Atomwahlkampf! Was denn sonst?

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„Atom-Wahlkampf? Nein, danke!“, titelt heute Müller-Vogg, genannt das „Kanzler-Zäpfchen“, in seinem Leitkommentar in der BILD-Zeitung: Atom-Wahlkampf? Nein, danke!
“Es ist unanständig, diese Katastrophe zu Wahlkampfzwecken zu missbrauchen”, so will der CDU-Spitzenkandidat in Sachsen-Anhalt, Reiner Haseloff, seine davon schwimmenden Felle retten. Man dürfe keinen Wahlkampf „auf dem Rücken der Opfer in Japan führen“ schallt es aus der CDU und aus dem konservativen Blätterwald. Die Atomkraftbefürworter versuchen nach der atomaren Katastrophe in Japan die Betroffenheit der Menschen über die Opfer auszunutzen, damit sie wegen ihrer unverantwortlichen Entscheidung einer Laufzeitverlängerung für die hiesigen Atomkraftwerke in den anstehenden Wahlkämpfen von den Wählerinnen und Wählern nicht zur Rechenschaft gezogen zu werden. Aber welches Thema müsste die Menschen hierzulande gerade jetzt nicht mehr umtreiben? Wolfgang Lieb

Die Atomkraftwerkskatastrophen in Japan könnten sich zum GAU für die Wahlkampfstrategen von CDU und FDP entwickeln. Noch vor einem halben Jahr hat die die schwarz-gelbe Bundesregierung hinter dem Rücken des Parlaments mit der Atomwirtschaft einen „Geheimvertrag“ über die Verlängerung der Laufzeit von Atomkraftwerken geschlossen. Dabei hat sie den vier Energieoligopolisten EnBW, EON, RWE und Vattenfall hohe zweistellige Milliardengewinne zugeschanzt. Danach wurde dieses neue Atomgesetz noch unter Umgehung der Länderkammer durchgedrückt.

Jeder wird sich noch gut an die Zusicherungen erinnern, dass die deutschen Atomkraftwerke zu den „modernsten und sichersten“ gehörten. So modern und sicher, dass selbst die seit 35 (!) Jahren betriebenen Kraftwerke wie Neckarwestheim 1 oder Brunsbüttel, die keineswegs mehr dem Stand der (Sicherheits-)Technik entsprechen können und jährlich bis zu einem Dutzend Störfälle meldeten, mit einem Federstrich 8 Jahre länger, nämlich bis 2018 am Netz bleiben sollten. Das 23 Jahre alte (jüngste) Atomkraftwerk Neckarwestheim 2 wurde sogar noch über 35 Jahre, also bis 2036 für sicher erklärt. Dass diese durchweg alten Kraftwerke dem vorgeschriebenen heutigen Stand von Wissenschaft und Technik entsprächen, ist eine offensichtliche Falschaussage. Damit wird nämlich behauptet, dass es seit 1976 keine Fortentwicklung in der Kraftwerktechnologie mehr gegeben hätte.

Mit dem Gesetz zur Laufzeitverlängerung wurden die Sicherheitsauflagen für die Kernkraftbetreiber sogar noch abgesenkt: Für die bekannten und als erforderlich erkannten Nachrüstungen bekamen sie zehn Jahre Zeit eingeräumt. Letztlich müssten also die Energieoligopole nach neun Jahren und elf Monaten „die Schraubenzieher für die ersten Reparaturen kaufen“ (So der Präsident der Gesellschaft für Strahlenschutz, Sebastian Pflugbeil).

Alle diese hochheiligen Sicherheitsversprechen sind nun innerhalb von nur 24 Stunden in sich zusammengebrochen. Die „bisherige unbestrittene (?) Sicherheit“, so Merkel zur Begründung des Aussetzens der Laufzeitverlängerung, könne nicht mehr Maßstab unseres künftigen Handelns sein.
Mit dem Beschwören des apokalyptischen Ausmaßes der Katastrophe in Japan versuchte die Kanzlerin den absoluten Glaubwürdigkeitsverlust der früheren Sicherheitsversprechen ihrer Bundesregierung zu kaschieren.

Einer der einflussreichsten Atomlobbyisten, der bisherige baden-württembergische Ministerpräsident Stefan Mappus, der noch Anfang Dezember am Parlament vorbei die Aktienmehrheit an der Energie Baden-Württemberg (EnBW) mit vier Atomkraftwerken aufgekauft hat und dem noch im letzten Sommer die Laufzeitverlängerung seines Parteifreunds, Umweltminister Norbert Röttgen, nicht weit genug ging, steht nun plötzlich vor einem Wahlkampf-GAU. Mappus, der noch vor wenigen Tage die seit langem geplante Menschenkette gegen die Laufzeitverlängerung von „seinem“ Atomkraftwerk Neckarwestheim zu seinem Amtssitz nach Stuttgart belächelte, will nun plötzlich eine „Kommission“ einsetzen und Inspekteure der Atomaufsichtsbehörden anfordern, die überprüfen sollen, ob „seine“ unlängst eingekauften Atomkraftwerke „den erforderlichen Sicherheitsbestimmungen genügen“. Wurde bisher eigentlich nicht geprüft?

Der bayerische Ministerpräsident Horst Seehofer, der sich im letzten Sommer sogar noch für eine „unbegrenzte“ Laufzeitverlängerung einsetzte und der eine Studie der österreichischen Bundesregierung über die Sicherheit seines Atomkraftwerks Isar 1 zur Geheimsache erklären wollte will nun über Nacht gerade dieses Kraftwerk abschalten und vom Netz nehmen.

An der bisher so hoch gelobten Sicherheitslage der deutschen Atomkraftwerke hat sich allerdings durch die Reaktorunglücke in Japan nichts geändert, geändert hat sich nur der zeitliche Abstand der Entscheidung über die Laufzeitverlängerung zu drei für die Union entscheidenden Wahlen – in Sachsen-Anhalt, vor allem Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz. Der Wahlausgang dort ist auch für die Laufzeit von Kanzlerin Merkel ziemlich wichtig.

Es ist also geradezu paradox, wenn nun die bisherigen Befürworter von CDU/CSU und FDP den Atomkraftgegnern vorhalten, diese würden die Reaktorkatastrophen zu Wahlkampfzwecken missbrauchen. Es sind gerade umgekehrt Merkel, Westerwelle, Röttgen, Mappus oder Seehofer, die „auf dem Rücken der Opfer in Japan“ vor den anstehenden Wahlen den Verlust ihrer Glaubwürdigkeit verstecken möchten.

Seit Jahren ist eine große Mehrheit in der Bevölkerung gegen die Nutzung der Atomkraft für die Energieversorgung, doch immer wurde den Menschen vorgegaukelt Atomkraftwerke seien verantwortbar und sie wurden mit der sachlich falschen und bewusst irreführenden Behauptung, bei der Atomkraft handelte es sich um eine „Brückentechnologie“, belogen. Die „Atomparteien“ haben erkannt, dass sie dem Druck von 80 Prozent der Bevölkerung für eine Rücknahme der Laufzeitverlängerung nicht mehr standhalten konnten, ohne ihre Wahlchancen zu gefährden.

Die Erklärung über eine Aussetzung des Gesetzes zur Laufzeitverlängerung durch Merkel und Westerwelle für drei Monate ist allerdings nicht glaubwürdiger als die früheren Sicherheitsversprechen. Mit einer politischen Erklärung von Regierenden kann ein Gesetz das vom Parlament beschlossen und in Kraft getreten ist, nämlich gar nicht außer Kraft gesetzt werden. Wenigstens ein wenig glaubhafter wäre gewesen, wenn Merkel und Westerwelle eine Gesetzesinitiative angekündigt hätte, mit der die im Herbst beschlossene „Energierevolution“ durch den Gesetzgeber gestoppt werden könnte. Noch steht eine Regierung nicht über dem Gesetz, auch wenn sie dieses Gesetz selbst verabschieden ließ. Auch die Ankündigungen über die Abschaltung von nach altem Recht im letzten Jahr schon stillzulegenden Kernkraftwerken (Biblis A und B und Neckarwestheim I) ist insofern zunächst nur ein leeres Versprechen. Nach den Landtagswahlen und nach „Gesprächen“ mit den Betreibern dürfte Merkels Welt schon wieder ganz anders aussehen.

Dieses Versprechen ist schon deshalb unglaubwürdig, weil Merkel und Westerwelle bei ihrer Erklärung einmal mehr den künftigen Einsatz der Atomkraftwerke mit dem Tarnwort „Brückentechnologie“ rechtfertigten.

Atomkraft kann aber schon aus technischen bzw. physikalischen Gründen gar keine „Brücke“ zu einer nachhaltigen Energieversorgung mit erneuerbaren Energien und Energieeffizienz schlagen. Atomkraftwerke können nicht, wie Gas- oder auch noch Ölkraftwerke je nach Strombedarf, also wenn kein Wind da ist oder die Sonne nicht scheint, angefahren und wieder heruntergefahren werden. Sie bedienen wie Kohlekraftwerke, die dauerhaft zu bedienende sog. „Grundlast“. Wenn man überhaupt von einer „Brückentechnologie“ – also einer Energieproduktion, die die Schwankungen ausgleicht – sprechen wollte, dann sollte man den Ausbau von Gaskraftwerken fördern. Am besten noch dezentral mit kleinen Blockheizkraftwerken mit Wärme-Kraftkopplung, die auch noch die Abwärme zur Heizung von Wohnungen nutzen. Solange die Atomkraftwerke laufen, wird es eine diese – die Schwankungen der erneuerbaren Energien ausgleichende – Kraftwerksstruktur nicht geben. Zumal dezentrale Blockheizkraftwerke eine Gefahr für die Energiemonopole darstellten, weil sie auch von Stadtwerken oder kleinen Energieanbietern eingeführt werden könnten.
Die von Umweltminister Röttgen in die Welt gesetzte Legende von der „Brückentechnologie“ verdeckt nur, dass den Atomkonzernen Milliardengeschenke gemacht wurden, dass Wettbewerb durch kleine Stromproduzenten verhindert und damit die Oligopolstellung der vier Atomkraftwerkbetreiber stabilisiert und damit letztlich ein fließender Übergang in eine innovative Energieversorgung blockiert wird.

Übrigens: Auch Umweltschützer, SPD und Linke sind auf moralisierend vorgetragenen Gauklertrick der Atomkraftbefürworter, man dürfe auf dem Rücken der von einem möglichen Super-GAU betroffenen japanischen Menschen keinen Wahlkampf betreiben, hereingefallen.

Die Reaktorunfälle in Japan haben nur erneut bewiesen, dass das bei technischen Anlagen unvermeidbare „Restrisiko“ keine theoretische und damit vernachlässigbare Größe darstellt, sondern – sei die Schadenseintrittswahrscheinlichkeit auch noch so gering – zu ganz konkreten und dazu noch unermesslichen Schäden für eine uneingrenzbare Menge von Menschen führen kann. Nämlich dass unzählige Menschen evakuiert werden müssen, dass ganze Landstriche dauerhaft unbewohnbar werden könnten, dass zahllose Menschen zu tote kommen oder schwerwiegende erst langfristig zu Tage tretende Gesundheitsschäden davontragen, dass genetische Schädigungen über Generationen hinweg auftreten. Wer sich von dem Schadensausmaß des technischen Versagens eines Atomreaktors ein Bild machen will, braucht nur einmal in die weitere Umgebung des 1986 explodierten Reaktors Tschernobyl reisen oder eine der dortigen Kinderkliniken besuchen.

Man braucht sich nur einmal konkret vorstellen, wenn ein Umkreis von 40 oder 50 Kilometer um das AKW Biblis evakuiert werden müsste: bis nach Worms, Darmstadt oder Heidelberg müssten die Menschen ihre Wohnungen verlassen, je nach Windrichtung wären sogar Mainz oder Frankfurt am Main betroffen.

Um ein paar Milliarden Gewinn zu erzielen, müssten Millionen von Menschen schwerwiegende Opfer bringen. Wieder einmal ist die Risikolage ähnlich wie bei der Bankenrettung: Die Gewinne werden privatisiert und das Risiko wird sozialisiert.

Und über solche wirklich ernsthafte Themen soll kein Wahlkampf geführt werden dürfen?

Stattdessen sollten sich die Wählerinnen und Wähler über von Werbestrategen entwickelte Sprüche wie „Wir starten durch. Unsere Heimat hat Zukunft“ in Sachsen-Anhalt oder wie „Damit Baden-Württemberg stark bleibt“ bzw. „Klare Linie für unser Land“ abspeisen lassen.

Dieser systematischen Wählerverdummung hat die Reaktorkatastrophe in Japan einen Strich durch die Rechnung gemacht. Doch mit dem jetzt angekündigten „Moratorium“ erfolgte nur eine Neuinszenierung dieser Verdummungsstrategie. Schon wenige Stunden nach der Erklärung der Kanzlerin meldete die Deutsche Presseagentur, dass sich die Spitzen der Koalitionsfraktionen einig seien, grundsätzlich am schwarz-gelben Energiekonzept mit einem Mix aus Atomenergie und alternativen Energiequellen festhalten zu wollen.

Sollten die Wählerinnen und Wähler weiter in Apathie verharren und auf solche Wahlkampfspektakel hereinfallen, muss man sich fragen, welche Schocks eigentlich noch nötig sind, damit die Leute endlich ihren Verstand einschalten und sich wehren.

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