Atomkraftwerke – eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung

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Mit der Zulassung und dem Bau von Atomkraftwerken ist die Gesellschaft einen „faustischen Pakt“ eingegangen. Die Kernfrage ist, ob das dabei in Kauf genommene Risiko überhaupt, und, wenn ja, in welchem Maße rechtlich vertretbar ist. Mit der Nutzung der Atomkraft sind zwei Risikoquellen mit naturgesetzlicher Notwendigkeit verbunden, nämlich a) die Gefährdung durch das Freiwerden von künstlich (technisch) ionisierender Strahlung (auch im Normalbetrieb) und b) die Unfallgefahren durch technisches oder menschliches Versagen oder eben auch durch äußere Einwirkungen unterschiedlichster Art (Erdbeben, Flugzeugabsturz, Anschläge).
Die Atomkraftwerks-Katastrophe in Japan hat ein weiteres Mal bewiesen, dass die Gefahr, die von Atomkraftwerken ausgeht, auch aus rechtlichen Gründen nicht hinnehmbar ist. Wolfgang Lieb

I. Die künstliche Strahlenemission (a) stellt deswegen ein Risiko dar, weil nach den Empfehlungen der International Commission on Radiological Protection (ICRP) eine langandauernde Belastung mit ionisierender Strahlung zusätzlich zur natürlichen Strahlung eine Gefahr einschließt. Auch das deutsche Strahlenschutzrecht geht in der Strahlenschutzverordnung davon aus, dass „jede unnötige Strahlenexposition oder Kontamination von Mensch und Umwelt zu vermeiden“ ist (§ 6 Abs. 1 StrlSchV) und „unter Beachtung des Standes von Wissenschaft und Technik und unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls auch unterhalt der Grenzwerte so gering wie möglich zu halten“ ist (§ 6 Abs. 2 StrlSchV).

Dieser Minimierungsgrundsatz für eine künstliche Strahlenbelastung beantwortet allerdings nicht die Frage, welche „geringstmögliche“ Strahlendosis überhaupt zulässig ist. Über die rechtliche Beurteilung der Gefährdungen durch die sog. Low-Level-Radiation gibt es zahllose Gerichtsurteile mit unterschiedlichen Maßstäben und kontroversen Begründungen. Tatsache ist, dass bislang in Deutschland noch kein Atomkraftwerk allein wegen seiner zusätzlichen künstlichen Strahlenbelastung im Normalbetrieb durch Gerichtsbeschluss stillgelegt wurde.

II. Auch über das zweite nicht ausschließbare Risiko der Nutzung der Atomenergie, nämlich die Unfallgefahren, ergingen zahlreiche Gerichtsurteile. Dabei wurden – vereinfacht gesagt – drei Risikoabstufungen mit jeweils verschiedenen Rechtsfolgen herausgearbeitet.

  1. Gefahren für Leben und Gesundheit, die auszuschließen sind.
  2. Risiken unterhalb dieser Gefahrenschwelle, gegen die nach dem Stand von Wissenschaft und Technik die erforderliche Vorsorge gegen Schäden getroffen werden muss, die durch die Errichtung und den Betrieb einer Atomanlage auftreten können.
  3. „Restrisiken“ unterhalb der Schwelle, ab der Maßnahmen zur Gefahrenabwehr und Vorsorgemaßnahmen geboten und möglich sind.

Letztlich liegt der Risikobeurteilung der seit über 200 Jahre bewährte polizeirechtliche Gefahrenbegriff zu Grunde. Unter einer Gefahr versteht man danach eine Lage, in der bei ungehindertem Ablauf des Geschehens ein Zustand oder ein Verhalten mit hinreichender Wahrscheinlichkeit zu einem Schaden für Schutzgüter der öffentlichen Sicherheit oder öffentlichen Ordnung führen würde. Diese Gefahr ist hoheitlich (polizeilich) abzuwehren.

Meine hier vertretene These ist, dass alle Versuche zu einer trennscharfen Abstufung zwischen Gefahrenabwehr (1.), Gefahrenvorsorge (2.) und einem zumutbaren „Restrisiko“ (3.) zu gelangen zumindest bei der möglichen Unfallgefahr, die mit der Nutzung der Atomkraft notwendig verbunden sind, zum Scheitern verurteilt sind.

Bei der Abwägung zwischen einer auszuschließenden Gefahr und hinnehmbaren Risiken wird zwischen dem Grad der Wahrscheinlichkeit und der Größe des zu gewärtigenden Schadens ein Wechselverhältnis angenommen. (Vereinfacht: Risiko = Schadensumfang x Eintrittswahrscheinlichkeit.) Das heißt: Ist der möglicherweise eintretende Schaden sehr groß, dann muss die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts umso geringer sein.

Die „Gretchenfrage“ ist allerdings wie man – angesichts der naturgesetzlichen Gefährlichkeit von Atomkraftwerken – zwischen einer auszuschließenden (zu verbietenden) Gefahr, den Risiken gegen die nach dem Stand von Wissenschaft nur die erforderliche Vorsorge getroffen werden muss und dem (hinzunehmenden) „Restrisiko“ abgrenzen kann.

Die bei technischen Anlagen übliche Sicherheitsphilosophie folgt dem Prinzip des Lernens aus gemachten Erfahrungen. Diese ex post Betrachtung reicht aber bei einer technischen Anlage wie einem Atomkraftwerk nicht hin, weil es dabei gar nicht erst zu einem Fehlschlag kommen darf, aus dem man Erfahrungen sammeln könnte. Störfälle und Unfälle bei Atomkraftwerken müssen deshalb zwar auf empirischer Basis und auf Grund von Expertenwissen ermittelt, aber im Voraus erdacht und abgeschätzt werden. Nahezu alle Sicherheitsangaben sind wahrscheinlichkeitstheoretischer Art. Doch auch das komplizierteste Rechenprogramm kann selbst bei umfassender Information kein normatives Urteil fällen.

Zur Beurteilung ob eine Wahrscheinlichkeit „hinreichend“ ist, um dagegen Maßnahmen einzuleiten, oder zur Entscheidung, ob mit diesen Maßnahmen „das Erforderliche“ getan wird, oder ob ein hinnehmbares Restrisiko vorliegt, müssen noch zusätzliche normative Kriterien hinzugezogen werden.

Ein solches qualitatives Kriterium kann durch die quantitative Beziehung der Wahrscheinlichkeit eines Schadenseintritts auf den Schadensumfang nicht gewonnen werden. Denn der Schaden ist, misst man ihn nicht an einem qualitativen Bewertungsraster, auch nur eine quantitative Größe; es können ein, zwei oder sehr viele Menschen gefährdet sein.

Aber selbst wenn man einen möglichen Schaden wertbezogen interpretiert, hat man noch keine Lösung gefunden. Denn gerade da, wo es um den Schutz des menschlichen Lebens oder der körperlichen Unversehrtheit geht, ist man von vorneherein an der oberen Grenze der Bewertungsskala angelangt. Denn das menschliche Leben stellt nach dem Grundgesetz einen Höchstwert dar. Jedes einzelne Leben verdient den gleichen Schutz, und ein einzelnes Leben ist nicht weniger wert als viele.

In der Konsequenz dieser wertbezogenen Schadensbetrachtung geriete man deshalb schnell in ein Null-Unendlich-Dilemma. Setzte man nämlich das menschliche Leben als absolut zu schützendes (mathematisch also einen unendlichen Wert), dann könnte die Wahrscheinlichkeit einer Gefährdung des menschlichen Lebens noch so klein sein, das Produkt dieser beiden Werte wäre immer Unendlich, so dass stets eine Gefahrenlage anzunehmen wäre. Die Risiken nahezu jeder technischen Anlage ließen sich dann nur dadurch absolut verhindern, dass man die Ursache nicht setzt, d.h. durch ein Verbot dieser Technik. Damit würde aber das gesellschaftliche Leben in Immobilität erstarren und in Risikofreiheit erstickt.

Da die beiden Parameter des Gefahrenbegriffs, Schadenswahrscheinlichkeit und Schadensumfang, also wegen ihre nur deskriptiv-quantitativen Charakters allein kein normatives oder klassifikatorisches Beurteilungskriterium liefern, nach dem sich erstens eine (zu verhindernde) Gefahrenlage von einer notwendigen Vorsorge und zweitens wiederum ein hinzunehmendes Restrisiko abgrenzen ließe, mussten andere Entscheidungskriterien gefunden werden.

Es müssen also entweder bei der Beurteilung der Wahrscheinlichkeit und/oder in die Würdigung des Schadens zusätzliche Entscheidungskriterien einfließen. Als solche Kriterien gelten die „Lebenspraxis“ oder ein gesellschaftlicher „Normalzustand“. Die Frage ist somit, ob der Betrieb eines Atomkraftwerks zu den als normal angesehenen Lebensrisiken gehört oder nicht.

Will man aus politischen Nutzen-Konsequenzen-Kalkülen die Nutzung der Atomkraft, so entspricht es einer rationalen Entscheidung, das Risiko, das dabei eingegangen wird, möglichst gering zu halten. Doch welches Risiko ist „gering genug“? Was ist ein vertretbares bzw. zumutbares Risiko?

Dabei hilft ein Vergleich der Risiken mit anderen (schon eingegangenen oder als hinnehmbar akzeptierten) alternativen Risiken. Aber auch bei einem solchen Risikovergleich stößt man bei der Nutzung der Atomkraft zur Stromerzeugung schnell an seine Grenze, könnte doch der Strom auch mit weniger riskanten Kraftwerken (Kohle, Öl, Gas) oder erneuerbaren Energien produziert werden.

Man muss also zu einem Vergleich mit andern technologisch-zivilisatorischen Aktivitäten, die als „normal“ angesehen und gesellschaftlich akzeptiert werden, greifen. Nun ist es allerdings so, dass aus unterschiedlichsten Gründen die gesellschaftliche Akzeptanz von Risiken auf verschiedenen Gebieten des Umgangs mit Technik sehr verschieden ist. Bei der Risikobereitschaft spielt die Bedeutung bzw. die Unerlässlichkeit einer wirtschaftlich-technischen Tätigkeit für die Allgemeinheit eine maßgebliche Rolle.

Es spricht Vieles dafür, dass die Reziprozität von Schadensumfang und seiner Eintrittswahrscheinlichkeit dem empirisch feststellbaren Befund gesellschaftlicher Risikoakzeptanz entspricht. Werden durch einen bestimmten Umgang mit der Technik auf einmal nur jeweils einzelne oder eine überschaubare Zahl von Menschen gefährdet, so ist die Risikobereitschaft erheblich größer, als wenn durch ein singuläres Ereignis, sozusagen auf einen Schlag eine unbestimmbare Zahl von Menschenleben oder die Gesundheit einer unüberschaubaren Zahl von Menschen durch ein einzelnes Schadensereignis bedroht sind. So ist z.B. die gesellschaftliche Risikoakzeptanz im Straßenverkehr um ein Vielfaches höher als beim Schienen- oder gar beim Luftverkehr. Der Vergleich zwischen den Risiken die von Atomkraftwerken ausgehen und den Risiken im Straßenverkehr ist deshalb eine gedankliche Schlamperei – zumal für die Stromerzeugung Alternativen zur Verfügung stehen.

Weil die Bereitschaft, bestimmte Lebensrisiken einzugehen, bei unterschiedlichem Schadensausmaß verschieden groß ist, muss auch der Wahrscheinlichkeitsvergleich des Eintretens bestimmter Schäden auf jeweils verschieden definierte Schadensumfänge bezogen werden.

Hält man die Wahrscheinlichkeitswerte vergleichbar definierter Schadensereignisse nebeneinander, so zeigt sich die Besonderheit der technischen Nutzung der Atomkraft gegenüber anderen industriellen Produktionsanlagen oder einer anderweitiger Benutzung von Technik.

Definiert man als Schadensereignis, dass ein bestimmter Mensch bei einer Emissionsbelastung oder durch einen Unfall ums Leben kommt, so ist diese Wahrscheinlichkeit bei einem Atomkraftwerk relativ niedrig, vielleicht sogar niedriger als bei den meisten anderen technischen Aktivitäten in der Gesellschaft.

Problematisch wird die Nukleartechnologie jedoch in dem Fall, wo man die Wahrscheinlichkeit auf ihr theoretisches Gefährdungspotential bezieht. Zur Beurteilung der Risikobereitschaft gegenüber einer dabei möglichen Katastrophe nationalen Ausmaßes bleibt kein anderes verallgemeinerbares (und eventuell sogar quantifizierbares) Kriterium als der Wahrscheinlichkeitsvergleich mit einem anderen gesellschaftlich akzeptierten technischen Risiko von vergleichbarem Schadensumfang, das wegen eines ähnlichen Nutzens für die Allgemeinheit in Kauf genommen wird. Eine zivilisatorisch genutzte und von der Allgemeinheit als wichtig erachtete Technik, die in ihrem möglichen Schadensumfang mit der Atomtechnik vergleichbar wäre, gibt es aber (jedenfalls bisher) nicht.

Ein Atomkraftwerk übersteigt also dann die „normale“ Risikobereitschaft und stellt damit eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung dar, wenn das mögliche Schadensereignis so einzigartig groß ist, dass es in seinem Ausmaß mit keinem anderen Zivilisationsrisiko vergleichbar ist. Dann mag die Wahrscheinlichkeit, dass eine solche Katastrophe passiert, noch so klein sein, das Risiko bleibt einzigartig und unvergleichbar.

Dass das Schadensereignis durch ein technisches (oder menschliches) Versagen bei einem Atomkraftwerk einzigartig groß ist und dass das theoretisches Gefährdungspotential eben nicht nur ein theoretisches sondern sehr konkret ist, das zeigt (wieder einmal) die Katastrophe in Japan.

Auch das bislang als hinnehmbar angesehen „Restrisiko“ ist zu hoch und stellt eine Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit dar. Dieses Risiko muss aber nach den bisherigen rechtlichen Grundsätzen der Gefahrenabwehr vermieden werden.
Atomkraftwerke überfordern den bisher rechtlich erfassten Gefahrenbegriff. Die von ihnen ausgehende Gefahr ist nach den gültigen rechtlichen Maßstäben auszuschließen.
Fukushima hat einen weiteren realen Beweis erbracht, dass die reale Gefahr die von Atomkraftwerken ausgeht, auch aus rechtlichen Gründen nicht hinnehmbar ist.

Anmerkung: Dieser Beitrag beruht auf einer rechtlichen Abhandlung, die ich für die „Zeitschrift für Umweltrecht“ (ZfU 2/78 S. 279 -313) schon im Jahre 1978 geschrieben habe.

Vgl. zur Versinnbildlichung auch: Atomkraft – unser Vermächtnis.

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