Wohin steuert unser Land? Rede und Diskussion in Pfaffenhofen …

Albrecht Müller
Ein Artikel von:

… über den Bruch mit Russland und das Hin und Her von Kaltem Krieg und Entspannungspolitik. – Am 30. April haben sich in Pfaffenhofen an der Ilm einige an Friedenspolitik interessierte Menschen versammelt. Ich habe mit einem Vortrag virtuell über Zoom zur Diskussion beigetragen. Das war ein kleines Experiment. Den Vortrag und die Diskussion können Sie hier und hier verfolgen. Außerdem hängt die schriftliche Fassung des Vortrags unten an, dieser auch hier als PDF. Das Video ist am Anfang einige Minuten lang nicht ganz verständlich, auch deshalb die schriftliche Fixierung. Albrecht Müller.

Albrecht Müller

Rede für Freundschaft mit Valjevo e.V. in Pfaffenhofen über Zoom

am 30. April 2022 19:30 Uhr

Thema:

Bruch mit Russland und Aufrüstung:

Wohin steuert unser Land?

Guten Abend, liebe Freundinnen und Freunde in Pfaffenhofen.

Viel lieber als hier vor der Kamera meines Laptops wäre ich bei Ihnen und hätte mal wieder die vorzügliche Gastfreundschaft Ihres Vereins Valjevo genossen. Aber das ist ein bisschen schwierig und so haben wir, Bernd Duschner und ich diese Lösung der elektronischen Kommunikation gefunden. Hoffen wir alle zusammen, dass es nicht zu unpersönlich wird, dass wir uns gut verstehen – im direkten und im übertragenen Sinn.

Wir würden uns ja ganz gerne die Welt schöner reden als sie ist. Sie ist es nicht. Sie könnte so viel schöner werden und sein, wenn wir uns auf ein paar wichtige Dinge besinnen würden, auf Erkenntnisse, die wir schon einmal hatten.

Wir hatten schon mal erkannt, dass es in einer zwischen den Völkern angespannten Lage gut und wichtig ist, wenn einer den Mut hat zu erklären:

Wir wollen ein Volk der guten Nachbarn sein

Das war 1969, am 28. Oktober, da erklärte ein deutscher Bundeskanzler nach einer langen Phase des Kalten Krieges: wir wollen uns vertragen, wir wollen uns versöhnen, Zusammenarbeit statt Konfrontation, wir wollen Wandel durch Annäherung, also Wandel beim vorherigen Gegner nicht durch gute Ratschläge und Konfrontation, sondern durch Annäherung und Zusammenarbeit. Wir wollen ein Volk der guten Nachbarn sein. Diesem Versprechen folgten die anderen, jedenfalls die wichtigsten Partner und ehemaligen Gegner.

„Wir wollen ein Volk der guten Nachbarn sein“ – diese Absichtserklärung äußerte ein Sozialdemokrat, Bundeskanzler Willy Brandt. Damit Sie schlaglichtartig sehen, wie sich die Zeiten verändert haben, wie verheerend sie sich verändert haben, zitiere ich aus einem Interview mit der Wehrbeauftragten Eva Högl von 27.4., also von vor 3 Tagen. Sie hat T-Online ein Interview gegeben. Dort heißt es:

„Die Ukraine muss diesen Krieg gewinnen. Deshalb müssen wir sie auch mit Waffen unterstützen.“

Die Vorstellung, der Krieg in der Ukraine könne mit dem Sieg einer Seite beendet werden, ohne dass die andere Seite vorher zum letzten Mittel greift, ist abenteuerlich.

Der Krieg kann nur durch einen Verhandlungskompromiss beendet werden. Was die deutsche Wehrbeauftragte hier vorträgt, ist die der Absicht der USA entsprechende Position: Russland fertig zu machen. Das ist das eigentliche Ziel des Westens. Da die russische Führung dies aber nicht mit sich geschehen lassen wird, steht der AtomKrieg vor der Tür.

Die Aussage stammt von einer Sozialdemokratin. Daran können Sie gleich mehreres erkennen:

  • den Niedergang der friedenspolitischen Einsicht, wie Völker am besten miteinander umgehen,
  • den Niedergang jener Partei, der SPD, der wir die Entspannungspolitik und damit das Ende der Konfrontation in Europa verdanken, und damit letztlich auch die Vereinigung der beiden Teile Deutschlands.

In den sechziger und siebziger Jahren waren die Regierenden und vermutlich eine Mehrheit des Volkes so schlau, sich auszudenken, dass es gut wäre, wir würden uns gelegentlich mal in die Situation des Nachbarn, auch des Gegners versetzen. Die Wehrbeauftragte, Frau Högl – zufällig auch im Jahr 1969 geboren – und mit ihr die jetzige politische Führungsschicht kann das nicht mehr.

Die jetzt politisch Verantwortlichen haben möglicherweise auch noch nie etwas davon gehört, dass es um des Friedens willen wichtig ist, Vertrauen aufzubauen. Sie säen unentwegt Misstrauen.

Sich in die Lage des anderen zu versetzen, Vertrauen aufbauen – alle diese Einsichten sind gelöscht, sind zerschlagen.

In Deutschland hatten wir uns über Parteigrenzen hinweg darauf verständigt, keine Waffen in Krisengebiete zu liefern. Auch diese Einsicht ist verloren gegangen, hinweggefegt von einem seltsam kriegslüsternen Geist und entsprechender Praxis:

Wir liefern Waffen, auch schwere Waffen.

Wir rüsten auf.

Wir führen einen Propagandakrieg gegen Russland.

Wohin steuert unser Land?

Darüber soll ich sprechen.

Als Erstes möchte ich eine kleine Korrektur anbringen. Es müsste korrekt heißen:

Wohin wird unser Land gesteuert?

Nach meinem Beobachtungen werden wir nämlich außenpolitisch, rüstungspolitisch und kriegspolitisch – wenn Sie so wollen – ganz wesentlich von den USA, der NATO und im Hintergrund von der Rüstungswirtschaft beeinflusst.

Diese Steuerung läuft zum einen über die politischen und diplomatischen Kanäle.

Die Steuerung läuft vor allem aber über Propaganda. Propaganda ist der Treibstoff der jetzigen Auseinandersetzung und im Kern auch das Instrument, mit der unsere außenpolitische Grundposition von den Füßen auf den Kopf gestellt worden ist.

Über diese wesentlichen Veränderungen, die ans Mark unsere Sicherheit gehen, die ans Mark unseres Lebens gehen, werde ich sprechen. Dabei werde ich die geschichtlichen Stationen beschreiben, die zufällig auch mein bisheriges Leben begleitet haben und ich werde vor allem die Parolen und Gedanken erwähnen, beschreiben und analysieren, die wichtige geschichtliche Schritte begleitet und die das Denken und die Meinung unseres Volkes geprägt haben:

1938, der Beginn des Krieges, brennende Städte, gefallene und ausgebombte Verwandte und Freunde

1938, als ich geboren wurde, war noch Frieden. Aber der Hass aufeinander und die Kriegsvorbereitungen florierten. Ähnlich wie jetzt, so könnte ich mir denken.

Als kleines Kind erlebte ich die Bombenangriffe auf unseren Bahnhof und die Gleise 200 m entfernt. Und des nachts die brennenden Städte im Umkreis – Mannheim, Bruchsal, Karlsruhe, Pforzheim, Heilbronn, Würzburg. Zwei Brüder meiner Mutter sind im Krieg gefallen bzw. an Verletzungen gestorben. Vier Cousinen und ein Vetter wuchsen ohne Vater auf. Ich erlebte als Kind ausgebombte und geflohene Menschen. Heimkehrende Kriegsgefangene und Flüchtlinge prägten den Alltag und die Gespräche zwischen den Erwachsenen.

Die wichtigste Aussage:

Nie wieder Krieg!

Darüber waren sie sich einig. Das war Konsens. Ein Konsens, der auch Menschen prägte, die noch in der Nazizeit Freunde des Militärs waren. Jetzt aber: nie wieder Krieg! Wo ist das heute geblieben? Offenbar braucht man die Kriegserfahrung, um diese Einsicht zu haben: Nie wieder Krieg! Kein Militär. Keine Waffen.

Darauf komme ich beim Gespräch über die aktuelle Lage zurück.

Schon 1949, kurz nach Gründung der Bundesrepublik Deutschland West, begann der damalige Bundeskanzler Konrad Adenauer, wahrscheinlich aus eigenen Stücken und eng verbunden mit den westlichen Alliierten, über die Wiederbewaffnung – wie man es nannte – nachzudenken und diese zu planen. Sein Innenminister, Gustav Heinemann, ist aus Protest gegen die Wiederbewaffnung aus dem Kabinett Adenauer und aus der CDU ausgeschieden. Er und einige Freundinnen und Freunde gründeten die sogenannte Gesamtdeutsche Volkspartei, GVP. Sie wollten die Angebote der Sowjetunion ausloten – keine Wiederbewaffnung, kein Beitritt zur NATO, dafür damals schon die Wiedervereinigung der beiden getrennten Teile Deutschlands. Ähnlich wie Österreich

Die GVP erreichte nicht einmal 2 % der Stimmen bei der Bundestagswahl 1953. Gleichzeitig und das war einer der Gründe für den Misserfolg wuchs die Agitation gegen den Osten, gegen die Sowjetunion und gegen den Warschauer Pakt und vor allem gegen die Russen. Typisch für die damalige Stimmung ist ein Plakat, das sowohl von der CDU, der CSU als auch der NPD plakatiert wurde:

Das Plakat verrät einiges über die damalige Atmosphäre. An der Abbildung des russischen Soldaten erkennt man leicht den rassistischen Charakter der Kampagne.

Übrigens: Die Formulierungen, die Propaganda, die damals die öffentliche Debatte und auch die sogenannte Strategie des Westens kennzeichnete, lauteten so:

  • Abschreckung
  • Politik der Stärke

Genau diese Begriffe tauchen jetzt wieder in den außen- und sicherheitspolitischen Erwägungen und Strategien der herrschenden politischen Kräfte auf.

Die heutige Propaganda hat ähnliche Züge. Deshalb muss ich oft daran denken, wie lange wir damals gebraucht haben, um uns daraus zu befreien.

Zunächst gab es in den fünfziger Jahren und anfangs der sechziger Jahre weitere Verhärtungen. Innerhalb unseres Landes: als Schüler und Studenten stritten wir mit unseren Lehrern aber auch mit Jugendorganisationen wie dem RCDS und der Jungen Union, die voll auf Regierungskurs lagen.

Verhärtungen gab es massiv zwischen Ost und West.

1961 wurde die Mauer gebaut. 1962 kam es angesichts der Stationierung sowjetischer Raketen auf Kuba zur sogenannten Kubakrise. Damals war der Weltkrieg sehr nahe. Aber er wurde abgewandt.

Schon Ende der Fünfzigerjahre versammelte der damalige Regierende Bürgermeister von Berlin Willy Brandt eine Gruppe um sich, die über den Abbau der Konfrontation nachdachte. Einer der Mitglieder dieser Gruppe war der spätere Chef des Bundeskanzleramtes Horst Grabert, der mir von diesen ersten Überlegungen berichtete. 1960 stieß auch Egon Bahr dazu. Dieser und Willy Brandt verkündeten dann das Ergebnis ihrer entspannungspolitischen Überlegungen auf einer Tagung der Evangelischen Akademie in Tutzing im Sommer 1963.

Die Losung hieß: Wandel durch Annäherung.

Die Parole vom Wandel griff sozusagen die westliche Vorstellung auf, dass sich der Osten hin zu Demokratie und Marktwirtschaft öffnen müsse, damit es den dortigen Völkern besser gehe. Diesen Wandel wollte man nicht mehr durch Waffen und Konfrontation, sondern durch Annäherung auslösen.

Die Entspannungspolitik der sechziger Jahre wurde von mehreren gesellschaftlichen Strömungen und Einrichtungen unterstützt – von den Kirchen, vor allem von der Evangelischen Kirche. Auch von Schriftstellern, Wissenschaftlern, Künstlern. Dass es zur Sozialdemokratischen Wählerinitiative kam, zu der sich bekannte Gesichter versammelten, war der Ost- und Entspannungspolitik zu verdanken. Günter Grass, Inge Meysel, Kulenkampff und Frankenfeld, Paul Breitner und viele mehr.

Die Formeln waren nun:

  • Friedenspolitik
  • Entspannungspolitik, Ostpolitik
  • Sich vertragen, sich versöhnen

Diese Absichtserklärungen und die öffentliche Formulierung dieser Ziele wirkte weit hinein in Kreise, die ansonsten für die Träger der Entspannungspolitik nicht gerade prädestiniert und offen waren. Ich habe das in meiner eigenen Familie erlebt. Sich vertragen, sich versöhnen, das wollten in der Tat weite Kreise in Deutschland West, im Osten sowieso.

Die Atmosphäre war übrigens sehr ähnlich der des „Nie wieder Krieg“ Ende des Zweiten Weltkrieges.

Dagegen standen andere Parolen, vor allem formuliert von der CDU/CSU und Vertriebenenverbänden. Eines der harten Worte und Vorwürfe: Verzichtspolitik.

Dennoch, die damalige Bundesregierung, die 1969 mit dem neuen Bundeskanzler Willy Brandt angetreten ist, hat schon im nächsten Jahr, nämlich 1970 im Moskauer Vertrag und dann im Warschauer Vertrag und Prager Vertrag den Verzicht auf die ehemaligen Ostgebiete zugunsten von Polen zugestanden – übrigens schon im Moskauer Vertrag auch zu Gunsten von Polen. Daran sollten sich die Polen vielleicht mal erinnern statt die Feindschaft mit Moskau zu pflegen.

Wie auch immer, es gab die Mehrheit für sich vertragen und sich versöhnen. Das ist ein Hoffnungsschimmer. Denn das war nach mindestens 15 Jahren Agitation mit Abschreckung und Politik der Stärke ein erstaunlich positives Ergebnis.

Wird uns das wieder gelingen? Das wäre von großer Bedeutung. Aber bevor ich darauf eingehe, muss ich die weitere Entwicklung skizzieren:

Die Entspannungspolitik verlief nicht glatt. Es gab Erfolge und es gab enorme Schwierigkeiten. Einige wenige dieser Ereignisse will ich schildern.:

Ich fange mit einem Ereignis an, das noch vor der Regierungserklärung vom Oktober 1969 lag, und ich schildere mein persönliches Erlebnis, weil der Verlauf zeigt, wie anders man mit Ereignissen umgehen kann: Am 1. August 1968 begann meine Arbeit als Redenschreiber des damaligen Bundeswirtschaftsministers Karl Schiller in Bonn. Am 21. August war ich zu einer Besprechung beim Parlamentarischen Staatssekretär Klaus-Dieter Arndt geladen. Während der Besprechung reichte ihm seine Sekretärin eine sogenannte Tickermeldung. Er las mir vor: Streitkräfte der Sowjetunion und anderer Warschauer-Pakt-Staaten sind in die Tschechoslowakei einmarschiert, um dem dortigen Reform-Kommunismus ein Ende zu bereiten.

Das war auch ein Schlag gegen die Entspannungspolitik, mit der die SPD schon in der Großen Koalition ab 1966 begonnen hatte. Klaus-Dieter Arndt war damit besonders verbunden. Er war zuständig für die Ankurbelung des innerdeutschen Handels. Arndts Kommentar zu mir: Wir machen trotzdem weiter. Schon ein Jahr später gab es den Moskauer Vertrag, und dann unmittelbar danach den Vertrag mit Warschau und Prag. Der Wandel durch Annäherung trug auch dort Früchte.

Heute würde man ganz anders reagieren als von Klaus-Dieter Arndt und den damals in der Regierung arbeitenden Sozialdemokraten durchgehalten und durchgestanden.

Es gab im weiteren Verlauf immer wieder Ärger, es gab Schießereien an der innerdeutschen Grenze, es gab Verständigungsschwierigkeiten. Aber die große Linie der Entspannungspolitik wurde durchgehalten, trotz der sogenannten Nachrüstung mit dem NATO-Doppelbeschluss 1979 und ihrer Ursache, der Aufstellung von Mittelstreckenraketen des Warschauer Paktes.

Auf ein weiters Ereignis muss ich in diesem Kontext eingehen, weil es etwas zeigt von den Möglichkeiten der Friedenspolitik und auch von politischen Winkelzügen.

Im Dezember 1979 intervenierte die Sowjetunion in Afghanistan. In Deutschland regierte damals eine sozialliberale Koalition mit Bundeskanzler Helmut Schmidt und Vizekanzler Genscher von der FDP. Nach der Intervention der Sowjetunion tönte der CSU-Vorsitzende Strauß, das sei nun das Ende der Entspannungspolitik. Ich war damals Leiter der Planungsabteilung im Bundeskanzleramt. Wir wollten wissen, wie die Mehrheit des deutschen Volkes denkt und haben deshalb eine sozialwissenschaftliche Untersuchung gestartet. Gibt es eine Mehrheit für die Fortsetzung des Dialogs mit der Sowjetunion trotz der Intervention in Afghanistan – das war die Frage.

In der Koalition bahnte sich ein bedrohlicher Konflikt an. Der FDP-Vorsitzende Genscher sah – ziemlich auf der Linie von Franz Josef Strauß – in der Intervention der Sowjetunion eine Möglichkeit zum Koalitionswechsel und verhandelte darüber in diskreten Zirkeln auch schon mit dem Vorsitzenden der CDU und CDU/CSU-Fraktion Helmut Kohl. Unsere in Auftrag gegebene Studie des Sinus Instituts in Heidelberg ergab, dass die Mehrheit des deutschen Volkes trotz sowjetischer Intervention für die Fortsetzung der Entspannungspolitik eintrat. Mit dieser Studie im Hintergrund haben wir Bundeskanzler Helmut Schmidt davon überzeugt, dass er standhaft bleiben kann, ohne die Unterstützung der Deutschen zu verlieren. Auf der Basis dieser Einstellung nutzte die nordrhein-westfälische SPD die Landtagswahl vom 11. Mai 1980 zu einem Test über die Friedenspolitik der Bundesrepublik Deutschland. Ein ungewöhnlicher Vorgang. Das bundespolitische Thema bestimmte die dortige Wahl, obwohl es mit Landtagswahlen eigentlich nichts zu tun hat. Die SPD schaltete eine eindrucksvolle große Anzeige. Darauf waren 49 Kriegerwitwen mit jeweils einer kleinen persönlichen Aussage zu ihrer Kriegserfahrung abgedruckt. Die Überschrift in großen Lettern lautete: Nie wieder Krieg!

Die SPD gewann die absolute Mehrheit in NRW, die FDP des wackelnden Außenministers Genscher flog aus dem Landtag – mit sagenhaften 4,999 %. Am Dienstag nach der Wahl erklärte der Redenschreiber des Bundeskanzlers mit Namen Breitenstein, seines Zeichens FDP Mitglied und wegen seiner Funktion bei Schmidt berechtigt, an Sitzungen des FDP Präsidium teilzunehmen: Das FDP Präsidium habe am Montagabend beschlossen, jetzt wieder für die Entspannungspolitik zu sein.

Auch dieses Ereignis, auch diese Erzählung ist hochaktuell, leider mit einer bedrückenden Tendenz: Heute gibt es vermutlich in unserem Volk keine Mehrheit mehr für “Nie wieder Krieg!” Zwischen 1980 und 2022 liegen 42 Jahre. Jahre der Kriegserziehung und der Gewöhnung an Kriege.

Und dennoch ist das Beispiel von NRW 1980 eines der wenigen Hoffnungsschimmer, die wir heute haben. Nur wenn es uns gelingt, wieder Mehrheiten gegen Kriege zu schaffen, werden wir diese Kriege auch verhindern können. Eine bittere Feststellung, weil es so wenig wahrscheinlich ist, dass wir diese Mehrheiten noch einmal schaffen können. Dennoch: Ich komme darauf später zurück.

1989/1990

9 Jahre später fiel die Mauer. Aus meiner Sicht wirkte die Strategie Wandel durch Annäherung: die Sowjetunion hatte sich verändert, Polen hatte sich verändert, in der Tschechoslowakei fruchtete die Veränderung, die sich 1968 angekündigt hatte. Wichtig für die Politik in unserem Land: Helmut Kohl, der Bundeskanzler, der 1982 Helmut Schmidt abgelöst hatte, hatte die Richtigkeit und den Sinn der Entspannungspolitik erkannt, weshalb es in dieser Phase in Deutschland auch keinen großen Disput zwischen den großen Parteien gab. Symbolisch dafür: Das gemeinsame Auftreten von Helmut Kohl, dem sogenannten Kanzler der Einheit, und Willy Brandt, dem Verursacher der Einheit.

Die SPD traf sich im Dezember 1989 zu ihrem Berliner Parteitag zur Beratung eines neuen Grundsatzprogramms. Ich war damals Sprecher der Parlamentarischen Linken in der SPD-Bundestagsfraktion und hatte zusammen mit Egon Bahr am letzten Entwurf der sicherheitspolitischen Formulierungen mitgearbeitet.

Das Programm wurde am 20. Dezember verabschiedet und enthielt für unser Thema wegweisende Beschlüsse. Ein paar Beispiele:

Gemeinsame Sicherheit

Ost und West haben den Versuch, Sicherheit gegeneinander zu errüsten, mit immer mehr Unsicherheit für alle bezahlt.

Kein Land in Europa kann heute sicherer sein als der mögliche Gegner. Jeder muss also schon im eigenen Interesse Mitverantwortung übernehmen für die Sicherheit des anderen. Darauf beruht das Prinzip Gemeinsamer Sicherheit. Es verlangt, dass jede Seite der anderen Existenzberechtigung und Friedensfähigkeit zubilligt.

Im übernächsten Absatz heißt es:

Unser Ziel ist es, die Militärbündnisse durch eine europäische Friedensordnung abzulösen.

Dann wurde Abrüstung versprochen. Und dann, sehr aktuell:

Der Umbruch in Osteuropa verringert die militärische und erhöht die politische Bedeutung der Bündnisse und weist ihnen eine neue Funktion zu: Sie müssen, bei Wahrung der Stabilität, ihre Auflösung und den Übergang zu einer europäischen Friedensordnung organisieren. Dies eröffnet auch die Perspektive für das Ende der Stationierung amerikanischer und sowjetischer Streitkräfte außerhalb ihrer Territorien in Europa.

Das war im Dezember 1989. Und obwohl die SPD keine Regierungspartei war, schrillten vermutlich die Alarmglocken bei der Rüstungslobby und bei den Alliierten in den USA.

(Ab hier war der Vortrag nicht mehr in allen Details schriftlich fixiert. Deshalb folgen hier Stichworte. Im VortragsVideo ist das ab Minute 37:16 wiedergegeben)

Die heute für die Sozialdemokratie sprechenden Personen haben, vielleicht mit Ausnahme des Fraktionsvorsitzenden Mützenich, nichts mehr mit dem genuinen sozialdemokratischen Gedankengut, wie es im Berliner Grundsatzprogramm niedergeschrieben war, zu tun. Auch in der Union und bei der FDP und insbesondere bei den Bündnisgrünen wurden die friedenspolitischen Gedanken und vor allem die Idee einer Zusammenarbeit mit Russland, also von Lissabon bis Wladiwostok, schnellstens und grundlegend entsorgt:

  • In den USA wurden die imperialistischen Erwägungen des früheren Sicherheitsberater Brzeziński die gängige Doktrin.
  • Die NATO wurde nicht aufgelöst, im Gegenteil: sie wurde nach Osten erweitert. Schon 1999 und dann in einem weiteren Schritt bis an die Grenze Russlands.
  • Russland wurde aus Europa hinausgeworfen, so könnte man sagen.
  • Typisch dafür war eine Konferenz in Bratislava im Jahre 2000. Organisiert vom State Department der USA und dem American Enterprise Institute. Dort wurde eine Linie von Finnland bis zum kaspischen Meer gezogen – östlich und außerhalb des Territoriums der „Guten“: Russland und einige andere ehemalige Staaten der Sowjetunion, westlich davon auch die Ukraine. Der CDU-Abgeordnete und frühere parlamentarische Staatssekretär im Bundesverteidigungsministerium, Willy Wimmer, hat in einem Brief an den damaligen Bundeskanzler Gerhard Schröder von dieser Konferenz berichtet. Er hat damit schon sehr früh erkannt, welcher historische Zäsur hier zugange war
  • Zugleich gab es dann 1999 den Kosovo Krieg, auch eine Provokation Russlands und die weiteren Kriege des Westens im Irak, in Libyen, in Syrien, in Afghanistan.

Putin, so könnte man sagen, hat diesen Rauswurf Russlands aus Europa und aus der gemeinsamen Entwicklung spät gemerkt. Noch 2001, am 25. September, hielt er im Deutschen Bundestag eine auf Zusammenarbeit getrimmte Rede. Er bot nochmals die Zusammenarbeit von Wladiwostok bis Lissabon an, obwohl zu diesem Zeitpunkt doch schon alles klar war, auch der Hinauswurf Russlands aus der gemeinsamen Entwicklung. Erst bei seiner Rede auf der Münchner Sicherheitskonferenz im Jahre 2007 wurde deutlich, dass die russische Führung gemerkt hatte, was gespielt wird.

Inzwischen wurde der kalte Krieg wiederbelebt. Das lief wie in den fünfziger Jahren massiv über Propaganda. Die Entwicklung in Russland wurde als autokratisch, undemokratisch und menschenverachtend dargestellt. Dabei wird das immer auf uns gespiegelt und der Eindruck erweckt, als lebten wir in einer funktionierenden und unbestrittenen Demokratie. Das geschieht ohne Rücksicht auf die Anfechtungen, denen die demokratischen Verhältnisse bei uns ausgesetzt sind, zum Beispiel durch Propaganda und die massive demokratiegefährdende Konzentration der Medien in wenigen Händen. Wir sind die Guten. Das ist eine ausgefeilte Propagandamasche.

Auf diese Methode “Wir sind die Guten” habe ich übrigens bei der Erweiterung und Neuauflage meines Buches „Glaube wenig. Hinterfrage alles. Denke selbst.“ hingewiesen und diese Methode der Sammlung der bisherigen Methoden der Manipulation hinzugefügt.

Wie ist es zu der Veränderung gekommen, wie ist es zu dem großen Einfluss der USA und der NATO auf uns und die Entwicklung in Europa gekommen?

Das lief 1. über Propaganda und 2. über Einflussagenten. Wenn Sie das Wort Einflussagenten hören, dann sollten Sie nicht erschrecken. Versetzen sich einfach einmal in die Lage der Planer des State Departments oder des CIA. Dann würden Sie, um den Einfluss auf andere Länder zu gewinnen, auch nicht nur auf Propaganda setzen. Wenn Sie genügend Mittel hätten, dann würden Sie auch versuchen, auf die innere Entwicklung von Parteien und Medien in diesen Ländern Einfluss zu nehmen – nicht nur durch Gespräche und Überzeugungsarbeit, auch durch die Platzierung von sogenannten Einflussagenten in Parteien und Medien.

Sie sollten nicht erschrecken. Das ist doch bekannt. Zum Beispiel hat die Sendungsanstalt des ZDF am 29. April bei 1014 in einer Tafel-Nummer offen berichtet, welche deutschen Journalisten von namhaften Zeitungen und anderen Medien im Vorfeld für Organisationen der USA und der NATO tätig sind. Zum Beispiel ist nicht zu übersehen, dass unsere westlichen Freunde direkten Einfluss auf wichtige Politiker der Grünen haben – auf Annalena Baerbock, auf Herrn Fücks, auf Marieluise Beck, auf die Herren Özdemir und Habeck. Das ist doch so offenkundig, dass man daraus kein Geheimnis mehr machen muss.

Ich habe es übrigens selbst erlebt, wie während meiner Zeit im Deutschen Bundestag einzelne meiner Kolleginnen und Kollegen von atlantischen Organisationen und Interessen beeinflusst wurden. Da ist es immer wieder passiert, dass einzelne Kollegen von internationalen Treffen zurückkamen und in der Fraktion der SPD berichteten, dass ihre ausländischen Gesprächspartner von Deutschland fordern, dass es endlich ein „normales Land“ würde.

Was war mit einem normalen Land gemeint? Normal war als aus der Sicht der Briten, der US-Amerikaner und Franzosen, sich an militärischen Interventionen außerhalb des NATO-Bereiches zu beteiligen. Ohne Zweifel haben die Alliierten schon in meiner Fraktion ihre Einflussagenten installiert. Sie haben das darüber hinaus in den Vorfeldorganisationen der Parteien getan, zum Beispiel bei der Heinrich-Böll-Stiftung und auch bei der Friedrich-Ebert-Stiftung. Heinrich Böll würde sich im Grabe umdrehen, wenn er von diesem Missbrauch seines Namens erfahren würde.

Zusammenfassend: man wird die Welt nicht mehr verstehen, wenn man die Wirkung der Propaganda und der Einflussagenten nicht in die Betrachtung einbezieht.

Wohin steuert unser Land?

In Richtung Rüstung statt in Richtung Abrüstung. Wahrscheinlich auch in Richtung Krieg.

Wenn Sie das nicht so sehen, dann kann ich das verstehen und bewundere Sie. Aber bedenken Sie: wenn Personen mit wichtigen Ämtern sagen: wir werden gewinnen, wir werden Russland ruinieren, dann wird das wahrscheinlich beim gegenüber Wirkung zeigen. Wer am Verlieren ist, wird dann auch zu den schrecklichsten Waffen greifen.

Bitte erinnern Sie sich an die Entspannungsformel der sechziger Jahre: Wandel durch Annäherung. Positiver Wandel beim gegenüber durch Abbau der Konfrontation. – Diese Strategie wir erfolgreich.

Aber es kann auch umgekehrt laufen. Es gibt auch Wandel zum Schlechteren durch Konfrontation.

Auch in Russland gibt es keine homogene Willensbildung. Die Vorstellung, Putin würde alles alleine entscheiden, Putin würde total autonom denken und handeln können, ist ziemlich abstrus. Auch dort gibt es Militärs und religiöse Gruppen und nationalistisch geprägte Gruppen, die Einfluss zu nehmen versuchen auf die Willensbildung. Und diese Gruppen werden darauf pochen, dass man die neue Konfrontation des Westens mit Konfrontation beantwortet und übrigens auch mit einem Wandel zum Schlechteren im Inneren.

Ich begreife nicht, warum die bei uns verantwortlichen Personen diese Zusammenhänge nicht begreifen.

Wie kommen wir wieder raus aus diesem Schlamassel?

  1. Wir müssen uns aus den Fängen der USA und der NATO befreien. Das ist schwierig. Wir sind umgeben von Vasallen der USA in Europa. Aber es hilft nichts, ohne Ablösung aus den Fängen der imperialistischen Macht USA werden wir nicht die Freiheit zu einer eigenständigen Außen- und Sicherheitspolitik finden.
     
    Wenn die USA zu einer anderen Strategie finden sollten, dann wären Sie herzlich eingeladen, bei der Verständigung in Europa mitzumachen. Also: ich plädiere nicht zu einer grundsätzlichen Feindseligkeit gegenüber der USA, sondern nur gegenüber der gefährlichen imperialistischen Ideologie einflussreicher Kreise in den USA. Viel besser wäre natürlich eine einvernehmliche Konzentration auf eine friedenspolitische Lösung der Konflikte zwischen West und Ost.
  2. Es braucht eine Neubelebung der friedenspolitischen Orientierung unseres Volkes. So wie damals zwischen dem kalten Krieg der Fünfzigerjahre und Entspannungspolitik der sechziger Jahre. Die damalige Entwicklung habe ich ja zuvor schon geschildert. Das ist allerdings heute schwieriger als damals. Heute fehlt die Kriegserfahrung. Ich erinnere an die Anzeige im nordrhein-westfälischen Landtagswahlkampf von 1980 mit der Überschrift „Nie wieder Krieg“ und der Abbildung von 49 Kriegerwitwen. Diese und ihre spezielle Erfahrung gibt es heute nicht mehr. Gott sei Dank. Aber das ist zugleich ein Handikap. Da hilft nur noch massive Friedenserziehung. Wir müssen dafür sorgen, dass die Mehrheit unseres Volkes wieder begreift, was Krieg bedeutet. Dies ist wichtig, um den Frieden auf Dauer zu erreichen.

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