Jetzt erst also kommt der Ernstfall?

Jetzt erst also kommt der Ernstfall?

Jetzt erst also kommt der Ernstfall?

Ein Artikel von Frank Blenz

Das tägliche Zeitunglesen geschieht heutzutage oft via Internet, so auch die Morgenlektüre. Und sogleich möchte man wieder ins Bett gehen, wenn man Kommentare wie den bei T-Online vorgesetzt bekommt, wo heute Montag früh unter der Rubrik „Tagesanbruch“ getitelt wurde: „Jetzt kommt der Ernstfall.“ Was der Autor über unser aller Lage loslässt, liest sich nicht wie die Meinung eines freien Journalisten, sondern wie eine Regierungssprecherverlautbarung, eine Zurechtbiegung und Verdrehung von Ursache und Wirkung. Als Einstieg in den Tag lässt der Autor zudem – wie viele seiner Geistesgenossen – Vorschläge vermissen, wie der Ernstfall verhindert und/oder so gemildert werden kann, dass wir wieder aufatmen und optimistisch in die Zukunft blicken können. Optimismus, Friedfertigkeit, Zusammenarbeit, Konzepte, Koexistenz – all die Wörter fehlen. Und das bei einem Meinungsartikel. Ok, man kann ja auch der Meinung sein, dass Eskalation etwas Gutes hat. Ein Einspruch wider so einen Tagesanbruch von Frank Blenz.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Dem Kommentator sei zunächst bestätigt: Ja. Die Lage ist ernst. Doch sie war es schon lange. Sie hat sich zu einem großen Ernst aufgebaut. Man hat gerade mehr und mehr den Eindruck, dass das absichtlich geschieht, diese Eskalation wird auf die Spitze getrieben, vor allem von Menschen, die meinen, nicht vom Ernstfall betroffen zu sein, ja sogar von diesem zu profitieren. Der T-Online-Autor Bastian Brauns macht da auch mit, so mein Eindruck, er macht sich seinen (scheinbar eigenen) Reim auf Ursache und Wirkung und meint, dass „durch energiepolitische Entscheidungen der letzten Jahrzehnte ausgerechnet der Bereich in Gefahr gerate, der am meisten profitiert habe: die Industrie“. Welche Entscheidungen das waren, damit wird der Leser allein gelassen.

Und nein, dass das Gas als wichtiger Rohstoff nicht so fließt wie bisher und das zu ähnlichem Preis, das ist nicht das Werk anderer, es ist selbst verschuldet. Diese Schuld wird geleugnet. Der Autor meint, dass Deutschland sich „derart ausweglos von russischem Gas abhängig gemacht habe“, und erzählt von Nord Stream I, von der Leitung, die der russische Staatschef gerade „abgedreht“ hat. Von der zweiten Leitung kein Wort, allein, dass die Abschaltung zehn Tage dauern soll, wegen Wartungsarbeiten. Im Grunde ist das doch in Ordnung, wenn eine Reparatur ansteht. Alternativen sind doch vorhanden, oder? Da war doch noch was? Eine zweite Leitung und andere Leitung von Ost nach West, genannt Nord Stream II. Und wer es noch nicht weiß, im Ostseebad Lubmin gibt es die entscheidende Empfangsstation der Pipeline Nord Stream 2. Diese Übernahmestation ist in Betrieb.

Das Drama aber geht weiter. Dass das jetzige Innehalten, dieser Stopp, eine Vorlaufzeit, eine eigene Verursachung hat, wo schreibt der Autor das? Die entscheidende Turbine von Nord Stream I ist in Kanada zur Reparatur. Das nordamerikanische Land hatte dann im Einklang mit Deutschland und den anderen willigen Sanktionierern versus Russland (vorübergehend) entschieden: Die Turbine wird nicht herausgerückt, das wäre ja noch schöner, Russland muss die Kraft der Willigen spüren.

Und nun? Nun spüren wir unsere eigene Blödheit und Borniertheit und Sturheit und die Folgen von Hass und Kalkül von Entscheidungsträgern, die ganze Länder zum Spielball geopolitischer Strategien machen. Hier sind wir, ist Deutschland also dran. Morgenkommentator Brauns fährt fort:

Aber bleibt es wirklich bei den angekündigten zehn Tagen? Die Sorge der Bundesregierung, insbesondere von Wirtschaftsminister Robert Habeck, dass der Kreml den Gashahn anschließend gar nicht mehr öffnen könnte, ist groß. „Alles ist möglich. Alles kann passieren“, warnte er am Sonntag erneut in einem “Deutschlandfunk”-Interview. “Wir müssen uns ehrlicherweise immer auf das Schlimmste einstellen”, so Habeck.

Sollte dieses Szenario nach dem 21. Juli wirklich eintreten, müsste in Deutschland womöglich sehr viel schneller die dritte Gas-Notfallstufe ausgerufen werden. Das Gas in den deutschen Gasspeichern reicht dann für den Herbst und Winter nicht aus. Peter Adrian, der Präsident des Deutschen Industrie- und Handelskammertags (DIHK) warnte jetzt vor einem solchen “Super-GAU”. Wenn der Fall eintreten würde, dass Betriebe ihre Produktion einstellen müssten, dann befürchte er “ganz klar eine Rezession”. Über die negativen Auswirkungen sagte Robert Habeck: “Das wird Deutschland vor eine Zerreißprobe stellen, die wir lange so nicht hatten.”

Tatsächlich hat die letzte Stufe des “Notfallplans Gas” dramatische wirtschaftliche und soziale Folgen: Denn bei einer solchen “erheblichen Störung der Gasversorgung” würde die Bundesnetzagentur entscheiden, wer noch Gas bekommt und wem es abgestellt wird. Zwar trifft es dann zuerst die Industrie und nicht die Haushalte. Die wirtschaftlichen Folgen aber wären womöglich so gravierend, dass Deutschland in eine derartige Wirtschaftskrise rutschen würde, dass jeder Haushalt sie zu spüren bekäme. Ob diese Reihenfolge deshalb die richtige ist, darüber wird gestritten.

Die Lage ist ernst, weil den Habecks und Adrians nichts Besseres einfällt, als die aufkommende Katastrophe lediglich zu beschreiben und Angst machende Notfallpläne zu schmieden. Basta. Warum liest man nicht von ernsthaften Verhandlungen von Habeck und Co, von Wirtschaftsbossen mit Russland und anderen Nationen, warum deuten diese Leute keinerlei Entwarnung an? Der Kommentator sucht dazu keine Antworten, Fragen stellt er auch keine. Stattdessen stellt er fest, als wäre es beschlossene Sache:

So oder so: Die Deutschen werden ärmer. Denn die Energiepreise werden weiter explodieren. Wer nicht schon jetzt im Zweifel Tausende Euro für Nachzahlungen beiseitelegen kann, dem droht bei Nichtzahlung die Kündigung. Die Regierung berät deshalb bereits darüber, sogenannte Härtefallfonds einzurichten. Die Inflation wird in der Folge steigender Energiepreise immer weiter zunehmen. Das trifft ärmere Menschen besonders hart, aber längst auch die Mittelschicht. Sozialer Ausgleich wird wohl nur per weiterer Schuldenaufnahme gelingen. Bei gestiegenen Zinsen ist das ein größeres Problem als noch in der Pandemie. Steuern zu erhöhen, könnte wiederum die Wirtschaft abwürgen.

So so. Die Regierung berät über Härtefallfonds. Und Steuern erhöhen, das könnte die Wirtschaft abwürgen. Das ist doch ohne schon gut gelungen, oder? Dem Kommentarleser wird allemal der Hauptgrund Krieg als Ursache für unser Nichtstun, für unser Versagen, für unsere Bredouille vorgesetzt und die Zusammenarbeit mit einem anderen Land als „Abhängigkeit“ madig gemacht. Ironisch gedacht, könnte man sagen: Stimmt schon, wie kann man aber auch auf unserer schönen Erde, die von Lebewesen, den Menschen bewohnt wird, die als soziale, empathische Wesen nur überleben, wenn diese zusammenarbeiten und in konstruktiver, gegenseitiger Abhängigkeit leben, wie kann man dabei bleiben, dass man es für unsinnig hält, sich abhängig zu machen? Von der EU, von den USA, von der NATO usw. – von denen sind wir nicht abhängig?

Richtig ist doch, dass die Verächtlichmachung des Wortes „Abhängigkeit“ zur Verschlechterung der Beziehungen zwischen den Ländern führt. Was ist dabei, wenn wir voneinander abhängig sind? Wir liefern Dinge und Ideen und bekommen Dinge und Ideen. Was andere haben, bekommen wir so und genau so auch andersherum. Das geschieht weltweit. Immer. Wie soll die Geschichte aber ausgehen, mit dem größten Land der Welt, welches über große Ressourcen verfügt, nichts mehr zu tun haben zu wollen, um dann aktuell scheinheilig darüber zu klagen, dass eben dieses Land sich von uns als Gegenreaktion unseres Handelns abwendet und gerade auch die Zähne zeigt?

Der Morgenkommentator hat keine Antworten parat. Er zählt die News auf, die Preissprünge, redet vom „heißesten Rohstoff der Welt“. Ja, das ist ja alles ganz spannend. Und schaut zu, wie es den Westen inklusive Deutschland um so härter trifft.

Nicht nur Deutschland, die ganze Welt ist durch den russischen Angriffskrieg im Umbruch. Die brutale Realität dabei ist, dass trotz aller bisherigen Sanktionen des Westens der Krieg unvermindert weitergeht. Russland verkauft seine Rohstoffe jetzt nach China und nach Indien. Der asiatische Raum wird künftig vom günstigen Erdgas profitieren. Bislang mussten die Staaten dort das teurere Flüssiggas LNG kaufen.

Erdgas, ob flüssig oder nicht, ist derzeit der wohl am heißesten gehandelte Rohstoff der Welt. Seine Preissprünge sind Treiber der globalen Inflation. In Europa liegt der Preis rund 700 Prozent über dem vom Anfang des letzten Jahres. Was im Kalten Krieg einst das Öl war, scheint im neuen Mehrkampf der Großmächte das Erdgas zu sein.

Den Westen trifft es darum umso härter, vorneweg Deutschland und Europa. Zumindest so lange die erneuerbaren Energieträger-Alternativen, geschweige denn eine grüne Wasserstoffindustrie, noch nicht weit genug ausgebaut sind. All das wird noch Jahre dauern.

Diese Zeit zu überbrücken, ohne soziale Verwerfungen, ist die wohl größte Aufgabe unserer Zeit. Nichts fürchten die Regierungen, ob in Deutschland, Europa oder den USA mehr, als dass ihnen der Rückhalt in der eigenen Bevölkerung wegbricht. Schon jetzt muss die US-Regierung gegen irreführende Behauptungen ankämpfen, dass Amerikas Energiepreise nur deshalb so hoch seien, weil die USA ihre Rohstoffe nach Europa lieferten.

Zum Finale dann schreibt Brauns gar, dass die Regierungen in Deutschland, Europa oder den USA einen Rückhalt in der Bevölkerung hätten, der wegbrechen könnte. Was für einen Rückhalt? Für das Gegen-die-Wand-Fahren? Der Rückhalt ist schon weggebrochen, es ist längst an der Zeit, einen konsequenten Kurswechsel zu beginnen. Wie wäre es mit Entspannungspolitik, mit Maßnahmen, die denen der Pandemie gleichkommen, in der doch über Nacht alles möglich wurde (und weiter möglich ist), was vorher als „Maßnahme“ ohne Einspruchsmöglichkeit undenkbar schien?

Entspannungspolitik schließt auch ganz dringend ein, dass die Diplomatie Tag und Nacht arbeiten muss, dass die Medien moderate Töne finden müssen, dass man zu Schlagzeilen wie heute früh, „Selenskyj will mit einer Million Soldaten den Süden der Ukraine zurückerobern“, deutlich sagt: Nein. Keine Kriegsverlängerung. Frieden muss das Ziel sein. Für all das braucht es nur politischen Willen.

Titelbild: DesignRage / Shutterstock