Sicherheitspolitik und die westliche Dämonisierung Russlands und seiner Bürger

Sicherheitspolitik und die westliche Dämonisierung Russlands und seiner Bürger

Sicherheitspolitik und die westliche Dämonisierung Russlands und seiner Bürger

Ein Artikel von Jürgen Hübschen

Wie der Ukraine-Krieg beendet und wie der Frieden und eine stabile Sicherheitsstruktur danach gestaltet werden sollen, steht leider noch immer nicht auf der Agenda der Kriegsparteien und vor allem nicht auf der aktuellen Tagesordnung der westlichen Staaten, die die Ukraine unterstützen. Der folgende Beitrag beschäftigt sich nur indirekt mit dem Krieg, sondern damit, wie die westlichen Politiker, Organisationen und auch die Medien mittlerweile mit den russischen Menschen umgehen und wie angesichts dessen unsere Sicherheit in der Zukunft gewährleistet werden soll. Von Jürgen Hübschen.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Gottes eigenes Land, die auserwählte Nation und die amerikanische Selbstgerechtigkeit

Der Biograph des US-Präsidenten Abraham Lincoln und republikanische Senator von Indiana, Albert J. Beveridge, hat in einer Rede vom 9. Januar 1900 gesagt:

Gott hat uns zu den Meisterorganisatoren der Welt gemacht, um System an die Stelle von Chaos zu setzen. Und aus unserer ganzen Rasse hat Er das amerikanische Volk als seine auserwählte Nation herausgehoben, um endlich den Weg zu bahnen zur Erlösung der Welt.“

Mit diesem Grundverständnis hat US-Präsident George W. Bush 2003 den völkerrechtswidrigen Krieg gegen den Irak geführt, um den damaligen Präsidenten Saddam Hussein zu stürzen. Auf einer Pressekonferenz im Weißen Haus erklärte George W. Bush am 7. März 2003:

Wenn es um unsere Sicherheit geht, brauchen wir keine Erlaubnis von irgendjemandem, auch eine Zustimmung des UN-Sicherheitsrates nicht. Mein Glaube trägt mich, weil ich täglich bete…“

Als Bush von dem US-amerikanischen Journalisten Bob Woodward in einem Interview gefragt wurde, was er gedacht und empfunden habe, bevor er am 19. März 2003 seinen Truppen den Angriffsbefehl gegeben habe, antwortete Präsident Bush wie folgt:

Es war sehr emotional für mich; ich habe gebetet. Ich betete, dass unsere Truppen sicher sind, dass sie vom Allmächtigen beschützt werden. Ich habe um die Kraft gebetet, den Willen des Herrn zu tun. Ich habe gebetet, dass ich ein möglichst guter Botschafter seines Willens sein möge. Und natürlich betete ich um persönliche Stärke und um Vergebung.”

Um jedes Missverständnis auszuräumen, füge ich hinzu, dass es hier in keiner Weise um eine Scheinheiligkeit des US-Präsidenten geht, sondern darum, dass er davon überzeugt ist, eine Mission zu erfüllen. An anderer Stelle nannte er sich in diesem Zusammenhang „the chosen one“ , der Auserwählte.

Am Ende dieses Krieges haben die letzten US-Kampftruppen bei Nacht den Irak über die kuwaitische Grenze verlassen. Zurückgeblieben ist ein weitgehend zerstörtes Land, das sich aktuell einmal mehr darum bemüht, den iranischen Einfluss nicht noch stärker werden zu lassen. Niemand kümmert sich darum, dass es in Falludscha, westlich von Bagdad, die meisten missgebildeten Kinder weltweit gibt, weil die US-Truppen massiv uranhaltige Munition eingesetzt hatten. Vergessen und ungesühnt sind die Folterungen von irakischen Gefangenen durch US-Soldaten in Abu Ghraib. Bis heute hat kein westlicher Politiker gefordert, George W. Bush und seine Administration für diesen Angriffskrieg vor dem Internationalen Gerichtshof zur Rechenschaft zu ziehen, oder den Präsidenten einen Kriegsverbrecher oder gar Schlächter genannt. Der einzige US-Politiker, der sich im Nachhinein zu diesem Krieg öffentlich geäußert hat, war der mittlerweile verstorbene US-Außenminister Colin Powell, der sein Belügen des UN-Sicherheitsrates und der Weltgemeinschaft als Begründung für den Krieg gegen den Irak als einen „Schandfleck“ in seiner Karriere bezeichnet hat. Ähnlich lapidar hat der ehemalige US-Präsident Barack Obama den völkerrechtswidrigen Krieg in Libyen bewertet, indem er ihn als die „größte politische Fehlentscheidung seiner Präsidentschaft“ bezeichnete.

Die westliche Staatengemeinschaft hat sich mit diesen Fehlentscheidungen, um das Wort „Verbrechen“ zu vermeiden, abgefunden, keine Sanktionen verhängt, keine Bestrafungen gefordert und vor allem auch keine US-amerikanischen Bürger als Strafe für das Verhalten ihrer politischen Führer von irgendwelchen internationalen Veranstaltungen und Begegnungen ausgeschlossen.

Präsident Putin und das russische Volk

Ich habe dieses US-amerikanische Verhalten und die von den USA zu verantwortenden Kriege nicht in Erinnerung gerufen, um den aktuellen Krieg des russischen Präsidenten gegen die Ukraine in irgendeiner Weise zu rechtfertigen, weil man ein Unrecht nicht gegen ein anderes aufrechnen darf. Nein, ich will damit nur aufzeigen, wie unterschiedlich der Westen auf durchaus vergleichbare Ereignisse reagiert. Ich maße mir kein Urteil darüber an, ob diese unterschiedliche Reaktion unserer Politiker und auch der Medien darin begründet ist, dass es sich bei den amerikanischen Kriegen um das Vorgehen einer demokratisch legitimierten Regierung gegen diktatorische Systeme gehandelt hat, während im Fall der Ukraine ein aus westlicher Sicht nicht demokratisch legitimierter Präsident ein Land angegriffen hat, von dem der Westen überzeugt ist, dass es sich um eine Demokratie, auf jeden Fall aber um einen verbündeten Staat handelt.*

Ich maße mir deshalb kein Urteil an, weil für mich als Laien die aufgezeigten Beispiele völkerrechtlich identisch erscheinen. Diese unterschiedliche Bewertung vergleichbarer Sachverhalte ist das Eine, aber die Einbeziehung eines Volkes in Sanktionen und persönliche Ächtung von Bürgern ist das Andere. Das russische Volk darf für die Taten seines Präsidenten nicht mitverantwortlich gemacht oder gar in Geiselhaft genommen werden.

Maßnahmen der westlichen Staatengemeinschaft gegen russische Bürger

Seit Kriegsbeginn übertreffen sich Politiker, staatliche und auch nicht staatliche Organisationen in ihren Sanktionen und Strafmaßnahmen gegenüber russischen Staatsbürgern, die im westlichen Ausland leben oder an Veranstaltungen außerhalb von Russland teilnehmen wollen. Irgendwie scheinen die russischen Menschen alle mit Putin gleichgesetzt zu werden, obwohl sie diesen unter Umständen weder gewählt haben noch für sein Verhalten in irgendeiner Weise mitverantwortlich sind.

Dafür nur einige besonders eklatante Beispiele: Russische Sportler durften nicht an der „Behinderten-Olympiade“ teilnehmen, auf die sie sich jahrelang vorbereitet hatten, nicht um den russischen Staat zu repräsentieren, sondern weil sie im Rahmen ihrer Möglichkeiten begeisterte Sportler sind. Vom Tennis-Turnier in Wimbledon wurden weißrussische und russische Sportler ebenfalls wegen des Krieges gegen die Ukraine ausgeschlossen.

Russische Dirigenten dürfen in Deutschland nicht mehr auftreten, weil ihnen vorgeworfen wird, eine enge Beziehung zum russischen Präsidenten zu unterhalten. Deshalb sollten sie sich offiziell von Putin distanzieren. Wie weltfremd muss man denn sein, um ein solches Statement von Künstlern im Ausland zu verlangen, die sicherlich Familienangehörige in Russland haben, die dafür die Konsequenzen tragen müssten. Hier werden praktisch Menschen für politische Entscheidungen in Geiselhaft genommen, die sie überhaupt nicht zu verantworten haben und auch nicht hätten ändern können. Man gewinnt langsam den Eindruck, dass Staatsbürger westlicher Länder ihr eigenes Gewissen zu beruhigen versuchen, indem sie sich von allem distanzieren, das auch nur irgendwie mit Putin in Verbindung gebracht werden könnte.

Es ist schon schlimm genug, mit lebenden Russen so zu verfahren, aber jetzt werden auch die toten Russen in diese Hetze einbezogen, indem russische Soldaten nicht mehr gemeinsam mit deutschen Kameraden daran arbeiten können, Gefallene einer deutsch-russischen Kesselschlacht des 2. Weltkrieges zu identifizieren und ihnen eine würdige letzte Ruhestätte zu schaffen. Diskriminieren und Ächtung im Umgang mit Gefallenen, da fällt einem wirklich nichts mehr ein.

Das Wesen westlicher Sicherheitspolitik

Sicherheit hat nicht nur politische und militärische Aspekte, sondern umfasst auch wirtschaftliche, soziale und kulturelle Bereiche. Sie basiert auf Erkenntnissen aus der Vergangenheit und der Gegenwart, um auf diesen Grundlagen eine sichere Zukunft zu gestalten. Im konkreten Fall hat der Westen es Ende der 1980er, Anfang der 1990er Jahre versäumt, in Zusammenarbeit mit Russland eine neue europäische Sicherheitsstruktur zu schaffen. Ein Hauptgrund dafür war das amerikanische Desinteresse an einem starken Europa ohne eine Trennung zwischen Ost und West. Das Ergebnis erleben wir heute, scheinen aber nichts dazugelernt zu haben. Sonst würde man sich nämlich nicht vorrangig damit beschäftigen, dass Russland diesen Krieg verliert und die Ukraine ihn gewinnt, sondern wie man ihn beenden kann und sich damit beschäftigen, wie eine sich anschließende europäische Sicherheitsstruktur geschaffen werden kann.

Leider passiert das nicht, und die westlichen Politiker scheinen sich auch nicht darüber im Klaren zu sein, dass jeder Krieg irgendwann endet und die Staaten und Völker danach wieder irgendwie zusammenleben müssen. Je mehr Emotionen statt Fakten, persönliche Diffamierungen des Gegners und Ächtung seiner Bürger die Lageentwicklung bestimmen, desto schwieriger wird es werden, eine für alle Betroffenen akzeptable Lösung zu finden.

In den USA und auch in Deutschland scheinen das nur Elder Statesmen zu kapieren, die eine realistische Vorstellung vom Krieg haben und vor allen Dingen auch wissen, dass es immer ein Danach geben wird. Für Deutschland heißt das konkret, dass Russland auch nach diesem Krieg, wenigstens bis zum Ural, ein Teil Europas bleiben wird, während sich das „missionarische Washington“ im Zweifelsfall hinter 6.000 km Ozean zurückziehen kann. Der amerikanische Abgang aus dem Irak und auch aus Afghanistan sollten Europa mehr als eine Warnung sein.

* Anmerkung der Redaktion: In einer ersten Version des Artikels stand, „während im Fall der Ukraine ein nicht demokratisch legitimierter Präsident ein Land angegriffen hat, von dem der Westen überzeugt ist, dass es sich um eine Demokratie, auf jeden Fall aber um einen verbündeten Staat handelt“. Gemeint war in diesem Zusammenhang, dass der russische Präsident aus westlicher Sicht nicht demokratisch legitimiert sei. Wir haben dies am 19. Juli um 9:30 Uhr präzisiert: „während im Fall der Ukraine ein aus westlicher Sicht nicht demokratisch legitimierter Präsident ein Land angegriffen hat, von dem der Westen überzeugt ist, dass es sich um eine Demokratie, auf jeden Fall aber um einen verbündeten Staat handelt“.

Titelbild: shutterstock / Khanthachai C