An ihren Worten sollt Ihr sie erkennen

An ihren Worten sollt Ihr sie erkennen

An ihren Worten sollt Ihr sie erkennen

Jens Berger
Ein Artikel von: Jens Berger

Von einem Journalismus, der sich mit nichts und niemandem gemein machen sollte, spricht heute niemand mehr. Moderne Journalisten zeigen Haltung und das nicht nur in ihren Kommentaren. Über die Sprache greift der Haltungsjournalismus bis weit in den Nachrichtenteil über. Der Zuschauer bzw. Leser bekommt dies meist noch nicht einmal wissentlich mit. Die manipulative Nutzung von Begriffen wirkt im Unterbewusstsein. Das macht sie wirkungsvoll. Von Jens Berger.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Frühling 2022. „Kiew arbeitet an der kompletten Evakuierung der Azovstal-Fabrik“. Die Ukraine brauche ihre Helden lebend, betonte Präsident Wolodymyr Selenskyj in seiner täglichen Videoansprache.
Tagesschau

Winter 1942. Berlin arbeitet an der kompletten Evakuierung von Stalingrad. Das Reich brauche seine Helden lebend, so der deutsche Reichspräsident Hitler in seiner täglichen Videobotschaft.

Sie finden die zweite Meldung absurd? Richtig, sie ist auch absurd. Genau so absurd wie die erste Meldung über eine „Evakuierung“ der ukrainischen Militärs aus dem Asow-Stahlwerk in Mariupol. Nach einer zermürbenden Kesselschlacht haben sie sich in einem Industriekomplex verschanzt und da ein Ausbruch aus dem Kessel nicht möglich ist, kapitulieren sie nun und begeben sich in Kriegsgefangenschaft. Ein relativ normaler Vorgang, der in vielen Kriegen häufig so oder so ähnlich passiert.

Auf die Idee, dies als „Evakuierung“ zu bezeichnen, ist jedoch meines Wissens noch niemand gekommen. Ebenso wenig auf die damit verbundene Idee, die „evakuierten“ Soldaten könnten gleich danach von der siegreichen Militärmacht in Bussen auf ihre Seite der Front zurückgebracht werden. Ja, Kriege sind grausam. Aber sie haben auch ihre Regeln. Dazu gehört, dass Soldaten des Feindes, die sich ergeben, bis zum Ende des Kriegs in Kriegsgefangenschaft kommen und dort menschenwürdig versorgt werden. Warum sollte dies in der Ukraine anders sein? Warum sollte Russland feindliche Soldaten wie unbeteiligte Zivilisten behandeln? Bei neutraler Betrachtung käme wohl niemand auf diese Idee, die erst durch den Begriff „Evakuierung“ entstehen kann. Denn wenn man von einer „Evakuierung“ spricht, heißt dies laut Lexikon, dass man damit die vorübergehende Räumung eines Gebietes von den dort befindlichen Zivilisten meint. Die „Verteidiger von Asow-Stahl“ sind aber weder Zivilisten, noch kommen sie jemals in das Stahlwerk zurück. Der Begriff „Evakuierung“ ist somit völlig unpassend. Er erreicht jedoch im Sinne der Meinungsmache das gewünschte Ziel.

Hat die Tagesschau im Afghanistankrieg eigentlich auch gemeldet, dass eingekesselte Kämpfer der Taliban „evakuiert“ werden sollten und ein Taliban-Anführer dabei „unterstreiche“, dass „Afghanistan seine afghanischen Helden lebend brauche“? Nun ja, die Taliban wurden dann ja auch in einem ganz bestimmten Sinn „evakuiert“; und zwar nach Guantánamo, da die USA sie als „irreguläre Kombattanten“ sahen, für die die internationalen Abkommen zur Behandlung von Kriegsgefangenen nicht gelten. Unsere Haltungsjournalisten hatten damit kein Problem. Aber wehe, Russland käme auf die Idee, die rechtsextremen Kämpfer des Asow-Bataillons oder die im Stahlwerk verschanzten internationalen Söldner als „irreguläre Kombattanten“ anzusehen und sie in ein sibirisches Guantánamo zu stecken. Der Aufschrei deutscher Journalisten wäre wohl bis dorthin zu hören. Dabei gilt zumindest für die Söldner in der Tat das Kriegsvölkerrecht nicht und sie haben keinen Anspruch auf den rechtlichen Status eines Kriegsgefangenen. Es wird sich zeigen, ob unsere Medien diesen Zusammenhang, den sie beispielsweise für tschetschenische Söldner in Afghanistan wie selbstverständlich erklären konnten, nun auch auf amerikanische, britische oder deutsche Söldner in Mariupol übertragen.

Und wo wir schon mal beim Völkerrecht sind. Ja, die russische Invasion stellt einen Angriffskrieg dar. Diese simple Feststellung scheint jedoch für moderne Nachrichtenformate zu schwach zu sein. Wenn von einem Angriffskrieg die Rede ist, dann ist dieser Begriff so gut wie immer mit dem Attribut „völkerrechtswidrig“ oder „verbrecherisch“ versehen. Liebe Kollegen, gibt es auch einen Angriffskrieg, der im Einklang mit dem Völkerrecht steht? Das wäre mir neu.

Warum dann die stetige Nutzung dieser Tautologie? In den Nachrichtenformaten ist ja auch nie die Rede von „toten Leichen“ oder „gesetzwidrigen Verbrechen“. Leichen sind immer tot, Verbrechen immer gesetzwidrig und Angriffskriege sind laut UN-Charta immer völkerrechtswidrig. Punkt.

Die stetige Nutzung dieser Doppelung beim russischen Angriffskrieg – pardon, ich meine, „Putins verbrecherischem, völkerrechtswidrigem Angriffskrieg“ – gegen die Ukraine ist jedoch sicher kein Zufall. Denn bei den Zuschauern oder Lesern setzt sich so der Trugschluss fest, dass es, wenn Tagesschau und Co. im konkreten Kontext immer von „völkerrechtswidrigen Angriffskriegen“ sprechen, im Umkehrschluss ja sicher auch Angriffskriege geben muss, die nicht völkerrechtswidrig sind. Auch wenn das schlichtweg falsch ist, werden unsere Haltungsjournalisten das sicher in der Tat so sehen und im Rahmen ihrer Meinungsmache transportieren wollen.

Oder haben Sie in der Vergangenheit in der Tagesschau jemals den Begriff „völkerrechtswidriger Angriffskrieg“ im Kontext mit den US-Kriegen in Afghanistan, Irak, Libyen oder Syrien gehört? Oder war gar der NATO-Krieg gegen Serbien ein „Angriffskrieg“ und dann auch noch „völkerrechtswidrig“ oder gar „verbrecherisch“? Quod licet Iovi, non licet bovi. Was Bush oder Obama gestattet ist, ist Putin noch lange nicht gestattet.

Aber klar, Angriffskrieg ist nicht gleich Angriffskrieg. Es macht einen himmelweiten Unterschied, wer ihn angefangen hat. Die Angriffskriege des Westens sind schließlich nicht „verbrecherisch“, sondern „humanitär“. Der Westen will Brunnen bauen, Frauen befreien und ein zweites Auschwitz verhindern. Das weiß doch jedes Kind … dank unserer Haltungsjournalisten.

Die NachDenkSeiten sind für eine kritische Meinungsbildung wichtig, das sagen uns sehr, sehr viele - aber sie kosten auch Geld und deshalb bitten wir Sie, liebe Leser, um Ihre Unterstützung.
Herzlichen Dank!