Ulrich Heyden zur russischen Teilmobilisierung

Ulrich Heyden zur russischen Teilmobilisierung

Ulrich Heyden zur russischen Teilmobilisierung

Ulrich Heyden
Ein Artikel von Ulrich Heyden

Mit der russischen Teilmobilisierung ist die nächste Eskalationsstufe des Kriegs in der Ukraine erreicht. Russland und die Ukraine – mit dem Westen als Finanzier und Ausrüster im Hintergrund – intensivieren die militärischen Anstrengungen, die Möglichkeit auf eine baldige Verhandlungslösung rückt immer weiter in Ferne. Eine Exit-Strategie fehlt, es droht ein langer Krieg mit vielen Opfern auf beiden Seiten. Das sind schlechte Nachrichten – vor allem für diejenigen, die an der Front verheizt werden. Ulrich Heyden berichtet aus Moskau für die NachDenkSeiten, wie diese und andere jüngere Entwicklungen in Russland wahrgenommen werden.

Geht Russland in die Offensive?

Der russische Verteidigungsminister Sergej Schojgu erklärte in einem Interview am Mittwoch, 5.937 russische und 61.000 ukrainische Soldaten seien bisher in der Ukraine gefallen. Mit der bekanntgegebenen Zahl toter Soldaten und der am 21. September 2022 von Wladimir Putin angeordneten Teilmobilisierung von 300.000 Reservisten dringt der Krieg nun verstärkt in das Bewusstsein der Russen, die sich vom Krieg bisher weit entfernt fühlten. Viele russische Patrioten, welche die Militärführung wegen eines zu zaghaften Vorgehens kritisierten, sind froh über die Mobilisierung. Doch es gibt auch Menschen, die fürchten, der eigene Sohn könne eingezogen werden, obwohl erklärt wurde, dass nur gut ausgebildete Reservisten und kampferfahrene Soldaten mobilisiert werden. Dass am Tag des Mobilisierungs-Erlasses bei einem Gefangenenaustausch mit der Ukraine 105 Asow-Soldaten freikamen, stieß auf Protest russischer Patrioten.

Für Sergej Markow, einen langgedienten russischen Politologen, Duma-Abgeordneten und Talk-Show-Teilnehmer, ist die Mobilisierung eine gute Nachricht. Markow zählt auf: Die russische Armee erhalte nun 300.000 Reservisten und zusätzlich pro Region 2.000 Freiwillige. Russland hat 85 Regionen. Außerdem käme nach Russland aus dem Ausland eine bestimmte Zahl von Freiwilligen, die nach ihrem Militärdienst die russische Staatsbürgerschaft erhalten. Und schließlich werde die russische Armee um eine bestimmte Zahl ehemaliger Strafgefangener verstärkt. Insgesamt ergebe das eine Erhöhung der russischen Kampftruppen um 600.000 Soldaten. Die Zahl der russischen Soldaten an der Front verdreifache sich und liege dann um mehr als das Doppelte über der Zahl der ukrainischen Soldaten. Das erlaube es Russland, „schnell anzugreifen und den Krieg schneller zu beenden“.

Was wollen die russischen „Ultranationalisten“?

Für die großen deutschen Medien ist die Mobilisierung eine schlechte Nachricht. Gut scheint für die ARD nur, dass Putin jetzt Druck von „Ultranationalisten“ bekommt, die den Kreml-Chef für zu wenig Einsatz im Ukraine-Krieg kritisieren. Zwischen den Zeilen spürt man Schadenfreude, dass der russische Präsident nun nicht nur von Liberalen, sondern auch von „Ultranationalisten“ Druck bekommt. Dass alles gut ist, was die Ukraine dem Frieden näherbringt, ist bei der ARD nicht die Devise. Gut ist, wenn Putin unter Druck kommt, so die „Tagesschau“.

Zu denen, welche die „Tagesschau“ als „Ultranationalisten“ bezeichnet, gehört Igor Strelkow. Er war 2014 einer der Anführer des „Russischen Frühlings“ in der Südostukraine und einige Monate Verteidigungsminister der Volksrepublik Donezk. Heute kommentiert er in sozialen russischen Medien das Kriegsgeschehen in der Ukraine.

Strelkow fordert seit Beginn der russischen Spezialoperation eine stärkere Mobilisierung russischer Soldaten. Nach dem Abzug der russischen Armee aus weiten Teilen des Gebietes Charkow warf er dem russischen Verteidigungsministerium „Unfähigkeit“ vor. In den regierungsnahen russischen Medien kommt Strelkow nicht zu Wort. Dass er sich in den sozialen Medien trotzdem äußern kann, hat wohl damit zu tun, dass der Kreml die Kritik von Strelkow für konstruktiv, zumindest nicht für „staatsfeindlich“ hält.

Die Entscheidung des russischen Verteidigungsministers Sergej Schojgu, 300.000 Reservisten zu mobilisieren, bezeichnete Strelkow gegenüber der russischen Nachrichtenagentur NSN als „logischen Schritt“. Noch mehr Soldaten zu mobilisieren, sei zurzeit „nicht sinnvoll“. Das würde nur „zu Chaos führen“. Auch die Ukraine habe während ihrer sechs Mobilisierungskampagnen immer nur so viele Soldaten mobilisiert, dass sie auch ausgerüstet und transportiert werden konnten, erklärt der Experte.

Die russische Teilmobilisierung werde aber nur ausreichen, um die Front „zu stabilisieren“. Für eine „Zerschlagung des ukrainischen Regimes“ wäre eine weitere Mobilisierung von 300.000 Reservisten – oder auch mehr – nötig. Die Ausschöpfung des Mobilisierungspotentials von 20 Millionen Menschen sei für den „Sturz des Kiewer Regimes“ nicht nötig. Eine vollständige Mobilisierung schaffe nur Chaos und sei „schädlich“ für die russische Wirtschaft. Die jetzt mobilisierten russischen Reservisten werden sich – so der Experte – in ein bis zwei Monaten an der Front befinden. Bis zu diesem Zeitpunkt sei die ukrainische Armee bei der Zahl von Soldaten der russischen Armee überlegen.

Der russische Fernsehkanal „360“ fragte Strelkow, ob der Westen nach den Referenden im Südosten der Ukraine zu einer härteren Gangart gegen Russland übergehen werde. Strelkow antwortete, wenn Russland jetzt „seinen Willen“ zeige „wie am 24. Februar“, werde sich der Westen „wahrscheinlich auf die Position zurückziehen, die er im Februar hatte.“

Große Herausforderung für russische Militärs vor dem Referendum

Strelkow erinnerte daran, dass die USA und andere Nato-Staaten im Februar 2022 ihr Botschaftspersonal aus Kiew abzogen, weil eine russische Invasion drohte. Auch jetzt sei eine „direkte militärische Einmischung“ westlicher Staaten in den Ukraine-Konflikt „sehr unwahrscheinlich“. Unklar ist, warum Strelkow die Tatsache übergeht, dass der Westen seit Februar seine Kräfte konsolidiert hat und seine Absicht, in der Ukraine mit ukrainischen Truppen zu siegen, täglich betont. Gefährlich für Russland – so der Experte – sei aber die Zeit vor den geplanten Referenden im Südosten der Ukraine. Denn es gäbe zahlreiche Hinweise, dass Kiew Vorbereitungen für eine weitere Militäraktion treffe.

Kiew – so die Meinung des Militärexperten – habe zurzeit die „strategische Initiative“ und plane vermutlich einen oder mehrere Angriffe auf die von russischen Truppen kontrollierten Gebiete Cherson, Saparoschije, Donezk und Lugansk. Kiew habe diese Möglichkeit, weil die Ukraine in den letzten sieben Monaten sechs Mobilisierungen durchführte. Dadurch habe die ukrainische Armee jetzt eine Stärke von etwa 700.000 Soldaten. Davon befände sich die Hälfte an oder in unmittelbarer Nähe der Front. Außerdem sei ein großer Teil der ukrainischen Soldaten auf ausländischen Übungsplätzen geschult worden. Der russische Verteidigungsminister Sergej Schojgu gab an, dass die ukrainische Armee zurzeit 300.000 Soldaten mobilisiert hat.

Austausch von Asow-Mitgliedern gegen russische Soldaten

Zu einem Schock bei russischen Patrioten führte die Nachricht, dass am Tag der Unterzeichnung des Mobilisierungserlasses 215 in russischer Gefangenschaft befindliche ukrainische Soldaten gegen 55 russische Soldaten ausgetauscht wurden. Von Kiew freigelassen wurden auch der ukrainische Unternehmer und Oppositionspolitiker Viktor Medwedschuk. Wladimir Putin ist der Patenonkel einer Tochter von Medwedschuk. Der Austausch fand statt unter Vermittlung des türkischen Präsidenten Erdogan.

Unter den freigelassenen ukrainischen Soldaten befinden sich 108 Mitglieder und Kommandeure des rechtsradikalen Asow-Bataillons. Nach Aussagen des ukrainischen Präsidenten Selenski werden sich die freigelassenen Kommandeure des Asow-Bataillons bis zum Ende des Krieges in der Türkei „unter persönlicher Kontrolle des türkischen Präsidenten“ aufhalten.

Die Nachricht von dem Gefangenenaustausch brachte in der Nacht auf Donnerstag zuerst das russische Wirtschaftsportal RBK. Eineinhalb Stunden später berichtete über den Austausch mit Verweis auf RBK auch das Portal des staatlichen russischen Fernsehens „Vesti“ . Das russische Verteidigungsministerium hat auf seiner Website zu dem Gefangenenaustausch bisher nicht Stellung genommen.

Die Nachrichtenagentur Reuters berichtete, dass Moskau außerdem zehn ausländische Söldner freigelassen habe, die auf der Seite der ukrainischen Truppen kämpften. Unter den zehn Freigelassenen befinden sich fünf Briten, zwei Amerikaner, ein Marokkaner, ein Schwede und ein Kroate. Dieser Austausch fand statt durch Vermittlung des saudischen Kronprinzen Mohammed bin Salman Al Saud. Unter den freigelassenen Söldnern befindet sich auch der in Großbritannien geborene Aiden Aslin, der auf ukrainischer Seite in Mariupol gekämpft hatte und in der Volksrepublik Donezk zum Tode verurteilt worden war.

Große Freude in Kiew

Während das russische Fernseh-Portal Vesti über den Gefangenenaustausch nur eine trockene Meldung brachte, wurde der Austausch in der Ukraine groß gefeiert. Präsident Selenski hielt eine Ansprache zu Ehren „unserer Helden“ und die ukrainische Nachrichtenagentur UNIAN veröffentlichte eine Foto-Story der freigelassenen ukrainischen Soldaten. Jake Sullivan, Berater des US-Präsidenten für nationale Sicherheit, dankte Präsident Selenski dafür, dass er zwei US-Bürger in die Liste der Freizulassenden aufgenommen habe.

Genüsslich zitierte die ukrainische Nachrichtenagentur UNIAN den russischen Fernsehmoderator Wladimir Solowjow und die RT-Chefredakteurin Margarita Simonjan. Solowjow hatte sich in der Vergangenheit strikt gegen einen Austausch von Asow-Soldaten ausgesprochen und Simonjan hatte gefordert, bei einem Gefangenenaustausch das Prinzip „Alle gegen Alle“ einzuhalten. Die Demütigung und das Lächerlich-Machen russischer Politiker und Medien-Manager ist für Kiew eine Herzenssache.

Für die patriotischen Russen ist der Gefangenenaustausch schmerzlich, denn eigentlich war ein großes Tribunal über ukrainische Kriegsverbrecher in Donezk geplant. Wegen des ungleichen Gefangenenaustausches beklagen russische Internet-User, dass das Leben des Putin-Freundes Viktor Medwedschuk offenbar mehr wert ist als das Leben eines russischen Soldaten.

Viele Fragen bleiben offen

Westliche Medien berichten, dass wegen der angeordneten Teilmobilisierung russische Reservisten ins Ausland fliehen. Fluglinien seien ausgebucht und vor den Grenzen gäbe es lange Schlangen. Doch das ist meiner Einschätzung nach vor allem Stimmungsmache, mit einer kräftigen Prise Schadenfreude. Ja, es gibt viele soziale Fragen, die für die Reservisten noch geklärt werden müssen, wie zum Beispiel die Frage, ob man nach dem Militäreinsatz an seinen alten Arbeitsplatz zurückkehren kann. Aber nach meinem Eindruck unterstützt die russische Bevölkerung die Teilmobilisierung.

Doch es mehren sich die Fragen an die Militärführung und den Kreml. Woran lag es, dass die russische Armee sich von Kiew und Charkow zurückzog? Warum wird der militärische Nachschub für die Ukraine aus westlichen Staaten nicht mit gezielten Militärschlägen unterbunden? Warum wird das Prinzip „Alle gegen Alle“ beim Gefangenenaustausch nicht eingehalten?

Liberale und Linke gegen Putin

Die russischen Liberalen und auch einige Linke Russlands inszenieren sich jetzt als die „wahren“ Beschützer des Mutterlandes. In einer ARD-Live-Schaltung kam ein Abgeordneter aus St. Petersburg zu Wort, der ausgiebig eine Initiative zur Absetzung von Putin begründen durfte. Putin schade mit dem Krieg in der Ukraine der russischen Nation.

Auch einige russische Linke, wie Boris Kagarlitsky, argumentieren in diese Richtung. Auf die westlichen Waffenlieferungen an die Ukraine und die schleichende Einverleibung der Ukraine in die Nato gehen diese Linken und Liberalen mit keinem Wort ein, was ihre Argumentation unglaubwürdig macht.

Titelbild: Andrey Burmakin/shutterstock.com

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