„Das Friedensprojekt Europa ist gleich in zweifacher Hinsicht gescheitert“

„Das Friedensprojekt Europa ist gleich in zweifacher Hinsicht gescheitert“

„Das Friedensprojekt Europa ist gleich in zweifacher Hinsicht gescheitert“

Ein Artikel von Marcus Klöckner

Das sagt Ulrike Guérot im Interview mit den NachDenkSeiten. Zusammen mit dem Publizisten Hauke Ritz hat die Politikwissenschaftlerin diese Woche das Buch „Endspiel Europa – Warum das politische Projekt Europa gescheitert ist und wie wir wieder davon träumen können“ veröffentlicht. Es ist eine schonungslose Abrechnung mit der schön gezeichneten Illusion eines Europas, das angeblich für Frieden und andere hehre Werte steht. In einem zweiteiligen Interview, das Anfang Oktober im Vorfeld des Erscheinens geführt wurde, zeigen Guérot und Ritz, woran Europa gescheitert ist und noch immer scheitert. Dabei beleuchten sie auch kritisch den Krieg in der Ukraine. Von Marcus Klöckner.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Europa ist ein wunderbares Friedensprojekt, der demokratische Gedanke steht immer im Vordergrund und der Krieg in der Ukraine ist einzig die Schuld von Putin. – Wie sieht die Realität aus?

Guérot: Die Realität ist, dass das Friedensprojekt Europa bereits seit längerer Zeit massiv ins Schlingern geraten ist. Das Friedensprojekt Europa ist gleich in zweifacher Hinsicht gescheitert. Zum einen weist die EU ein starkes „Demokratiedefizit“ auf, was wiederum populistischen Bewegungen Auftrieb gegeben hat. Die Menschen spüren, dass die politischen Prozesse in den Gremien der EU nur noch selten ergebnisoffen sind, ja oft Interessen verfolgen, die nicht die der Bürger sind. Der EU fehlt es an einem lebendigen und glaubwürdigen politischen Prozess. Statt eines politischen Europa, einer Europäischen Republik ist ein technokratisches System entstanden. Dies führt zu zunehmender Spaltung im Inneren.

Das wäre also das erste Scheitern?

Guérot: Ja. Das zweite Scheitern manifestiert sich in den Außenbeziehungen der EU. Der EU ist es nicht gelungen, eine stabile Friedensordnung unter Einbeziehung der Russischen Föderation zu schaffen. Die durch zwei Weltkriege und einen Kalten Krieg entstandene Spaltung Europas manifestiert sich nun erneut und reißt den Kontinent 1.500 Kilometer östlich des einstigen Eisernen Vorhangs auseinander. Europa wird abgetrennt von den Rohstoffen Sibiriens, dem russischen Markt und langfristig womöglich sogar dem chinesischen Markt. Natürlich wird ein Europa, das sich erneut in die Spaltung treiben lässt, Schwierigkeiten haben, den Wohlstand zu sichern, den Frieden zu wahren und letztendlich seine zivilisatorischen Werte zu entwickeln. Ein im Osten abgetrenntes Europa wird geopolitisch nur eine geringe Rolle spielen und in Zukunft noch abhängiger von den USA sein als bereits in den Jahrzehnten zuvor.

Wie schwer ist der Bruch zwischen der Realität und der „Medienwahrheit“ in diesen Tagen?

Guérot: Es wird inzwischen vielfach kritisiert, dass die öffentliche und die veröffentlichte Meinung nicht mehr kongruent sind. Das haben Richard David Precht und Harald Welzer in ihrem gerade erschienenen Buch „Die Vierte Gewalt“ detailliert analysiert. Schon bei der Bankenkrise („keine Transferunion“) vor zehn Jahren, dann bei der Flüchtlingskrise („Willkommenskultur“), dann vor allem bei Corona („Solidarität“) und jetzt im Ukraine-Krieg („Werte verteidigen“) kann man eine gleichförmige Medienlandschaft beobachten, in der kritische oder andere Argumente kaum noch durchdringen bzw. an den Rand gedrängt werden und keine größeren Öffentlichkeiten mehr erreichen. Eine tendenziell moralisierende Presse gibt den Ton vor, wie die einzelnen Krisen zu deuten und was die „notwendigen“ politischen Antworten darauf sind. Haltung ersetzt dabei Argumente. Man kann, wie mit Blick auf die Ukraine jüngst in den NDS in einem Artikel von Florian Warweg belegt wurde, durchaus von einer „staatlich gelenkten Presse“ sprechen.

Wir werden auf die Medien noch näher eingehen. Lassen Sie uns zuerst über Europa und die Ukraine sprechen. Frau Guérot, Medien haben Sie immer wieder als „glühende Europäerin“ vorgestellt. Und es ist öffentlich bekannt, dass die europäische Einigung für Sie ein Herzensprojekt ist. Jetzt zeigen Sie aber mit Ihrem Buch, dass am „Projekt Europa“ etwas nicht stimmt. Sie legen den Finger genau in die Wunden. Auch wenn wir nicht auf alles eingehen können: Woran krankt das Projekt? Was sind für Sie die eklatantesten „Schwachstellen“?

Guérot: Ich habe es nie gemocht, als „glühende Europäerin“ vorgestellt zu werden. Ich wollte nicht für Europa brennen, geschweige denn, an ihm verglühen. Ich wollte lediglich eine funktionierende EU, die in ihren Strukturen demokratisch, nicht so schwerfällig und bürgernäher ist. Und ich wollte die legitime Kritik an dem Demokratiedefizit der EU bzw. den Dysfunktionalitäten ihrer Strukturen nicht den Populisten überlassen, die aus der Kritik an der EU ja seit langem politisches Kapital schlagen. Das alles habe ich schon in meinem Buch von 2016 ausführlich analysiert. „Warum Europa eine Republik werden muss. Eine politische Utopie“

Es ist notwendig, dass sich die politische Mitte wieder auf eine institutionelle Reformagenda besinnt und diese konsequent angeht. Das ist lange Jahre deswegen nicht passiert, weil man Angst vor den Populisten hatte und sich nicht getraut hat, das politische Projekt Europa politisch konsequent zu verteidigen.

Was kritisieren Sie noch?

Guerot: Dass die EU bzw. Europa den Willen verloren hat, sich politisch emanzipieren zu wollen. Das war 1989, nach dem Fall der Mauer, das Kernanliegen und genau da setzt unser Buch ja ein: mit dem Projekt einer politischen Union, vereinbart im Vertrag von Maastricht 1992 sowie der Idee einer föderalen, kontinentalen Friedensordnung mit Russland, angedacht in der Charta von Paris vom November 1990. Die Idee damals war ein souveränes, handlungsfähiges und politisch emanzipiertes Europa. Davon ist die EU heute weit entfernt.

Der Krieg in der Ukraine, in der die amerikanischen und die europäischen Interessen nicht kongruent sind, führt Europa das Problem seiner fehlenden Souveränität und einer unzureichenden, eigenständigen Handlungsfähigkeit wieder klar vor Augen.

Wie verstehen Sie den Begriff „europäische Souveränität“?

Guerot: Die europäische Souveränität muss nach innen und nach außen gedacht werden. Wer eine souveräne Handlungsfähigkeit der EU nach außen möchte, zum Beispiel im Bereich der Verteidigungspolitik, der muss auch die Entscheidungsstrukturen der EU nach innen auf gesunde, das heißt demokratische Füße stellen, also das Verhältnis der europäischen Bürger zum politischen System der EU klären und deren Mitsprache verbessern. Die EU muss die Frage klären, wer in Europa entscheidet, denn genau das ist die Frage nach der Souveränität.

Wie sehen Sie das, Herr Ritz?

Ritz: Gegenwärtig verschieben sich die geopolitischen Gewichte in der Welt mit dramatischer Geschwindigkeit. Der Aufstieg Chinas, Indiens, das Wiedererstarken Russlands, aber auch der Aufstieg vieler mittlerer Mächte wie des Iran, der Türkei, Brasiliens und vieler weiterer Länder verändert auch das Gewicht Europas in der Welt. Viele sehen heute die EU als ein rein technokratisches System an, ohne einen lebendigen politischen Prozess.

Weshalb viele die EU scharf kritisieren.

Ritz: Manche wünschen sich regelrecht den Zerfall der EU.

Was wären die Konsequenzen?

Ritz: Würde sie tatsächlich zerfallen, könnte daraus eine permanente Spaltung Europas resultieren, das fortan zum Spielball der angrenzenden Mächte würde, also ein ähnliches Schicksal wie die einstigen Republiken der Sowjetunion es teilweise erleiden bzw. erleiden könnten. So frustrierend die Entwicklung der EU für viele auch ist, so ist die Einheit Europas ein bewahrenswertes Gut.

Blickt man zurück in der Geschichte Europas, so ist ein zersplittertes und geteiltes Europa eher die Ausnahme als die Regel. Zunächst war es das Römische Imperium, das die Einheit des Kontinents herstellt hat. Nach dem Zerfall Westroms stellte jedoch die Kirche eine Art geistige und kulturelle Einheit her, die sogar die verschiedenen Schismen zwischen Orthodoxie und Katholizismus bzw. Katholizismus und Protestantismus überlebte. Seit der Renaissance oder spätestens dem 18. Jahrhundert sehen wir die Entstehung einer christlich-humanistischen Kultur, die ganz Europa erfasste und deren Schriftsteller und Denker nicht nur im jeweiligen Sprachraum gelesen wurden, sondern erstaunlich schnell übersetzt wurden.

Dieser wechselseitige kulturelle Einfluss, der alle Gebiete der Kunst und Kultur erfasste, von der Literatur, Philosophie, Malerei, Musik bis zur Architektur, einte den Kontinent bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts. Erst die Errichtung eines Eisernen Vorhangs ab 1947 zerriss den Kontinent. Als dann 1989 die Mauer fiel und Gorbatschow mit gewaltigen Vorleistungen die Einheit des Kontinents anstrebte, tauchte erneut die Möglichkeit einer dauerhaften Friedensordnung auf dem europäischen Kontinent auf.

Sie sprechen von „gewaltigen Vorleistungen“. Was meinen Sie damit?

Ritz: Zum Beispiel der Truppenabzug aus Osteuropa, die deutsche Wiedervereinigung, die maßgeblich von Gorbatschow initiiert wurde, die Aufgabe des Sozialismus…

Nochmal zur Möglichkeit einer dauerhaften Friedensordnung.

Ritz: Wäre sie erreicht worden, hätte dies auch zur Erneuerung der europäischen Kultur geführt. Doch 30 Jahre später denken wir wieder in Freund-Feind-Unterscheidungen. Wir dämonisieren uns gegenseitig, als ob wir nie etwas aus zwei Weltkriegen und einem Kalten Krieg gelernt hätten. Ja, auch ich glaube wie meine Co-Autorin, dass nur ein geeinter europäischer Kontinent wirtschaftlich wohlhabend und kulturell lebendig sein kann. Sollte sich die Teilung Europas manifestieren, werden wir sehen, dass Europa seine weltpolitische Bedeutung endgültig verlieren wird.

Sie verknüpfen in Ihrem Buch die Kritik an der EU mit dem Krieg in der Ukraine. Die Position der EU in dem Krieg kennt jeder. Sie steht auf der Seite der Ukraine. Wie ordnen Sie das Verhalten der EU aus deren Selbstanspruch ein, ein Friedensprojekt zu sein?

Guérot: Unserer Auffassung nach verteidigt die EU derzeit mit ihrer Haltung zum Krieg in der Ukraine ihre Werte nicht, sondern pervertiert sie eher.

Was genau meinen Sie mit „ihrer Haltung“?

Guérot: Ich denke zum Beispiel an den „Ringtausch“ bei Waffenlieferungen. Schon der Begriff ist eigentlich ungeheuerlich.

Was sind jetzt diese Werte? Und wie pervertiert die EU diese?

Guérot: Zum einen war und ist die EU ein Friedensprojekt: Nie wieder Krieg war das europäische Mantra, in jeder Sonntagsrede über Europa wurde es erwähnt. Noch 2020 wurden, „70 Jahre Friedensprojekt Europa“ prominent gefeiert. Zum zweiten sollte Europa ja eigentlich die „Überwindung der Nationalstaaten“ heißen. Was das genau heißen soll – und was ein Nationalstaat überhaupt ist – darüber lässt sich trefflich streiten, wir streifen diese Debatte in unserem Buch. Aber jetzt führt die EU ausgerechnet Krieg für einen „geeinten ukrainischen Nationalstaat“, das ist in unseren Augen gleich die zweite Perversion der europäischen Idee.

Wie meinen Sie das: Die „EU führt Krieg“?

Guérot: Noch sind die EU-Staaten ja offiziell nicht in das Kriegsgeschehen verwickelt, aber wir erleben eine Eskalation, die durchaus dazu führen könnte. Insofern möchten wir, dass ganz grundsätzlich darüber nachgedacht wird, was denn überhaupt das „Kriegsziel“ sein soll.

Wir erklären in unserem Buch ausführlich die historischen und geografischen Bedingtheiten der Ukraine und weisen darauf hin, dass die „nationale Einigung“, ebenso wie in allen anderen europäischen Staaten, ein Produkt der Geschichte ist, meist durch Krieg erzwungen, und dass es ja die europäische Idee war, genau diesen Prozess durch die Schaffung einer föderalen Ordnung zu überwinden. Das gilt für den Donbass oder die Krim u.E. genauso wie für Tirol, Schottland oder Katalonien, die alle regionale Eigenständigkeit beanspruchen, die ihre nationale Zugehörigkeit infrage stellen, aber trotzdem alle europäisch sein wollen.

Das ist vor allem deshalb tragisch, weil mit Minsk II ungefähr 7 Jahre lang ein Abkommen bestanden hat, dass eine föderale Ordnung für die gesamte Ukraine vorsah. Diese hätte es der Ukraine einerseits erlaubt, sich entsprechend ihrer inneren Diversität zu entwickeln, und andererseits hätte dies auch den Werten entsprochen, auf denen die EU als Friedensprojekt einst begründet war.

Unser Buch zielt zentral auf die perspektivische Schaffung einer föderalen Ordnung für Europa und Russland gleichermaßen ab: Es ist ein Plädoyer, sich wieder an die Ziele von 1989 zu erinnern.

Lesen Sie morgen den zweiten Teil des Interviews.

Anmerkung: Das Interview wurde Anfang Oktober geführt.

Titelbild: Immersion Imagery/shuttestock.com

Lesetipp: Ulrike Guérot/Hauke Ritz: Endspiel Europa – Warum das politische Projekt Europa gescheitert ist und wie wir wieder davon träumen können. Westend. 24. Oktober 2022. 208. S. 20 Euro.

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