Westliche Überheblichkeit als Konfliktlösungsstrategie hat sich noch nie bewährt

Westliche Überheblichkeit als Konfliktlösungsstrategie hat sich noch nie bewährt

Westliche Überheblichkeit als Konfliktlösungsstrategie hat sich noch nie bewährt

Ein Artikel von Pentti Turpeinen

Wie unberechenbar und gemeingefährlich demokratisch gewählte Politik werden kann, wenn sie sich von einem Gefühl der eigenen Großartigkeit berauschen lässt und dazu eine willige Unterstützung der Zivilgesellschaft erschleicht, sollten wir aus den verheerenden kriegerischen und umweltzerstörenden Katastrophen tief verinnerlicht haben; dachte man. Dass unsere Demokratien als westliche Wertegemeinschaft den Konflikt mit Russland wie selbstverständlich im Stile der vergangenen Jahrhunderte aus einem Überlegenheitsgefühl der eigenen Ethnie zu lösen begannen und nun mit erhabener Begeisterung im Namen des Guten das Böse aus den Russen jagen, zeugt von einer Wiederbelebung der Ideologien der abendländischen Herrschaftssysteme, die man längst überwunden glaubte. Von Pentti Turpeinen.

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Mit der demokratischen Politik konnten Ungerechtigkeiten in den Nationalstaaten grundlegend beseitigt werden: Bürger- und Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit, individuelle Freiheiten, Gesundheitswesen usw. gehören zum Standard. Aber die Demokratien blieben Nationalstaaten, die sich nach außen wie nach innen von den alten Ideologien der eigenen Glorie leiten ließen. Es rächt sich nun, dass unsere Demokratien die Art ihrer Selbstlegitimation unkritisch, in gutgläubiger Ehrfurcht, von ihren Amtsvorgängern übernommen haben.

Ein Gespenst geht wieder um in Europa. Diesmal ist es nicht das Gespenst des Kommunismus, sondern der aufgeweckte abendländische Geist, der uns im glorreichen Namen der vergangenen Weltreiche, Imperien, nationalistischen Ideologien, im gewohnt kultivierten Hochmut, zu rücksichtsloser Gewalt untereinander und weltweit animiert hat. Diese Tradition prägt nun wieder unser Verhalten. So erleben wir unser Treiben von jeglichen Gewissensbissen befreit, fühlen uns wie die Kämpfer von früheren Zeiten auf ihren heiligen Eroberungszügen. Im Dienste der westlichen Wertegemeinschaft können wir ja nur Gutes vollbringen; Böses machen immer die Anderen, diese Ungebildeten, Minderwertigen, Barbaren, Russen, Chinesen.

Die heutigen Demokratien meinen, im Geiste der abendländischen Herrschaftsgebilde verpflichtet zu sein, ihre Interessen mit einem nationalen Ruhm und Glanz zu legitimieren. In diesem altvertrauten internationalen Wettkampf um das „Wer ist der Großartigste auf der ganzen Welt“ haben sich die Beteiligten auf harte Bandagen geeinigt. Und da sie nicht gelernt haben, die Zusammenhänge und Folgen ihres Handelns zu reflektieren, reproduzieren sie in alten Manieren ihre Katastrophen unbekümmert immer fort.

Bestens informierende, warnende Stimmen zu diesem Tun und Lassen gab es immer. Aber im Stile der längst überholten Herrschaftssysteme weiß auch die westliche Wertegemeinschaft sich zu wehren und nachdenkliche Analysen über ihr unzeitgemäßes Handeln als eine unverzeihliche Majestätsbeleidigung zu bestrafen: Du Verschwörungstheoretiker, Verräter, du, der hohen westlichen Werte Lästerer! So vermittelt auch die westliche Wertegemeinschaft wie selbstverständlich ihre Werte als unantastbar und universell gültig und schützt ihre weltpolitischen Abenteuer mit Hilfe der öffentlich-medialen Einstimmigkeit empört vor jeglicher Kritik.

Die naturgegebene Überlebensfähigkeit, gemeinschaftlich aus den eigenen Fehlern zu lernen, wird gewohnheitsmäßig auf das Funktionieren der Demokratie im Inneren reduziert. Dass auch die demokratischen Nationen die Machtkämpfe untereinander und die Brutalität gegen andere Völker mit der eigenen Großartigkeit legitimieren, wird von den Beteiligten nach wie vor nicht als Fehlverhalten erkannt, sondern als Selbstverständlichkeit hingenommen.

Waren es bis zum Zweiten Weltkrieg im westlichen Kulturkreis einzelne Nationen, die ihre Einzigartigkeit anderen aufzwingen wollten, fühlt sich nun die vereinte westliche Wertegemeinschaft in dieser eingefleischten Tradition berufen, die ganze Menschheit mit unserem Lebensstil und -ideal zu beglücken. In den hochkultivierten Fußstapfen der vormaligen Lenker und Denker des Abendlandes bewundert sich nun die heutige Werte-Westen-Öffentlichkeit im Spieglein des Weltgeschehens an der Wand als einen gütigen Retter der Welt.

Das unbeschreibliche Elend, das die abendländischen Mächte über die Menschheit in den letzten Jahrhunderten verbreitet haben, und unter deren Folgeschäden ein Großteil der Völker der Welt noch lange zu leiden haben, hätte uns eine Lehre sein müssen. So wie es uns Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg vorgemacht und sich bis vor kurzem um die Versöhnung und Zusammenarbeit mit anderen Kulturen aufrichtig bemüht hat. Die glorreichen Siegermächte haben leicht amüsiert diese „Nie wieder Krieg“-Überzeugung und Wiedergutmachungsbemühungen eines Verlierers begleitet, erkannten aber dabei keinen Anlass, ihre eigene Schuldigkeit am Elend der Welt zu reflektieren; und haben damit die Chance verpasst, die längst fällige geistige Entwicklungsstufe einzuleiten: Aus den Fehlern zu lernen!

Auch wenn der Werte-Westen einen elenden Niedergang erleben sollte, würde er Schuld und Sühne bei den anderen suchen. Die mehrfach aufgeklärten abendländischen Mächte haben seit Jahrhunderten zielstrebig und effektiv eine Art kulturellen Autismus entwickelt, erleben sich in ihrer Rationalität anderen Kulturen hoch überlegen, sind unfähig, mit fremden Völkern einander bereichernd zu kommunizieren, feiern ihre stereotypen Verhaltensweisen als gottgegebene, engagieren sich mit viel Phantasie und voller Erfindungsdrang für die Gestaltung ihrer strikt festgelegten Macht-Profit-Lebensweise, ehren nur den eigenen Lebensstil und erziehen ihre Bürger dazu, Empathie für Gleichgesinnte im Kampf gegen das Böse zu praktizieren.

Die abendländischen Kulturen haben außergewöhnliche geistig kulturelle und wissenschaftlich-technische Leistungen vollbracht. Und da die bewundernswerten Errungenschaften in der Regel von einem jeweiligen Machtgebilde ermöglicht wurden, haben sie diese wie selbstverständlich zur Legitimation der eigenen Überlegenheit und Großartigkeit benutzt. Mit dieser Einstellung wurde es zu einer eitlen Gewohnheit, Völker und Kulturen mit anderen Überlebenstraditionen als unterentwickelte Primitive zu bezeichnen; bis heute.

Sich gemeinschaftlich wahrnehmend als Mitgestalter des eigenen Lebens zu spüren, in etwas Größerem als sich selbst aufzugehen, ist eine naturgegebene, gemeinschaftliche Überlebensstrategie. Mit der Entwicklung der Sprachkultur wird dieses nicht zu beschreibende Gefühl erfolgreich in kommunizierbare spirituelle und weltliche Ideologien übertragen. Und die Machtsysteme wussten von Anbeginn, die menschliche Gutgläubigkeit kreativ zu ihrem Vorteil zu nutzen. So wie man gewohnt ist, den Sinn seines Lebens in der Grandiosität eines Imperiums, eines von Gott gesegneten Königreichs, einer stolzen Nation usw. zu spüren, reicht in unseren gegenwärtigen Zeiten der unbegrenzten Oberflächlichkeiten schon das Gefühl von der geistig-körperlichen Identität mit den westlichen Werten zu einer Art erhabene Erhebung.

Indem man die Bedingtheit seines eigenen Denkens, der eigenen Weltbilder und Ideologien, nicht reflektiert, gewissenhaft sich nur an die Spielregeln hält, ohne das Spiel in einem umfassenden Kontext zu begreifen, verliert auch die westliche Wertegemeinschaft den Blick für die Folgen ihres Handelns. Man lässt sich unüberlegt von der eigenen Großartigkeit leiten, überzeugt, die Menschheit mit unseren universellen Werten in Wohlstand und Freiheit zu führen. „We are the champions of the world“ in eine offizielle Hymne der westlichen Wertegemeinschaft umzuinterpretieren, wäre angemessen.

Die aufwühlende Politik der westlichen Wertegemeinschaft hat die Innenpolitik im Nu in einen Nebenschauplatz verwandelt. Die Parteipolitik kann sich nun als Gestalter der Weltpolitik feiern lassen, kämpft für die ehrenwerten Ziele des Westens statt für bessere Lebensbedingungen der eigenen Wählerschaft und staunt wohl selber, wie willig die ehemals kritischen Einstellungen der politisch engagierten Zivilgesellschaft, Medien inbegriffen, in eine enthusiastische Unterstützung der westlichen Wertegemeinschaft verwandelt werden konnten; bis jetzt. Davon hat die Parteipolitik wohl immer geträumt: Keine kritischen Stimmen zu hören, nur Zustimmung, egal was man sagt und tut.

Auch im Dienste der Höheren Westlichen Werte bleibt die alte Selbstverständlichkeit gültig: Unsere Stammesbrüder und -schwestern voller Mitgefühl retten und Fremde hemmungslos untergehen lassen. Dass wir alle Menschen sind, gleichwertig und in einer partnerschaftlichen Zusammenarbeit am ehesten überlebensfähig; mit dieser weltläufigen Erkenntnis tut sich unsere theoretische wie auch praktische Vernunft noch schwer. Der Mensch wird als ein mit den außergewöhnlichen abendländischen Charakterzügen ausgestatteter Feingeist definiert; bis heute. Das philosophische Denken hört für uns eben an der Ostgrenze Griechenlands auf. Und indem die westliche Kultur nur sich bejubelt, verpasst sie die Gelegenheit, gemeinsam mit anderen Kulturen die unendlichen Potentiale der menschlichen Kreativität zu entdecken und zu entfalten. Elton John hat die Lage zutreffend beschrieben: „It’s sad, so sad, it’s a sad sad situation, and it’s getting more and more absurd“.

Die hochkultivierte westliche Wertegemeinschaft hat auch die eine bewährte Tradition kunstvoll weiter entwickelt, sprachliche Ausdrücke zu simplifizieren. Mit Erfolg. Sei es in Diskussionen mit meinen Stammesbrüdern in der nordfinnischen Wildmark. Die weltpolitische Analyse reduziert sich auch dort auf eine selbstüberzeugend vorgetragene Anklage: Putin ist an allem Schuld. Basta! Mit einem sanften Lockruf zu erhabenen weltumspannenden Heldentaten wurden die Finnen aus ihrem jahrzehntelangen provinziellen Tiefschlaf der Neutralität aufgeweckt und haben nun mit Begeisterung die einmalige Chance wahrgenommen, mit der westlichen Weltpolitik das Böse aus den Seelen der Völker zu vertreiben. Die grundlegenden Denkmuster dazu hat man sich schon mit Bravour angeeignet. Andersdenkende werden von Freunden, Bekannten und Verwandten auch dort sofort als verwirrte Propagandisten des hinterhältigen Feindes erkannt. Aber man bleibt, so wie hier, tolerant; der alten Freundschaft willen werde ich nicht gänzlich ausgestoßen. Noch nicht.

Wer Augen hat, der sehe, wer Ohren hat, der höre, und wer einen Leib hat, der spüre: Die finsteren Zeiten haben unsere Insel der Seligen erreicht. Mit Weltherrschaftsideologien der vergangenen Zeiten sein wirtschaftspolitisches Handeln zu legitimieren, ist nicht nur out of time, sondern in seiner Rückwärtsgewandtheit eine unzeitgemäße Begeisterung für den „highway to hell“.

In den bestens fundierten warnenden Stimmen aus den früheren Zeiten kann man kopfschüttelnd nachlesen, wie leichtsinnig man sich auch damals in folgenschwere Katastrophen leiten ließ. Dass wir längst eine globale Lebensgemeinschaft geworden sind, hat die aufgeklärte westliche Wertegemeinschaft nicht erkennen wollen, pflegt stattdessen in ihrem Demokratieverständnis ihre Abhängigkeit von den nichtbewährten Ideologien, schiebt in ihrer Naivität das Aus-den-eigenen-Fehlern-lernen-Müssen auf spätere Generationen.

Unser Überleben mit der Erde verlangt eine gemeinschaftliche Kreativität des partnerschaftlichen Denkens und Handelns. Längst bekannt, jüngst vergessen. Aber die oldschool „Autisten“ der westlichen Wertegemeinschaft haben doch noch eine wundervolle Möglichkeit, frei nach Schopenhauer, unseren Lebensstil grundlegend zu modernisieren: Indem sie beginnen, aus den eigenen Fehlern zu lernen, bekommt unser Wille seine zeitgemäße Chance, die Welt als eine gemeinschaftliche Vorstellung demokratisch zu gestalten.

Titelbild: Prazis Images / shutterstock

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