Stimmen aus Lateinamerika: Der unsichtbare Süden

Stimmen aus Lateinamerika: Der unsichtbare Süden

Stimmen aus Lateinamerika: Der unsichtbare Süden

Ein Artikel von José Ernesto Nováez Guerrero

Wir Nationen des Südens sind – was den kolonialistischen und erobernden Westen angeht – immer unsichtbar gewesen. Der von Europa gegen Ende des 15. und zu Beginn des 16. Jahrhunderts eingeleitete Prozess, der vom Historiker Serge Gruzinski als die Iberische (und im weiteren Sinne europäische) weltweite Ausbreitung bezeichnet wurde, stellte die westlichen Länder erstmals Gesellschaften und Kulturen gegenüber, zu denen sie keinerlei Beziehungen und oftmals nicht einmal irgendeinen Bezug hatten. Von José Ernesto Nováez Guerrero.

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Die Ankunft der Portugiesen in Afrika und Asien und die Ankunft der Spanier in Amerika markiert nicht nur den Beginn eines gewaltsamen Prozesses der Beherrschung des Anderen, sondern viele dieser Gesellschaften gerieten von da an auch in Vergessenheit.

Ein Vergessen-Werden, auch durch die Zerstörung der schriftlichen und mündlichen Quellen mittels derer die konstituierenden Elemente der Identität dieser Völker bewahrt und weitergegeben wurden; durch die Auferlegung einer Sprache, einer Religion und kultureller Praktiken, die dem, was diese Völker ausmachte, völlig fremd waren. Und auch durch die bewusste Neu-Schreibung wichtiger Teile ihrer Geschichte, besonders bezüglich der Zeit der Eroberung. Damit wurde versucht, eine ausschließlich auf Profit gerichtete Unternehmung als fromme zivilisatorische Aktion darzustellen.

Es ist klar, dass der Erfolg dieses Vorhabens, alles in Vergessenheit geraten zu lassen, in großem Maße nicht nur vom Erfolg der Eroberung abhängt, sondern auch vom Charakter der Gesellschaften selbst, mit denen die europäischen Interessen konfrontiert sind. In seinem Buch Der Adler und der Drache. Die europäische Maßlosigkeit und weltweite Ausbreitung im 16. Jahrhundert vergleicht der Historiker Serge Gruzinski zwei Prozesse, die man als beispielhaft hinsichtlich der europäischen Expansion betrachten könnte. Einerseits die Ankunft der Portugiesen in China und andererseits die Ankunft von Hernán Cortés in Mexiko.

Die Portugiesen, die schon gewaltsam in den Südosten von Asien eingedrungen waren, wollten ihren Besitzungen das ausgedehnte und reiche Land der Seide hinzuzufügen. Mit diesem Ziel entsandten sie eine erste, als diplomatische Mission getarnte Expedition unter dem Kommando des Händlers und Kenners des Ostens Tomé Pires. Nach einem langen Prozess voller Widersprüche, Unverständnis und Fehlern der Portugiesen und auch ein bisschen Pech, scheiterte die ganze Expedition letztendlich. Die Portugiesen werden gefangen genommen, die Chinesen vernichten die zu ihrer Rettung entsandte Flotte und richten alle Gefangenen hin.

Die portugiesischen Gelüste treffen auf die Mauer von Tausenden Jahren Kultur und auf eine Zivilisation, die – auch wenn sie einen gewissen technologischen Rückstand auf Europa aufwies – nicht so leicht zu unterwerfen war. Als Sieger schrieben die Chinesen ihre Darstellung der Ereignisse, einschließlich wichtiger Warnungen vor diesen Barbaren, die aus unbekannten Gebieten gekommen waren.

In Mexiko war der Prozess ein anderer. Im Unterschied zu China und Südostasien lebten die mesoamerikanischen Gesellschaften in relativer Isolation. Ungeachtet des Reichtums ihrer Welt verfügten sie nicht über die physischen und gesellschaftlichen Voraussetzungen, um dem Eindringen der spanischen Konquistadoren gewachsen zu sein. Die Zerstörung der präkolonialen amerikanischen Welt, die weit über den Zusammenbruch der Dreier-Allianz unter Führung von Tenochtitlán hinausreicht, markiert den Beginn des Prozesses der gewaltsamen Unsichtbarmachung der kolonialen Welt in der Moderne. Die Geschichte dieses Prozesses und der indigenen Gesellschaften werden die spanischen Chronisten erzählen. Die Stimme der Indigenen wird bis vor relativ kurzer Zeit abwesend bleiben.

Der aufstrebende europäische Kapitalismus brauchte Ressourcen, um sich entwickeln zu können. Diese wurden der kolonialen Welt mittels eines speziell dafür organisierten Systems geraubt. Während die kolonialisierten Länder selbst dazu verurteilt waren, einige wenige Ressourcen zu produzieren, dienten sie der Aufnahme des Überschusses des europäischen verarbeitenden Gewerbes – ein Modell, das bis heute fortbesteht.

Die koloniale Welt existierte nur als das Exotische oder Barbarische. So wurde sie in zahlreichen Abbildungen, in Romanen und anderen Texten dieser Epoche dargestellt. Ihr Schicksal interessierte nur, wenn irgendein Europäer als Protagonist auftrat. Viele der aufgeklärtesten Geister näherten sich unserer Wirklichkeit nur aus einer beschränkten Perspektive und konnten viele wesentliche Fragen nicht verstehen.

Wenngleich es zutrifft, dass es unter den Europäern auch jene gab, die die Besonderheiten unserer Gesellschaften angemessen und korrekt zum Ausdruck brachten und sogar auch solche, die die Grausamkeiten der Conquista und des Kolonialregimes anprangerten, so waren sie doch “Rufer in der Wüste”, die die Haltung Europas gegenüber der kolonialen Welt nicht grundlegend veränderten.

Dass etwas bewusst unsichtbar gemacht wird, bedeutet nicht, dass es nicht existiert. Die unterworfenen Völker leisteten Widerstand. Es war ein manchmal gewaltsamer und oft kultureller, verdeckter Widerstand. Sie verbargen ihre Glaubensvorstellungen hinter denen ihrer Unterdrücker, passten ihre Rhythmen an die Musikinstrumente der Herrscher an und schufen in nicht wenigen Fällen neue Genres, in denen sich Elemente unterschiedlicher Herkunft vermischten.

Aus dieser Dialektik zwischen Identitäten von Unterdrückern und Unterdrückten wurden die neuen Gesellschaften geboren, die im Lauf der Jahrhunderte sich mehr als kreolische denn als europäische erweisen sollten und die komplexen und langwierigen Prozesse der Dekolonialisierung in Gang setzten, die sich mit mehr oder weniger langen Zeitabschnitten mindestens vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart erstrecken.

Aber die politische Unabhängigkeit beinhaltet nicht notwendigerweise die tatsächliche Unabhängigkeit. Darauf verweist zurecht Franz Fanon in seinem 1961 erschienenen Buch Die Verdammten dieser Erde, das zwar angesichts des konkreten Ereignisses der algerischen Revolution geschrieben wurde, aber auch einen scharfen Blick auf die gesamte postkoloniale Welt wirft. Oftmals fehlt es den Volksbewegungen an Kräften, über den Moment der Niederlage des Feindes hinauszugehen.

Das Fehlen eines Programms, Verrat, Niederlage oder Tod der wichtigen Anführer, die Spaltungen innerhalb der revolutionären Kräfte sind oftmals Faktoren, die dazu führen, den Prozess in den Händen der nationalen Bourgeoisie zu belassen. Und diese Bourgeoisie, die einäugig, einarmig und gelähmt unter der Decke des Kolonialsystems geboren wurde, weiß nichts anderes zu tun, als sich die größten Pfründe für sich selbst zu sichern und das Land an die Finanzvertreter der alten Kolonialherren zu verkaufen.

Den Kolonialismus mit Waffen zu besiegen heißt nicht, ihn in den Seelen der kolonisierten Subjekte zu besiegen. Das Unsichtbarmachen ist nicht nur ein Akt des Beherrschers gegenüber dem Beherrschten, sondern es ist ein Prozess im Bewusstsein des Beherrschten über sich selbst und das Seine.

Daran gewöhnt, nicht zu sehen, bewertet das kolonisierte Subjekt alles das, was aus der Metropole kommt, als positiv und entwertet und verachtet das Eigene; was eigentlich Elemente sein sollten, die er stolz als Nachweise seiner Identität zeigt. Die Verachtung des Südens für den Süden, die gewaltsamen Brüche zwischen den Gesellschaften und Ländern, die Geringschätzung, mit der einige Nationen auf andere und deren Einwohner blicken, die chronische Schwierigkeit, gemeinsame politische Positionen zum gemeinsamen Wohl zu artikulieren sind unvermeidliche Ergebnisse dieses Prozesses.

Um unsere Unsichtbarkeit aufrechtzuerhalten, haben die faktischen Mächte auf Mittel gesetzt, die weit über Zwangsmaßnahmen hinausgehen. Der Zwang garantiert nur die zeitweise physische Unterwerfung. Es ist erforderlich, im Denken und Fühlen der Beherrschten ideologische Wahrheiten zu säen, die nicht verschwinden, auch wenn die Macht, die sie säte, verschwindet. Mit diesem Ziel nutzte das Kolonialsystem das, was Althusser “ideologische Staatsapparate” nannte, speziell die Religion und die Schule, obwohl die Rolle der Familie bei dieser Art “Bildung” der Individuen nicht gering zu schätzen ist. Diesen traditionellen Apparaten fügte die kapitalistische Entwicklung eine Evolution ohnegleichen der Kommunikationsmedien hinzu, die von reinen Vehikeln zur Übermittlung von Nachrichten zu mächtigen Strukturen der Sinnstiftung wurden.

Zur Homogenisierungsbestrebung der Conquista kam später die des Kapitals und damit die der mächtigen Kulturindustrien des modernen Kapitalismus hinzu. Das Ergebnis ist – gestern wie heute –, dass der Süden nicht existiert, man ihn nicht sieht und wenn er auftaucht, dann als Folklore oder Bühnenbild.

Nehmen wir als kleines Beispiel dieser Strategie der permanenten Unsichtbarmachung die zahlreichen Filme über Superhelden, die heute die Bildschirme überschwemmen wie eine wahre Plage. Sie sind nicht nur die idealistische Glorifizierung der Fähigkeiten des Individuums, sondern sie sind eine Quelle der ideologischen Bildung auf unterster Stufe für Millionen von Zuschauern in allen Teilen der Welt.

In diesen Filmen sind fast alle Protagonisten Männer und Frauen von unglaublicher Schönheit nach den westlichen Standards, fast alle sind Weiße, auch wenn es mal einen Asiaten, Schwarzen oder Latino als Beweis der Diversität und der politischen Korrektheit gibt. Wenn ein Schurke angreift, tut er es immer in den großen Hauptstädten der entwickelten Welt, in London, Paris oder New York.

Wenn er zufällig mal irgendein afrikanisches Land angreifen würde, wäre das in einer der Städte in Südafrika oder in Kairo, relevant für seine pharaonische Vergangenheit. Wenn er in Asien angreifen würde, wäre das in Peking oder Singapur. Niemals würde es irgendeinem Gangster einfallen, Bamako, Lomé, Kinshasa, Ulan-Bator, Asunción, Paramaribo oder irgendeine andere Stadt unserer vergessenen Länder anzugreifen.

Für diese großen Kulturindustrien, für den Kapitalismus, der sie unterhält und den sie unterhalten, existiert der größte Teil der Welt heute immer noch nur in der Form der Rohstoffquellen, als Markt für seine überschüssigen Produkte und immer stärker bewachte Grenzen, um zu verhindern, dass der Andere hereinkommt. Deshalb sind nur die Kriege und Katastrophen von Interesse, die direkt die reichen Länder oder deren Interessen betreffen. Deshalb reißen sie sich die Kleider vom Leibe angesichts der russischen Invasion in der Ukraine, während sie ein erdrückendes Schweigen zu den Massakern Israels am palästinensischen Volk und den saudi-arabischen Bombardierungen des verarmten Jemen wahren.

Wir sind unsichtbar genau deshalb, weil wir unterworfen wurden. Weil vor 500 Jahren der aufkommende europäische Kapitalismus uns in seine Maschinerie einverleibt hat und es trotz einiger Rückschläge und Widerstände dem größten Teil unserer Völker immer noch so ergeht. Weil unsere nationalen Bourgeoisien oftmals unsere Länder an das transnationale Kapital verkauft haben und immer noch verkaufen. Und wenn wir vom Süden sprechen, geht das weit über das geographische Konzept hinaus, es ist eine politische, kulturelle und soziale Gegebenheit.

Kürzlich kündigte ein wichtiger europäischer Politiker, der französische Präsident Emmanuel Macron an, dass “wir derzeit das Ende des Überflusses erleben”. Dieser eine Satz zeigt das ganze Ausmaß unseres Vergessen-Seins. Denn die “unterentwickelten” Gesellschaften, die wir den größten Teil der Menschheit ausmachen, haben überhaupt keinen Überfluss erlebt. Auch viele Menschen in den Gesellschaften des entwickelten Kapitalismus selbst haben keinerlei Überfluss erlebt. Es ist also nur das Ende des Überflusses für die Privilegierten in den Ländern des harten Kerns des gegenwärtigen Kapitalismus und die verbündeten Eliten in anderen Teilen der Welt.

Der Rest der Menschheit sieht sich zahlreichen, durch viele Faktoren bedingte Krisen gegenüber, wo sogar das Überleben unserer Spezies selbst in Gefahr ist. Der Widerstand des Südens besteht in dieser Zeit nicht nur im Kampf darum, einen sichtbaren Platz in den Schaufenstern des gegenwärtigen Kapitalismus zu haben, sondern es muss der Kampf für eine höher entwickelte Ordnung sein, in der wir alle ohne irgendeine Art von Diskriminierung Platz haben. Eine Ordnung, in der der Mensch und die Natur über den Vorteilen für einige Wenige stehen.

Wir, die Bewohner des Südens, sind die modernen Proletarier. Wir arbeiten wo auch immer wir arbeiten, jenseits von jedem persönlichen Besitz, wir haben nichts als unsere Arbeitskraft zu verkaufen. Wir sehen, wie die Reichtümer unserer Länder geraubt werden und man uns im Gegenzug nur Schulden und Anpassungsmaßnahmen gibt. Das Herrschaftssystem das Kapitals ist von Natur aus gewalttätig und wird seinen Platz nicht kampflos aufgeben. Wir müssen also bereit sein, den Kampf mit allen uns zur Verfügung stehenden Mitteln aufzunehmen.

Wir müssen uns mit dem Besten an kritischem Gedankengut ausrüsten und als Individuen und als Völker die notwendige Einheit suchen. Nur vereint können wir Front machen gegen die schwer bewaffnete Absurdität, die unsere Epoche für sich vereinnahmt hat.

Und wir müssen die Schlacht beladen mit den Erblasten aus unserer Kolonialzeit schlagen, die wir nie ganz überwunden haben. Gegen die strukturelle Unterentwicklung, die Korruption, die Unkultur, die Bourgeoisien des Ausverkaufs, den Konsumindividualismus, gegen Atavismen jeder Art, gegen die aufgezwungenen Unterschiede. Gegen unser Bewusstsein als unterworfene Individuen und Völker.

Der Süden muss den Süden zurückgewinnen. Die Schönheit seiner Völker und die Größe seiner Menschen. Wie es die großen Revolutionäre der jüngsten Epochen Lenin, Che und Fidel voraussahen, gehört die Zukunft den Nationen der Peripherie. Selbst wenn sie uns nicht anerkennen, missachten und ignorieren, das Feuer der notwendigen Transformation brennt weiter und wird mit Macht zum Vorschein kommen, wo alle es sehen.

José Ernesto Nováez Guerrero aus Kuba ist Schriftsteller und Journalist. Rektor der Universidad de las Artes, Mitglied der Asociación Hermanos Saíz, Koordinator des kubanischen Zweiges des Netzwerkes zur Verteidigung der Menschheit

Übersetzung: Camilla Seidelbach, Amerika21

Titelbild: shutterstock / aodaodaodaod

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