Tarifpolitik und Lohnentwicklung sind keine Rechenübungen

Tarifpolitik und Lohnentwicklung sind keine Rechenübungen

Tarifpolitik und Lohnentwicklung sind keine Rechenübungen

Ein Artikel von Ralf Krämer

Die momentanen Preissteigerungen sind auch in den Gewerkschaften ein heiß debattiertes Thema. Fordert man höhere Löhne oder wären vielleicht auch Einmalzahlungen ein geeigneter Weg, die Preisschocks aufzufangen, ohne über die Lohn-Preisspirale die Inflation anzutreiben? Dazu hatte sich auch Heiner Flassbeck zu Wort gemeldet – die NachDenkSeiten hatten auf seine Texte in den Hinweisen des Tages verwiesen. Ralf Krämer, Gewerkschaftssekretär bei ver.di im Bereich Wirtschaftspolitik, widerspricht Flassbeck in einem Gastartikel für die NachDenkSeiten, mit dem wir die Debatte auch unseren Lesern nahebringen wollen.

In seinem Text „Woran die Demokratie schließlich scheitern wird“ vom 11.08.2022 stellt Heiner Flassbeck zunächst zutreffend fest, dass die gegenwärtigen starken Preissteigerungen auf temporäre Preisschocks durch Lieferprobleme, Knappheiten und Spekulation mit Rohstoffen (v.a. Energie) zurückzuführen sind und nicht auf die Geldpolitik der Zentralbanken mit Niedrigzinsen und Wertpapieraufkäufen. Es ist auch zutreffend, dass die sehr niedrigen Inflationsraten der vergangenen zwei Jahrzehnte mit der schlechten Lohnentwicklung zu tun haben, die den Beschäftigten und den Gewerkschaften durch die Arbeitsmarktlage und neoliberale „Flexibilisierung“ der Arbeitsmärkte (und der damit verbundenen Schwächung der Lohnabhängigen in den Lohnauseinandersetzungen) aufgezwungen wurde.

Allerdings ist schon das zu differenzieren, weil es gilt vor allem für die 2000er Jahre, die durch sinkende Reallöhne (also preisbereinigt) und eine stark fallende Lohnquote (Anteil der Löhne am Volkseinkommen) gekennzeichnet waren. In den 2010er Jahren waren durchgehend Reallohnzuwächse zu verzeichnen, die sogar die gesamtwirtschaftlichen Produktivitätszuwächse überstiegen und zu einem Wiederanstieg der Lohnquote führten. Dabei war die Zunahme der effektiven Löhne in den meisten Jahren sogar höher als die der Tarifabschlüsse (sog. positive Lohndrift). In den 2000er Jahren war die Lohndrift negativ gewesen, es sanken die realen Effektivlöhne, während die reale Tarifentwicklung zumeist noch minimal positiv war (aber dennoch erheblich zu niedrig, unter den Produktivitätssteigerungen). Das war v.a. eine Folge der Ausweitung des Niedriglohnsektors und der abnehmenden Tarifbindung. Wirksame Tarife stabilisieren die Lohnentwicklung und damit auch die gesamtwirtschaftliche Entwicklung.

Das zeigt, dass die Zusammenhänge zwischen Inflation, Lohnentwicklung und Tarifpolitik nicht ganz so schlicht sind, wie sie bei Flassbeck dargestellt werden. Die mittelfristige Inflation (im Durchschnitt des Konjunkturzyklus, krisenbedingt schwanken die Gewinne stärker) wird nicht nur von den Löhnen bestimmt, sondern auch von der Entwicklung der Profitmargen (und der Vermögenseinkommen). Und auf die Lohnentwicklung wirken auch weitere Faktoren neben der Tariflohnentwicklung ein – und diese ist wiederum selbst weitgehend geprägt durch die ökonomischen Bedingungen. Von den wichtigen Unterschieden in der Entwicklung zwischen verschiedenen Branchen, Beschäftigtengruppen, Unternehmen je nach Größe und individueller Lage usw. ganz abgesehen.

Eine sinkende Lohnquote zeigt an, dass die Profite (und Vermögenseinkommen) stärker steigen als die Löhne, Letztere evt. sogar sinken, und umgekehrt. Es geht also auch um Verteilungsauseinandersetzungen, wobei es zyklenübergreifend nur langsame und begrenzte Veränderungen gibt. Aber diese werden durchaus bewirkt, der Neoliberalismus und seine Dominanz seit Anfang der 1980er Jahre hatte den Zweck und auch erheblichen Erfolg, die Verteilungsverhältnisse zugunsten des v.a. großen Kapitals und zu Lasten der abhängig Arbeitenden zu verschieben.

Schräg werden Flassbecks Ausführungen dann, wo er sich über den Umgang der Gewerkschaften mit der gestiegenen Inflationsrate äußert. Zutreffend ist zunächst, dass Inflation eine Zuwachsrate des Preisniveaus meint. Diese ist seit Mitte 2021 stark gestiegen, wahrscheinlich wird sie im Jahresdurchschnitt 2022 um oder über sieben Prozent gegenüber dem Vorjahr betragen. Im nächsten Jahr wird die Inflationsrate voraussichtlich wieder sinken, aber mittlerweile sind auch für 2023 jahresdurchschnittlich um die fünf Prozent zu erwarten. Auf jeden Fall ist es aber so, dass das Preisniveau (also nicht die Zuwachsrate) insgesamt in den kommenden Jahren erheblich höher als 2021 liegen und weiter steigen wird. Das gilt auch, wenn einzelne Preise, etwa für Gas und Ölprodukte, wieder sinken sollten (auch dann werden sie über dem früheren Niveau bleiben) und die Inflationsrate wieder niedriger wird. Auch das schreibt Flassbeck selbst.

Aber dann schreibt er: „Einmalzahlungen der Arbeitgeber oder einmalige Entlastungen der Geringverdiener durch den Staat sind folglich eine ernstzunehmende Lösung.“ Ein dauerhaft höheres Preisniveau bedeutet aber auch bei wieder geringeren Inflationsraten, dass die Menschen dauerhaft, jeden Monat, jedes Jahr, höhere und weiter steigende Ausgaben für den gleichen Lebensstandard haben. Um dies auszugleichen, helfen Einmalzahlungen oder einmalige Entlastungen eben nicht, denn die gibt es nur einmalig und im folgenden Monat und Jahr nicht mehr, dann sind sie ausgegeben – aber die Preise sind eben nicht wieder auf den Stand wie vorher gesunken. Bei den Tarifsteigerungen ist dann wichtig, dass sie „tabellenwirksam“ sind, also dauerhaft und auch als Ausgangsbasis für künftige Steigerungen die Lohntabellen erhöhen. Das können neben prozentualen Erhöhungen auch Sockelbeträge sein, also überproportionale Erhöhungen niedrigerer Löhne, aber eben keine Einmalzahlungen.

Wenn der ver.di-Vorsitzende Frank Werneke sagt, „wir haben es mit absehbar dauerhaft steigenden Preisen [da steht nicht „Inflationsraten“, wie Flassbeck offenbar fälschlich interpretiert, RK] zu tun. Die müssen mit dauerhaft wirkenden Tariflöhnen ausgeglichen werden. Alles andere führt sonst unter dem Strich zu Reallohnverlust. (…) Einmalzahlungen reichen nicht.“, dann hat er damit also völlig recht. Wernekes Aussagen sind 100 Prozent zutreffend. Wenn Flassbeck dazu schreibt, „Wie gesagt, nichts spricht für dauerhaft steigende Preise‘.“, dann mangelt es hier bei ihm an der Klarheit der Gedanken, was er im Folgenden anderen vorwirft, denn die Preise steigen eben auch bei geringeren Inflationsraten weiter. Nur mit steigenden Löhnen werden zudem auch die Renten steigen, und auch Grundsicherung, Wohngeld und Bafög müssen dauerhaft erhöht werden, brauchen mehr als nur einen einmaligen Zuschlag.

Weiter schreibt Flassbeck, wenn es den Gewerkschaften gelänge, Tarifsteigerungen von acht Prozent durchzusetzen: „Die Folge wäre eine Inflationsrate von mindestens acht Prozent im nächsten Jahr.“ Auch das ist unzutreffend oder mindestens nicht zwingend, es hinge von mehreren weiteren Faktoren ab. Die einheimischen Lohnkosten machen nur einen großen Teil, aber nicht die Gesamtheit der Produktionskosten aus, und die Preise beinhalten zusätzlich die Profite. Wenn die Energiekosten wieder sänken und insgesamt die importierten Preise nicht oder nur noch langsamer stiegen, was Flassbeck selbst erwartet, und wenn die Unternehmen die Lohnsteigerungen nicht vollständig in die Preise überwälzen, sondern auch ihre Margen reduzieren würden, wären die Preissteigerungen weitaus niedriger als acht Prozent.

Einem weiteren Rückgang der Inflationsraten und dann auch der Lohnsteigerungsraten in den kommenden Jahren stünde nichts im Wege. Die Europäische Zentralbank wäre keineswegs gezwungen und würde bei einer realistischen Analyse darauf verzichten, mit massiven Zinserhöhungen zu reagieren und die Wirtschaft in eine verschärfte Krise zu treiben. Zumal, wie Flassbeck ansonsten selbst immer betont, die EZB die Entwicklung im ganzen Euroraum und nicht nur in Deutschland im Auge hat und die Löhne hierzulande weiterhin zu niedrig sind. Das zeigt sich an voraussichtlich auch weiterhin hohen Exportüberschüssen (der kräftige Rückgang in den letzten Monaten ist temporär durch Lieferkettenprobleme und das hohe Gewicht der importierten Energiepreise bedingt). Es geht aktuell um die Frage, ob die massiven und für viele unbezahlbaren Preissteigerungen (insb. die einlaufenden Heizkostenabrechnungen) überwiegend auf die von Löhnen und Sozialeinkommen abhängigen Menschen abgewälzt werden oder ob die Kapitalseite und auch kreditfinanziert der Staat einen möglichst großen Anteil der Kosten trägt.

Zudem schreibt Flassbeck selbst, dass es unrealistisch ist, dass die Gewerkschaften flächendeckend so hohe Lohnsteigerungen durchsetzen können – selbst wenn sie sie und vielleicht noch mehr fordern würden. Die durchgesetzten Tariferhöhungen liegen in der Regel erheblich unter den geforderten, oft etwa bei der Hälfte (wenn man ehrlich rechnet, also bezogen auf jeweils 12 Monate). Wobei das kein Gesetz ist, sondern von vielen Bedingungen abhängt, von der jeweiligen Durchsetzungsfähigkeit der Gewerkschaften, die wiederum geprägt ist durch den gewerkschaftlichen Organisationsgrad, die Kampfbereitschaft der Beschäftigten, von den ökonomischen Bedingungen der jeweiligen Unternehmen, Wirtschaftszweige und gesamtwirtschaftlich, sowie auch der gesellschaftlichen und politischen Unterstützung für die Tarifforderungen. Tarifergebnisse werden grundsätzlich nie von den Gewerkschaften allein bestimmt, sondern sind Verträge mit den Arbeitgebern, Ergebnisse sozialer Kämpfe, Kompromisse vor dem Hintergrund der Kräfteverhältnisse der kämpfenden Klassen (Marx). Und wie gesagt sind die effektiven Lohnentwicklungen noch mal etwas anderes als die Tarifabschlüsse.

In der Realität der gewerkschaftlichen Tarifpolitik geht es darum, unter Berücksichtigung all dessen die Erwartungen der Beschäftigten in Forderungen umzusetzen, die mobilisierungsfähig sind und zugleich nicht zu weit weg vom Realisierbaren. Unsere Äußerungen in Arbeitskämpfen und in der Öffentlichkeit müssen die Forderungen vertreten und begründen und das Selbstbewusstsein, die Argumentationsfähigkeit und die Bereitschaft der Kolleginnen und Kollegen stärken, für die eigenen Interessen und eine gerechte Sache zu kämpfen. Niemand ist oder wird Mitglied einer Gewerkschaft und kämpft für Forderungen, die von vornherein Reallohnverluste oder andere Verschlechterungen bedeuten, höchstens, wenn akut noch weit schlimmere Verschlechterungen drohen und um diese abzuwehren. Dabei wissen die Beschäftigten selbst, dass die Ergebnisse von Tarifverhandlungen hinter den Forderungen zurückbleiben werden und akzeptieren das auch, wenn nachvollziehbar nicht mehr durchsetzbar war, wie die in der Regel hohen Zustimmungsraten bei Abstimmungen über Tarifabschlüsse belegen.

Tarifpolitik ist keine akademische Rechenübung, sondern ein komplexer sozialer Prozess mit vielen Beteiligten, für die es real um etwas geht und die sich dafür auch ernsthaft und mit persönlichen Kosten und Risiken bewegen müssen. Das ist kein Geplapper oder Gezwitscher im Internet oder in Publikationen, wo man alles Mögliche schreiben kann, ohne dass es besondere Folgen hätte. Leider ist festzustellen, dass viele auch sehr qualifizierte Ökonomen davon offenbar weit weniger Ahnung haben als auf der anderen Seite die Gewerkschaften (wenn man das mal so verallgemeinern will) von relevanter Ökonomik. Vielleicht kann dieser Diskussionsbeitrag ja ein bisschen helfen, das zu ändern.

Titelbild: riekephotos/shutterstock.com

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