Geht es in der internationalen Politik nur um „die Interessen von Staaten“?

Geht es in der internationalen Politik nur um „die Interessen von Staaten“?

Geht es in der internationalen Politik nur um „die Interessen von Staaten“?

Albrecht Müller
Ein Artikel von: Albrecht Müller

Vermutlich wird der frühere deutsche Politiker Egon Bahr und Zuarbeiter Willy Brandts bei der Umsetzung der Entspannungspolitik mit keiner Äußerung so oft zitiert wie mit dieser: „In der internationalen Politik geht es nie um Demokratie oder Menschenrechte. Es geht um die Interessen von Staaten. Merken Sie sich das, egal, was man Ihnen im Geschichtsunterricht erzählt.“ Jetzt berief sich auch Michael Lüders hier auf diese Bemerkung von Bahr. Das Video mit dem Titel „Wir sind die Guten! Über Macht und Moral am Beispiel der Grünen“ ist interessant, aber die Berufung auf Bahr ist typisch für fortschrittliche Menschen, die sich als realpolitisch orientiert geben wollen. Die von Bahr als Mitarbeiter von Brandt vertretene Verständigungspolitik ist das Musterbeispiel dafür, dass internationale Politik besonders erfolgreich ist, wenn man die eigenen Interessen hintanstellt. Albrecht Müller.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

„Wir wollen ein Volk der guten Nachbarn sein“– dieser Kernsatz der Entspannungspolitik aus der Regierungserklärung des damaligen Bundeskanzlers vom 28. Oktober 1969 ist eben gerade nicht die Parole der nackten Interessenvertretung. Es ist ein Angebot an die Partner in der Welt, es ist ein Angebot an die Nachbarn und es ist ein Signal dafür, zum Zwecke guter Nachbarschaft auch Zugeständnisse zu machen und eigene Interessen zurückzustellen oder ganz zu streichen.

Ganz konkret ging es damals zum Beispiel darum, die gute Nachbarschaft zu Polen und den Völkern in Osteuropa dadurch möglich zu machen, dass Deutschland die Oder-Neiße-Grenze anerkannte und damit auf einen Teil im Osten des früheren Deutschen Reiches verzichtete. Damals, 1972, ist zum Beispiel der Vorsitzende der Landsmannschaft Schlesien, Herbert Hupka, aus der SPD ausgetreten – wegen der neuen Ostpolitik und wegen des Verzichts auf Schlesien und damit wegen des Mangels, deutsche Interessen zu vertreten, so jedenfalls Hupka und viele mit ihm.

Die zitierte Äußerung von Egon Bahr hinterlässt den Eindruck, als würde es in der internationalen Politik eigentlich nur eine Version des Umgangs unter den Völkern geben: die Vertretung von eigenen Interessen. In der Realität ist das nicht so und die deutsche Geschichte nach dem Zweiten Weltkrieg war auch nicht von dieser einen Sicht der internationalen Beziehungen geprägt. Auf zwei Versionen des Umgangs mit anderen Völkern soll hier hingewiesen werden:

  1. Die eine Version ist wie oben schon beschrieben am besten gekennzeichnet durch die Äußerung in der Regierungserklärung von 1969: „Wir wollen ein Volk der guten Nachbarn sein“. Die Politik war damals geprägt durch eine Reihe anderer, dazu passender Formulierungen: Verständigungspolitik, sich vertragen, Vertrauen bilden, Entspannungspolitik, Friedenspolitik, Gemeinsame Sicherheit, Nie wieder Krieg.
  2. Die andere Version spielte dann schon in den fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts die größere und politikentscheidende Rolle: Wiederbewaffnung, Politik der Stärke, Abschrecken, Kriege sind notfalls die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln. Dazu gehörte damals schon ein deutlich erkennbarer Rassismus, eine Konfrontation und Verachtung gegenüber den Slawen und speziell den Russen.

Beide Versionen kann man mit einem Plakat und einem Foto visuell darstellen.

Hier die Illustration der Konfrontation in den fünfziger Jahren, damals die gängige Interessenvertretung:

Und hier die Illustration der anderen Version des Umgangs miteinander, zugegeben einer extrem anderen:

Nun kann man natürlich behaupten, dass auch mit dem Kniefall von Warschau deutsche Interessen vertreten worden sind. Letztlich ist das richtig. Aber so gemeint ist es nicht, wenn Michael Lüders auf die Äußerung von Egon Bahr hinweist. Egon Bahrs Äußerung mobilisiert einen ganz anderen Geist und auch andere Unterstützer, als es die Politik der Verständigung jemals vermocht hat. Aber die Politik der Verständigung ist aus meiner Sicht um vieles zielführender als die lautstarke, nackte Interessenvertretung.

Weltweit keimte damals – übrigens nicht nur verbunden mit dem Namen des deutschen Bundeskanzlers, sondern zum Beispiel auch mit dem des schwedischen Ministerpräsidenten Olof Palme – die Hoffnung auf, die Völker der Welt könnten in einem anderen Geist als dem Geist der Interessenvertretung zusammenleben und sich ohne Konflikte bis hin zum Krieg verständigen. Wie sehr der von unserem Land und auch von Olof Palme ausgehende Geist und die Praxis der Politik die Atmosphäre prägten, erfuhr ich im Frühjahr 1970 bei einem Besuch von Tansania. Ich war zu Besuch bei einem Freund und seiner Familie, die in den Usambara-Bergen ein Entwicklungsprojekt zur besseren Ernährung betreuten. Der damalige Präsident des Landes, Julius Nyerere hatte über irgendwelche Kanäle erfahren, dass ein Mitarbeiter von Willy Brandt Tansania besuchte. Er lud daraufhin mich und meinen Freund zu einem Gespräch ein. Bei ihm war angekommen, dass in Europa und speziell in Westdeutschland ein anderer Geist des Umgangs der Völker untereinander eingezogen sei. Das Gespräch war ausgesprochen freundlich und interessant. Der Präsident von Tansania ließ eine große Sympathie für unser Land erkennen, nicht weil damals die deutschen Interessen vertreten wurden, sondern weil erkennbar wurde, dass die politische Führung in Deutschland auch die Interessen anderer Völker achten wollte und achtete. Nyerere hatte Sympathie für die erste Version des Umgangs miteinander, weil diese auch aus seiner Sicht Verständigung und Frieden möglich machte, und übrigens auch die Förderung und Entwicklung seines Landes und der anderen in der sogenannten Dritten Welt.

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Titelbild: Markus Wissmann / Shutterstock

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