Koreanische Halbinsel: Rückfall in die Konfrontation

Koreanische Halbinsel: Rückfall in die Konfrontation

Koreanische Halbinsel: Rückfall in die Konfrontation

Rainer Werning
Ein Artikel von Rainer Werning

Seit dem 10. Mai amtiert mit dem früheren Generalstaatsanwalt Yoon Suk-Yeol (61) ein neuer Präsident der Republik Korea (ROK – Südkorea) in Seoul. Während sein Vorgänger Moon Jae-In wenigstens darauf bedacht war, gegenüber der Demokratischen Volksrepublik Korea (DVRK – Nordkorea) einen sorgsam austarierten Kurs der Versöhnung und Annäherung zu verfolgen, polterte Yoon bereits im Wahlkampf martialisch gegen die DVRK. Kein verheißungsvoller Start seiner fünf Jahre währenden Amtszeit. Ein Kommentar von Rainer Werning.

Unvergessen sind und bleiben die schrillen Kriegstöne, die Yoon als Kandidat der konservativen People Power Party während einer Präsidentschaftsdebatte im Februar anschlug, als er wörtlich erklärte:

„Frieden kann nur aufrechterhalten werden, wenn es eine starke Abschreckung gibt. Ein Krieg kann nur verhindert werden, wenn man sich die Fähigkeit zu einem Präventivschlag sichert und den Willen zeigt, diesen auch durchzuführen. Wie wir in der Ukraine gesehen haben, können die nationale Sicherheit und der Frieden eines Landes nicht mit Papier und Tinte geschützt werden.“

Etwa 40.000 Menschen waren am Dienstag, dem 10. Mai 2022, vor dem Gebäude der Nationalversammlung in Südkoreas Hauptstadt Seoul erschienen, um an der feierlichen Zeremonie der Amtseinführung des neuen Präsidenten teilzunehmen. Mit 3,3 Milliarden Won (umgerechnet 2,6 Millionen US-Dollar) war sie die bis dato aufwändigste und teuerste ihrer Art. Der aus dem Amt scheidende Präsident Moon und die angeklagte Ex-Präsidentin Park Geun-Hye, die kürzlich begnadigt und aus dem Gefängnis entlassen wurde, waren ebenso anwesend wie Douglas Emhoff, der Ehemann von US-Vizepräsidentin Kamala Harris. US-Präsident Joe Biden hatte ihn mit der Leitung einer achtköpfigen Delegation zu der Veranstaltung beauftragt. Auch Japan und die Volksrepublik China hatten hochrangige Vertreter nach Seoul geschickt, um gegenüber Yoon Goodwill zu demonstrieren. Die Zeremonie wurde von marschierenden Armeekapellen, Soldaten in Festkleidung sowie einem 21-Schuss-Salut begleitet.

„Multiple Probleme“

Vorrangiges Anliegen der neuen Regierung sei es, so Yoon in seiner Antrittsrede wörtlich, eine Nation wiederherzustellen, die „ganz und gar dem Volk gehört“. Dies solle auf „der Grundlage der freien Demokratie und der Marktwirtschaft“ geschehen. Als neuer Präsident wolle er den Forderungen der Zeit entsprechen, damit das Land seine Verantwortung und Rolle innerhalb der internationalen Gemeinschaft erfülle. Die Covid-19-Pandemie, Lieferkettenprobleme, der Klimawandel, Nahrungs- und Energieknappheit sowie geringes Wachstum und politische Polarisierung bezeichnete er als „multiple Probleme“, die von der aktuellen Politik wegen einer Krise der Demokratie nicht hätten bewerkstelligt werden können.

Ein Anti-Intellektualismus, so der neue Präsident, habe bei Meinungsunterschieden zwischen verschiedenen politischen Gruppen zur Verzerrung der Wahrheit geführt und so die Demokratie gefährdet. Es gelte nunmehr, die Werte der Freiheit neu zu definieren, um solche Krisen zu überwinden. Geflissentlich verschwieg Yoon in diesem Zusammenhang die Rolle seines eigenen politischen Lagers, das in dem mit harten Bandagen, frauenfeindlichen Statements und persönlichen Beleidigungen gespickten Wahlkampf punkten wollte und auf diese Weise vor allem unter jugendlichen Wählern reichlich Verdruss schürte. Die nämlich plagen andere Sorgen: Dauerstress von Kindesbeinen an, hohe Mieten, unerschwingliche Immobilienpreise, wachsende Arbeitslosigkeit, düstere Jobaussichten. Nach wie vor leidet die mittlerweile weltweit zehntstärkste Wirtschaftsmacht (gemessen am Bruttoinlandsprodukt) unter schweren sozialen Problemen: In der OECD, der Organisation für wirtschaftliche Entwicklung, rangiert Südkorea unter jenen Ländern, die die höchste Selbstmordrate unter Jugendlichen aufweisen und wo Kinder im weltweiten Maßstab mit zu den unglücklichsten gehören.

Zum Wirtschaftswachstum äußerte Yoon, dass nur Wissenschaft, Technologie und Innovation Gelegenheiten für einen Sprung des Landes nach vorne und schnelles Wachstum böten. An die Adresse Nordkoreas gerichtet, erklärte der Präsident, er werde Pjöngjang mit einem „kühnen Plan“ helfen, die Wirtschaftskraft der Volksrepublik wiederzubeleben und anzukurbeln. Allerdings unter der Voraussetzung, deren politische Führung unternehme ernsthafte Schritte in Richtung einer Denuklearisierung. Eine auch seitens der „Schutzmacht“ USA fortlaufend geäußerte Forderung, die hohl bleibt, solange nicht das Gegenseitigkeitsprinzip gilt, wonach im Gegenzug eine Lockerung von Sanktionen in Aussicht gestellt wird. Um seine martialischen Wahlkampftöne etwas zu dämpfen, signalisierte Yoon, die Tür zum Dialog mit Pjöngjang geöffnet zu halten. Südkoreas designierter Vereinigungsminister Kwon Young-Se sprach in diesem Zusammenhang sibyllinisch von einer „flexiblen Harmonie“. Darunter versteht er das Berücksichtigen von Prinzipien in Verbindung mit Praktikabilität.

Da Nordkorea nach gut zweijähriger Abschottung vor wenigen Tage die ersten Covid-19-Erkrankungen mit tödlichem Ausgang meldete, bleibt abzuwarten, ob und in welchem Maße da der „südliche Bruder“ medizinische Hilfe im Geiste „flexibler Harmonie“ leistet. Unter Moon Jae-In verfolgte Seoul immerhin eine Politik des Engagements gegenüber Pjöngjang und agierte als entscheidender Vermittler des Gipfeltreffens zwischen Nordkoreas Staatschef Kim Jong-Un und dem damaligen US-Präsidenten Donald Trump. Doch die Gespräche scheiterten Anfang 2019 in der vietnamesischen Hauptstadt Hanoi und harren bis dato eines neuerlichen Impetus.

„Proimperialistisch“ und „US-hörig“

In Pjöngjang überwiegt derweil die Skepsis Yoon gegenüber, den die nordkoreanische Propaganda bereits vor seinem Amtsantritt als „proimperialistisch“ und „US-hörig“ kritisierte. Nordkorea hat in diesem Jahr bereits 15 Raketenstarts durchgeführt und im März mit dem Abschuss einer Interkontinentalrakete sein selbst auferlegtes Moratorium für Langstreckenraketentests nach mehr als vier Jahren beendet. Darüber hinaus zeigt sich der Norden erbost über fortgesetzte gemeinsame Militärübungen zwischen den USA und Südkorea. Es betrachtet diese als provokante Kriegsproben, was Seoul und Washington ihrerseits als unhaltbare Anschuldigung zurückweisen.

Ausgerechnet am Tag von Yoons Amtsantritt, am 10. Mai, erschien Generalleutnant Scott Berrier, Direktor des US-Verteidigungsnachrichtendienstes, auf dem Capitol Hill in Washington und erklärte während einer Haushaltsanhörung des Streitkräfteausschusses des Senats zur Einschätzung der globalen Bedrohungslage:

„Wir gehen davon aus, dass Nordkorea seine nuklearen, raketengestützten und militärischen Modernisierungsbemühungen im Jahr 2022 fortsetzen wird, um seine strategische Abschreckung zu stärken und den militärischen Fähigkeiten der amerikanisch-südkoreanischen Allianz entgegenzuwirken.“

Des Weiteren heißt es in Berriers Bericht:

„Um die Stärke und Entschlossenheit Nordkoreas zu demonstrieren, könnte die Führung weitere Raketentests verschiedener ballistischer und Marschflugkörper in Erwägung ziehen, einen Cyberangriff oder einen weiteren Atomtest durchführen (…) Nordkorea wird wahrscheinlich weiterhin seine Handlungen rechtfertigen, indem es die US-Politik, die militärische Modernisierung Südkoreas und die gemeinsamen Militärübungen der USA und Südkoreas als Vorwand benutzt, um die militärischen Fortschritte Nordkoreas zu normalisieren.“

Die Äußerungen des Generalleutnants fügen sich in Spekulationen ein, dass Pjöngjang eventuell noch in diesem Monat einen neuerlichen Atomtest durchführen könnte, um auf diese Weise sein Druckmittel bei möglichen Verhandlungen mit den USA zu verstärken.

Neuer Amtssitz, neue Japanpolitik

Yoon, dessen Wahlsieg nur denkbar dünn ausfiel und der sich gegen eine oppositionelle Mehrheit in der Nationalversammlung behaupten muss, vollzog einen wenig populären Schritt, als er sich für die Verlegung des Präsidialamtes aus dem jahrzehntealten Blauen Haus aussprach. Kritisiert wird in der Öffentlichkeit, dass dies unnötig sei und vor allem einen kostspieligen Umzug bedeutet.

Yoon bezeichnete das Blaue Haus, das sich an einem Ort befindet, der von 1910 bis 1945 von der japanischen Kolonialverwaltung genutzt wurde, als „Symbol der kaiserlichen Macht“ und behauptete, der Umzug würde eine demokratischere Präsidentschaft gewährleisten. Das Gelände des Blauen Hauses soll als Park für die Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden.

Im Gegensatz zu seinem liberalen Vorgänger Moon, der nebst einer aktiven innerkoreanischen Politik kritisch auf Distanz zum Nachbarland und der früheren Kolonialmacht Japan blieb, strebt Yoon eine gezielte Annäherung an Tokio an. In den letzten Jahren war es u.a. wegen der Problematik ehemaliger Zwangsprostituierter (euphemistisch „comfort women“ genannt) der Kaiserlich-Japanischen Arme während des Zweiten Weltkriegs zu einem heftigen Schlagabtausch zwischen Seoul und Tokio gekommen. Zeitweilig eskalierte dieser dermaßen, dass gegenseitige Boykottmaßnahmen ergriffen wurden.

Was ist, was bleibt derweil? Der schrille Anachronismus, dass auch knapp 70 Jahre nach dem Ende des Koreakriegs (1950-53) dieser offiziell noch immer nicht beendet ist. Nach wie vor existiert lediglich ein Waffenstillstandsabkommen entlang der weltweit höchstmilitarisierten Grenze, das noch immer nicht in einen Friedensvertrag überführt werden konnte.

Titelbild: pablofdezr / Shutterstock