„Nur der existiert, der in den Medien ist.“

Albrecht Müller
Ein Artikel von:

Einer unserer Leser kritisiert eine ungenaue Formulierung in meinem Text zu Hengsbach und den Intellektuellen und gibt zusätzlich viele interessante Hinweise. Hier seine Mail:

An: [email protected]
Betreff: Friedhelm Hengsbach – einem der letzten Intellektuellen mit einer eigenen Meinung

als regelmäßiger Leser der Nachdenkseiten möchte ich Sie auf einen Denkfehler aufmerksam machen oder, genauer gesagt, auf eine ungenaue Formulierung, die deutlich macht, daß auch die “letzten” kritischen Intellektuellen nicht davor gefeit sind, Denkmuster einer öffentlichen Meinung zu übernehmen, in denen diejenigen verschwinden, ja, überhaupt nicht zu existieren scheinen, denen Öffentlichkeit nicht oder nur sehr marginal zuteil wird.
Ihre Formulierung müßte präziser lauten: >>Friedhelm Hengsbach ist einer der letzen prominenten, bekannten Intellektuellen, der noch eine eigene Meinung hat.
Wie viele Intellektuelle es darüber hinaus gibt, die die neoliberale Wirtschaft und ihre Geschäftsführer in der Politik kritisieren, wissen wir nicht, weil wir gewöhnlich nur das wahrnehmen, was in den Medien erscheint. Der Satz des irischen Philosophen und Bischofs George Berkeley “esse est percipi” – Sein ist wahrgenommen werden – müßte heute lauten: esse est tivipi. Nur der existiert, der in den Medien ist. Und die Medien sind heute, wie Wolfgang Lieb vor einiger Zeit schrieb, die Lautsprecher neoliberaler Machthaber. Wie sollte da jemand, der weder über eine Professor noch über ein anderes repräsentatives Amt verfügt, das ihm per se Reputation verleiht, wie sollte also jemand, der nicht schon vor der Flutwelle neoliberalistischer Ideologie etabliert war, sich überhaupt noch öffentlich Gehör verschaffen?
Man muß sich in erster Linie selbst fragen – und das gilt besonders dann, wenn man öffentlich wirksam ist -:
Könnte ich bei den Urteilen, die ich fälle, etwas übersehen haben, könnte es sein, daß meine Statements Generalisierungen sind, mit denen ich den Ausgegrenzten und nicht Wahrgenommenen, zusätzlich Unrecht antue. Mit anderen Worten: Es gibt hierzulande genügend Intellektuelle, die sich sehr kritisch mit gegenwärtiger Politik auseinandersetzen, die aber kaum Gelegenheit erhalten, ihre Analysen zu publizieren.
Da wir hierzulande seit Jahren eine massive Meinungsmanipulation erleben, auf die die Nachdenkseiten immer wieder hinweisen; da die Bedeutung der Begriffe gezielt in ihr Gegenteil verkehrt wird (für mich der Hauptgrund, warum ich die SPD nicht mehr wählen kann), ist es um so dringlicher, daß die wenigen Kritiker des Neoliberalismus, denen noch Öffentlichkeit zuteil wird oder die sich diese Öffentlichkeit wie die Nachdenkseiten kontinuierlich erarbeiten, daß diese Kritiker es verstehen, mit Sprache sehr sensibel umzugehen.

Ich möchte Ihnen aber in gewisser Weise recht geben: Unter den Intellektuellen mit Öffentlichkeitswirkung ist das Wissen um die Zusammenhänge von globalisierter Wirtschaft und Politik dürftig.
Dies hat wieder einmal eine Sendung im ZDF gezeigt, in der einige Schriftsteller “live” den Ausgang der Bundestagswahl im Nachstudio mit Volker Panzer diskutieren durften. Diese Sendung lief nach Mitternacht, also am 19.9.2005 um 0:15. Sie wird wiederholt am Donnerstag, den 22. 9. 2005, um 10:15 auf 3sat.
Im folgenden der Link, dem Sie die Namen der Diskutanten entnehmen können. Ich habe die Sendung leider nur zum Teil verfolgt. Sie wäre es wert, aufgezeichnet und dann analysiert zu werden, weil die Äußerungen der überwiegend jungen SchriftstellerInnen wie Thea Dorn exemplarisch verdeutlicht, wie gut die Gehirnwäsche der neoliberalen Propaganda, an der die SPD einen wesentlichen Anteil hat, funktioniert. So war unter anderem zu hören, die Linken in der SPD hätten Schröder den Teppich unter den Füßen weggezogen. Gefragt wurde nicht, ob die kritischen Argumente gegen Schröder einen Wahrheitsgehalt haben beziehungsweise von der Sache her begründet sind. Das pure Faktum, mit Schröder nicht einer Meinung zu sein, wurde schon als negativ hingestellt.
Zur “Quelle”

Ich hatte vor einiger Zeit Herrn Lieb geschrieben, daß die Nachdenkseiten ausschließlich nur zu Politik und Wirtschaft Stellung nehmen und daß Politisches in Kunst und Literatur nicht vorkämen, also eine ganze Dimension unseres Daseins außen vor bleibt. Nun, ich will damit nicht sagen, daß die Nachdenkseiten dies auch noch leisten müßten, sondern auf folgendes aufmerksam machen:
Die Äußerungen der SchriftstellerInnen in der ZDF-Sendung machte deutlich, daß man ohne die genauen Kenntnisse der Zusammenhänge zwischen Wirtschaft und Politik letztlich in den propagandistischen Phrasen von Bertelsmann und Co., von Schröder, Clement, Hundt, Braun usw. hängen bleibt. Das heißt, die Fokusierung der Nachdenkseiten auf wirtschaftpolitische Themen ist ein Indiz für eine historische Parallele, nämlich die zur Reformation.

Nimmt man Luther als Beispiel, dann hat dieser sich mit der Religionspraxis der Papstkirche detailliert auseinandergesetzt. Er mußte es, nicht nur, weil er sich selbst als Christ verstand, sondern weil die katholische Kirche – in ihrer Verfilzung mit weltlicher Macht – einen Absolutheitsanspruch vertrat, den man nur “knacken” konnte, in dem man dieser Kirche nachwies, daß ihre Lehre falsch ist.

Ich will damit sagen, wenn ein Denkgebäude mit absolutem Wahrheitsanspruch auftritt und sich anschickt, die Macht über die Menschen, die Macht über die Nationen und Gesellschaften zu übernehmen, muß man sich in erster Linie damit beschäftigen, diesen Wahrheitsanspruch durch fundierte Gegenargumente zu widerlegen. Daß die Nachdenkseiten sich also fast auschließlich mit wirtschaftspolitischen Themen befassen, zeigt für mich auf, wie totalitär der Neoliberalismus geworden ist. Ohne Kritik an seinen diktatorisch vorgetragenen Desideraten, ohne Kritik an seiner Unersättlichkeit muß man an sich selbst verzweifeln, wird man irre im Kopf, aber diese täglich notwendige Kritik an dieser brutalen, alles beherrschen wollenden Ideo- logie macht selber einseitig. Nicht, daß man als Person einseitig würde, aber man reagiert und antwortet fast nur noch auf die Einseitigkeiten der Macht.

Herzliche Grüße aus Kassel
Ihr Klaus Baum