Jeffrey Sachs: „Das ist ein Krieg zwischen Russland und den Vereinigten Staaten“

Jeffrey Sachs: „Das ist ein Krieg zwischen Russland und den Vereinigten Staaten“

Jeffrey Sachs: „Das ist ein Krieg zwischen Russland und den Vereinigten Staaten“

Ein Artikel von: Redaktion

Das ist eine Kernaussage von Jeffrey Sachs in einem Grayzone-Interview vom 10.10.2022 mit den US-Journalisten Aaron Maté und Max Blumenthal. Sachs ist Direktor des Center for Sustainable Development an der Columbia University in New York City. Susanne Hofmann hat das Interview übersetzt und etwas gekürzt – eine dankbar angenommene Hilfe für NachDenkSeiten-Leserinnen und -Leser. Besonders interessante Passagen sind gefettet, für einen schnellen Überblick. Albrecht Müller.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Maté:

Präsident Selenskij hat jüngst Präventivschläge gegen Russland gefordert – auch wenn ein Sprecher danach wieder zurückruderte und sagte, er habe Präventiv-Sanktionen gemeint. Biden sprach derweil davon, die Welt stehe zum ersten Mal seit der Kubakrise wieder einem Armageddon gegenüber, und sagte zugleich, Putin meine es ernst, wenn er sage, er würde biologische, chemische und taktische atomare Waffen einsetzen – obwohl ich persönlich das von Putin selbst so nicht vernommen habe.

Wie deuten Sie diese aufgeladene Rhetorik, denken Sie, die USA sind derzeit ernsthaft interessiert an einem Ausweg aus der Eskalation?

Sachs:

Das ist ein Krieg zwischen Russland und den Vereinigten Staaten. Wir wissen nicht genau, wie viele US-Soldaten auf ukrainischem Boden sind, wir wissen aber, dass Amerika Waffen für die Ukraine finanziert und das Land mit Geheimdienstinformationen versorgt. Es stehen sich also zwei Seiten gegenüber mit je rund 1.600 Atomwaffen in einem Krieg, der für Russland von außerordentlicher Bedeutung ist, über den die USA bisher sagen, wir werden alles dafür tun, Russland eine Niederlage beizubringen.

Es gibt allerdings einen Ausweg, der offen zutage liegt: Dass die NATO sagt, wir nehmen die Ukraine nicht in die NATO auf. Punkt. Diese Lösung hätte den Krieg verhindert und sie hätte den Krieg bereits im März zu einem Ende gebracht, als Russland und die Ukraine unter der Vermittlung der Türkei einer Lösung nahe waren und das auch öffentlich sagten.

Viele von uns sind der Auffassung, dass die USA diese Verhandlungslösung verhindert haben. Wir wissen nie so ganz genau, was da in unserer Regierung gespielt wird, weil sie nicht die Wahrheit sagt.

Ich denke, die NATO-Erweiterung ist ein tief verankertes Ziel der USA, das bis zurück in die frühen 1990er Jahre zurückreicht. Russland weist dieses Ziel seitdem genauso entschlossen zurück.

Putin hat das auch Ende 2021 sehr deutlich gemacht: Die Neutralität der Ukraine ist meine rote Linie. Damals rief ich im Weißen Haus an und sagte: Die Neutralität wäre für beide Seiten richtig. Das Weiße Haus bestand aber darauf, dass die Ukraine das Recht habe, der NATO beizutreten. Ich aber bleibe dabei: Es muss verhandelt werden. Übrigens kann nicht Selenskij die Verhandlungen mit Putin führen. Denn das ist ein Krieg zwischen den USA und Russland. Hier müssen der amerikanische und der russische Präsident direkt miteinander reden.

Maté:

Selenskij hat ja auch schon ausgeschlossen, mit Russland zu verhandeln, solange Putin an der Macht sei…

Sachs:

Ich habe die Kubakrise en detail studiert. Wir standen am Rande der atomaren Zerstörung, auf den Monat genau vor 60 Jahren. Und in dieser Krise bestand eine der Provokationen darin, dass Castro sagte: Los, schlagt zu – an Chruschtschow gerichtet – er forderte ihn also zu einem Präventivschlag auf. Genau wie es Selenskij jetzt fordert. Und wie reagierte Chruschtschow? Er sagte, das soll unser Verbündeter sein, der den Weltuntergang will? Wir sollten lieber schnell verhandeln.

Ich bin absolut entsetzt über Aussagen wie die von Selenskij. Das Schlimme ist, dass die USA der Ukraine volle Unterstützung zusichern und damit auch solchen provokanten Aussagen Carte Blanche erteilen.

Hier kommt ein kleines Quiz:

Russland kontrolliert das Atomkraftwerk von Saporoschschja. Das wird beschossen. Wer schießt denn da also? Unsere Medien sagen: Oh, wir wissen das nicht!

Die können offenbar Eins und Eins nicht zusammenzählen und zu dem Schluss kommen: Hm, wenn Russland das Atomkraftwerk kontrolliert, dann wird es das Atomkraftwerk vielleicht nicht zugleich selbst beschießen?

Es ist nahezu sicher, dass die Ukraine dafür verantwortlich ist. Und doch bringen wir es nicht über uns, diese einfache Wahrheit auszusprechen! Wir lassen die Ukraine straflos gewähren, statt zu sagen: Hört damit auf! Wir schaffen es nicht einmal, diese Forderung auszusprechen. Das ist das Problem.

Wir hetzen die Ukraine gegen Russland auf. Auf die Weise riskieren wir ein Armageddon. Das ist ein gigantischer Fehler dieser Administration.

Ich bin 67 Jahre alt und habe viele US-Kriege erlebt: Vietnam, Laos, Kambodscha, Nicaragua, Irak, Syrien, Afghanistan, Libyen, Jemen und weitere. Es ist die Aufgabe des US-Präsidenten, auf die Bremse zu treten. Denn dieses Land ist eine Kriegsmaschine. Hier geht es nicht um einen Zuschauersport, das ist tödlicher Ernst. Der Präsident muss die Zerstörung der Welt verhindern.

Blumenthal:

Sie sagen, wir haben es mit einem Krieg zwischen den USA und Russland zu tun. Wichtige US-Vertreter fordern seit langem, dass Nordstream 2 beendet werden muss. Wer ist Ihrer Meinung nach für die Anschläge verantwortlich, die ja massive Auswirkungen auf die deutsche Wirtschaft haben?

Sachs:

Ich war nicht dabei, meine aber, dass die Amerikaner Nordstream gesprengt haben. Biden sagte schon im Februar: Sollte Putin einmarschieren, ist es aus mit Nordstream 2. Auf die Frage einer Reporterin, wie man denn das bewerkstelligen wolle, sagte er nur: Wir haben unsere Mittel und Wege.

Also – wer überwacht den Luftraum, wer hat die Mittel zu so einem Anschlag, wer hat bereits angekündigt, die Pipeline zu verhindern, und wer sprach nach der Sabotage von einer großen Chance für die USA, Europa für alle Zukunft vom russischen Gas zu lösen? Erfahrene Journalisten sagen mir: Natürlich waren das die USA. Aber diese Erkenntnis findet ihren Weg nicht in unsere Nachrichten.

Blumenthal:

Biden hat angekündigt, die USA würden die Sabotageakte untersuchen – denken Sie, diese Untersuchungen dienen dazu, Amerika einen Persilschein auszustellen? Ich erinnere an die Untersuchungen des angeblichen Chemiewaffenangriffs durch Assad im syrischen Douma im Jahr 2018, bei denen die Inspekteure der Organisation für das Verbot chemischer Waffen (OPCW) von der eigenen Leitung zensiert und sogar angegriffen wurden.

Sachs:

Da die USA wahrscheinlich Verantwortung für die Sabotage an Nordstream 2 tragen, wird bei einer US-Untersuchung nichts Glaubwürdiges herauskommen.

Ich bin 67 Jahre alt und habe lange gebraucht, um zu verstehen, dass nahezu alles, was die USA sagen, nicht wahr ist. Wir haben einen geheimen Staat, der den Großteil unserer Außenpolitik und Militäroperationen leitet, wir erfahren nicht, was tatsächlich läuft. Ich erwarte mir also nichts von einer amerikanischen Untersuchung der Vorfälle, eher noch von den europäischen Ermittlungen. (Dazu Anmerkung Albrecht Müller: Viel zu optimistisch!) Immerhin ist es ihre Infrastruktur, ihre Pipeline, ihre Wirtschaft – und man möchte doch eigentlich annehmen, dass es in ihrem Interesse ist, die Wahrheit herauszufinden.

Andererseits gehe ich davon aus, dass sie nichts sagen werden, weil sie die USA für ihren Sicherheitsschirm halten – dabei ist meines Erachtens das Gegenteil der Fall. Die USA und ihre Provokationen sind Europas größte Bedrohung derzeit.

Die Sprengung wird sich vermutlich in die lange Reihe von Vorfällen einreihen, die nie aufgeklärt wurden. Wir haben es schließlich mit einem Staat zu tun, der sich in Geheimniskrämerei hüllt und auf Straffreiheit setzt.

Die USA haben den Krieg in Syrien 2011 angezettelt. Man wollte Assad stürzen. Präsident Obama unterzeichnete ein entsprechendes Papier namens „Operation Sycamore“. Ich finde es höchst erstaunlich, dass wir darüber so gut wie nichts gehört haben. Wir hörten nur, das ist ein Bürgerkrieg. Und dann den Vorwurf, dass Putin in den Krieg eingegriffen habe. Über Operation Sycamore hat die New York Times meiner Erinnerung nach nur ein einziges Mal berichtet. Ich wusste darüber damals gut Bescheid, hatte Zugang zu diplomatischen Quellen. Es waren Welten zwischen der Realität und dem, was die Mainstreammedien berichteten. Dort präsentierte man jahrelang ein vollkommen faktenfreies Narrativ.

Maté/Blumenthal:

Was treibt die US-Führung im Ukraine-Krieg an? Warum ist man so entschlossen, die Ukraine in diesem Krieg zu opfern?

Haben Sie Einblick in die Biden-Administration – sehen Sie da jemanden, der sich diesem Drang in Richtung nukleare Eskalation widersetzt?

Sachs:

Die US-Denkweise der Neokonservativen bestimmt seit 30 Jahren die Politik. Sie sehen Amerika als die einzige Supermacht und dass das auch so bleiben soll. Die strategische Doktrin der USA nennt zwei Bedrohungen: Russland und China. Schon Brzezinski zeigt in seinem Buch „The grand Chessboard“ („Die einzige Weltmacht“) von 1997, dass die Ukraine der Schlüssel für die Beherrschung der Welt ist. Die Neukonservativen haben darüber ganz offen geschrieben. Sie dachten, sie könnten das mehr oder weniger unbeobachtet von Russland erreichen durch die NATO-Erweiterung. Die Spitze der Administration hat sich 2021 vehement für die Aufnahme der Ukraine in die NATO ausgesprochen. Ich dagegen sage: Wir müssen endlich verhandeln.

(Nachträgliche Korrektur: Die Eingangsfrage war nicht ganz korrekt übersetzt. Deshalb um 10 Uhr geändert)