Fehlanzeige

Außerdem wirft der „Alternative Geschäftsbericht“ die Frage auf, weshalb nicht auch der Bereich DB Energie in die Sparte aufgenommen wird und was eigentlich unter „Gemeinwohl“ nach DB-Lesart zu verstehen ist. Viele der durch die DB Netz und teilweise durch die DB Station und Service vorangetriebenen Unternehmungen müssten „als Schienenverkehr verhindernde oder Schienenverkehr abbauende Projekte bezeichnet werden“, geben die Autoren zu bedenken. Ein „Weiter so“ zeichnet sich nach ihren Befunden in vielen anderen Bereichen ab. Etwa mit dem Verschlafen einer europaweiten Renaissance bei Nachtzügen oder einer „Personaloffensive“, von der bisher nichts zu spüren ist.

Für „Kontinuität“ steht auch der neue Bundesverkehrsminister Volker Wissing (FDP). Dem fiel Mitte März bei der Vorstellung von „Eckpunkten einer Gigabitstrategie“ zur Bahn nur ein, dass „es jederzeit möglich sein muss, auf Zugfahrten unterbrechungsfrei (…) mit der Familie zu telefonieren oder ein Video zu streamen“. Deshalb gehörte „in den ICEs die Wärme- und Sonnenbeschichtung der Fenster erneuert“. Verspätete Züge (75,2 Prozent der Fernverkehrszüge erreichten 2021 pünktlich ihr Ziel), defekte Toiletten, kein Kaffee im Bordbistro – für Wissing alles analoger Firlefanz. Der „Alternative Geschäftsbericht“ hält dagegen: „Es fehlen im Bahnvorstand vor allem menschliche Intelligenz und Fachkenntnisse.“

Titelbild: Dmitriy NDM / Shutterstock

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