Die Wahrheitsoffensive

Albrecht Müller
Ein Artikel von:

Der tote Willy Brandt kann sich gegen einen Film, der seinen Sturz als Bundeskanzler behandelt, nicht mehr wehren. Von Albrecht Müller, Süddeutsche Zeitung.

SZ –

“Im Schatten der Macht” heißt der Zweiteiler, den Oliver Storz mit fachlicher Beratung von Hermann Schreiber über den Sturz Willy Brandtsals Bundeskanzler drehte. In der Süddeutschen Zeitung (Ausgabe vom 23.10.) ist das Fernsehspiel als gelungenes Beispiel gewürdigt worden für die fiktionale Darstellung historischer Stoffe. Als Spiegel-Reporter hat Schreiber Brandt oft erlebt. Regisseur Storz hatdie Rolle des DDR-Spions Günter Guillaume mit Matthias Brandt besetzt – eine gute Wahl, die man vorab als heikel einschätzen konnte. Der jüngste Sohn Willy Brandts belebt den Film mit dem Nimbus des Echten.

Die ARD strahlt “Im Schatten der Macht” Mittwoch und Donnerstag (jeweils 20.15 Uhr) aus. Egon Bahr, 1974 im Kabinett Brandts Bundesminister fürBesondere Aufgaben, kann sich mit dem Filmstoff identifizieren. Albrecht Müller, 1972 Wahlkampfchef Brandts und von 1973 an Leiterseines Planungsstabes, sieht Person und politisches Wirken des ersten SPD-Kanzlers durch den TV-Film diskreditiert. “Im Leben”, schreibt Müller in seiner Kritik, sei Brandt “nie so läppisch gewesen”, wie man angesichts der Verfilmung glauben müsste.

Gerhard Schröder hatte vor kurzem ehemalige Mitarbeiter und Mitstreiter Willy Brandts zu einer Premiere ins Kanzleramt eingeladen. Vorgeführt wurde der erste Teil des neuen Films über Brandts Rücktritt,Im Schatten der Macht. Bevor der Film anlief, erklärte der RegisseurOliver Storz, dies sei kein Dokumentarfilm, sondern ein Spielfilm, Fiktion sozusagen. Das machte stutzig. Wissen das die 20-, 30- oder40-Jährigen, die den zweiteiligen Film sehen?

Als der Film gelaufen war, betretenes Schweigen. Es gibt interessante Szenen und Dialoge in diesem Film. Aber die Darstellung der Hauptperson hat mit dem Menschen, mit dem die Mitarbeiter Brandts vor 30 Jahren gearbeitet haben, wenig zu tun. Der Regisseur wusste, warum er die Vorbemerkung machte. Dennoch werden der Film und das damit verbundene Buch Kanzlersturz von Hermann Schreiber die Meinung einesbreiten Publikums über Willy Brandt und seine Kanzlerschaft prägen. So ist das im Zeitalter des Fernsehens. Die Geschichtsschreibung über Willy Brandt ist bisher über weite Strecken nichts weiter als das Nachplappern vorgestanzter Klischees. Im Film sind sie fein säuberlichin Bilder und Dialoge gepackt. Wenn man bis zur Quelle der Klischees zurückgeht, landet man beim damaligen Medienecho.

So ist der Film in den einschlägigen Passagen ein Abklatsch der Mischung aus Spionage und Sex – genauer: von Andeutungen derselben -, die in einschlägigen Blättern wie Bild im Umfeld des Rücktritts vor fast 30 Jahren schon zu sehen war. Willy Brandt erscheint im Film alsein lethargischer Herr, dem des Nachts über Bahnsteige staksend eineblonde schwedische Journalistin zugeführt wird. Man muss nicht Mitarbeiterin oder Mitarbeiter des Bundeskanzlers Brandt gewesen sein, um diese Szenen und Texte mit ihren einschlägigen und vermutlich weitübertreibenden Andeutungen über Privates widerlich zu finden. Als ehemaliger Mitarbeiter bin ich wie andere, die mit ihm gearbeitet haben, noch mehr verwundert über die Darstellung Brandts als passiver Mensch. Eine Gruppe junger Leute, denen ich zur Kontrolle meines und meiner Kollegen Eindrücke vom Film den ersten Teil vorführte, meinten einen “psychisch labilen Mann” zu erkennen, “wie kann jemand, der so passiv ist, Bundeskanzler sein”?

So wie im Film war er nicht einmal in der Endphase seiner Kanzlerschaft, obwohl er da Fehler machte und die schon in den 60erJahren eingeläutete Treibjagd von außerhalb und innerhalb seiner Partei Verletzungen und Ermüdungserscheinungen erkennen ließ. Aber das ist entgegen der mit Film und Buch genährten Imageprägung nicht einmal der Zipfel der Wahrheit. Wir Mitarbeiter haben Willy Brandt meist als effizienten, umsichtigen Partner erlebt. Auch im Sonderzug, der im Film eine große Rolle spielt, habe ich ihn am Schreibtisch arbeitend und nicht am Couchtisch erlebt.

Ich habe bei Brandt und Schmidt an Kabinettssitzungen teilgenommen. Wieder von mir befragte Kabinettsreferent beider Bundeskanzler könnte ich nicht sagen, dass bei Brandt mehr oder weniger verschoben, nicht entschieden oder fehleingeschätzt wurde als bei Schmidt. Bevor ich mir ein Urteil erlaubte, würde ich wenigstens die Kabinettsprotokolle durchsehen.

Hermann Schreiber gelingt mit seiner Buchvorlage eine echte Innovation. Er wiederholt nicht nur die üblichen Klischees von “Willy dem Milden”, dem Zauderer, der überzogene Reformerwartungen weckte, dessen Team nicht mit Geld umgehen könne und der selbst nichts von Management undApparaten verstehe, dem “Teilkanzler”, der – nun gut – die in der großen Koalition angelegte Ostpolitik ausführte, aber von Ökonomie keine Ahnung hatte; Hermann Schreiber entdeckt zusätzlich, dass Brandtals Kanzler eine Fehlbesetzung war. Seine große Zeit sei erst hinterhergekommen. “Er trat heraus aus dem Schatten der Macht und hinein ins Licht eines globalen Comebacks als Elder Statesman” etc. Da habe sich “der eigentliche Willy Brandt” präsentiert. Kanzler zu sein, sei für ihn kein Erfolgserlebnis gewesen. Und dann zitiert Schreiber denZeitgeschichtler Hans-Peter Schwarz, als Regierungschef habe Brandt “doch eher als eine Art faszinierender Zirkusdirektor fungiert, unter und neben dem die verschiedensten Kabinettskünstler ihre Nummern aufführten oder in den Sand setzten. Und 1974 war der Zirkus ziemlich pleite”.

Brandt als Regierungschef eine Fehlbesetzung? Die strategischeLeistung, ein jahrzehntelang gegen die “Sowjets” und die Kommunisten im Osten trainiertes Volk für eine Politik der Versöhnung und desAusgleichs mit den Russen, den Polen, den Tschechen zu gewinnen – eine dahergelaufene Gelegenheit? Als Basis dafür das Vertrauen der Westmächte zu erarbeiten – eine Zirkusnummer? Der Friedensnobelpreis – ein Irrtum? Das grandiose Ansehen, das unser Volk in der Kanzlerzeit Brandts weltweit genoss und das wache Unternehmer zu nutzen wussten – eine zufällig eingetretene Gunst der Stunde? Die Integration der rebellierenden Jugend mittels des mutigen Schrittes zur Amnestie für Demonstrationsvergehen und der Einleitung innerer Reformen – ein Phantom? Der Bruch mit dem christdemokratischen Muff der ersten 20Jahre der Bundesrepublik – nicht der Rede wert? Die Reformen vom Städtebauförderungsgesetz über die Reform der Betriebsverfassung und die Dynamisierung der Kriegsopferrenten bis zum konkreten Beginn des Umweltschutzes – die Leistungen eines Zirkusdirektors?

Man kann Schreiber zugute halten, dass sein Versuch zur politischen Entsorgung Willy Brandts als Bundeskanzler von anderen Geschichtsschreibern schon angelegt ist, zum Beispiel in der gleich zweimal zitierten Behauptung von Schwarz, der Zirkus sei 1974 ziemlich pleite gewesen, oder mit Schreibers Worten, Brandts “Schweinebucht”habe im Planquadrat der Ökonomie gelegen. Das ist schick formulierter Unsinn. – Weil die Behauptung von Brandts ökonomischem Versagen so zentral ist und weil die meisten Autoren insinuieren, dass die ökonomische Pleite der eigentliche Grund für den Rücktritt war, hierzu noch ein paar Anmerkungen: Die Daten liegen auf dem Tisch. WichtigeWirtschaftsindikatoren zeigen, dass Brandts Kanzlerschaft einschließlich der davon geprägten und von der Ölpreisexplosiongebeutelten Jahre 1974 und 1975 die ökonomisch erfolgreichste Periode vom Ende der Kanzlerschaft Adenauers bis heute ist.

Weil es nicht ins Weltbild der Geschichtsschreiber passt, nehmen sie auch ein – historisch – wichtiges Papier nicht wahr, das Finanzminister Helmut Schmidt am 15. April 74, also drei Wochen vor dem Rücktritt Brandts, an den Bundeskanzler versandte. In diesem amtlich geheimgehaltenen 74-Seiten-Papier steht zu lesen, die Regierung Brandt sei mit der Weltinflation und den Folgen der Erdölverknappung besser fertiggeworden als alle vergleichbaren Länder; es gebe kein Industrieland, das eine vergleichbar gute Bilanz sowohl der Preisentwicklung als auchder Beschäftigungslage aufzuweisen habe; in den ersten Monaten des Jahres 1974 – und damit den letzten Monaten des Kanzlers Brandt – habe die Bundesrepublik, wie die Daten zeigen, bezüglich der Preisstabilität eine absolute Bestleistung erreicht.

Helmut Schmidt hat damals schon die Neigung der Zeitbeobachter, Fakten nicht wahrzunehmen, gesehen und dies auf Seite 53 treffend kommentiert:”Gleichwohl: der bisherige ökonomische Gesamterfolg unserer Politik istsehr viel größer, als er im eigenen Lande gesehen und gemacht wird.Dass Springer und Sohl (damals BDI-Präsident, d. Red.) etc. dieVergleiche mit der Preis-, Beschäftigungs- und Wachstumsentwicklung der übrigen Industriestaaten verschweigen und stattdessen schwarz malen, ist selbstverständlich. Dass eigene Leute (…) dies ebenfalls tun, ist schmerzlich, es liegt z.B. wohl auch an einem Mangel an Information und Überblick. ”

So ist es bis heute – bis zum Film von Storz und dem Buch von Schreiber: Geschichtsschreibung und ihre mediale Umsetzung als Wiederkäuen des Medienechos. Was Schmidt damals zwar ahnte, aber noch nicht präzise vorhersagen konnte: Auch historisch arbeitende Journalisten, die sich wie Hermann Schreiber zu den Sympathisanten von Brandt zählen, übernehmen den damaligen Tenor der Brandt-feindlichenMedien.

© Süddeutsche Zeitung / 29. Oktober 2003

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