Stella Assange: „Im Zentrum des politischen Hier und Jetzt“

Stella Assange: „Im Zentrum des politischen Hier und Jetzt“

Stella Assange: „Im Zentrum des politischen Hier und Jetzt“

Ein Artikel von: Redaktion

Die Ehefrau des in London inhaftierten WikiLeaks-Gründers stellte sich am Freitag, den 14. Oktober, bei der Berliner NoisyLeaks-Ausstellung den Fragen des Publikums. Dominik Wetzel hatte dabei Gelegenheit, ihr für die NachDenkSeiten einige Frage zu stellen und hat für unsere Leser Auszüge aus dem Gespräch mit der Öffentlichkeit niedergeschrieben. Ihre Antworten lassen tief blicken.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Stella Assange: Willkommen! Es ist gut, so viele freundliche Gesichter zu sehen. Am Samstag, den 8. Oktober, hatten wir eine Aktion in London, wo wir die Menschen dazu aufgefordert haben, eine Menschenkette zu formen. Es war überwältigend. Es wurde sogar ein Transportstreik ausgerufen. Viele Menschen haben gesagt, das nicht zu tun, weil es nicht funktionieren würde. Wir haben errechnet, wir würden 5.000 Leute brauchen, aber es kamen viel mehr, mindestens 7.000. Außerdem kam Julian in die engere Auswahl des Sacharow-Preises, was wirklich unerwartet war. Für uns ist allein die Nominierung schon ein großer Sieg. Doch dann fanden wir heraus, dass er unter den drei Finalisten ist, und das ist gewaltig. Nur der Kontrast: Die USA wollen ihn für 175 Jahre ins Gefängnis stecken und das europäische Parlament möchte ihm die höchste Auszeichnung für Menschenrechte und Gedankenfreiheit geben. An dem Punkt, an dem wir gerade sind, sind die Dinge wirklich krass.

Wir müssen weiter machen und weiter Unterstützung für die Bewegung aufbauen. Die Auszeichnungen, die Anerkennungen, die Denunziation dessen, was vor sich geht; all das ist wichtig, damit die Auslieferung politisch unmöglich wird. Denn dies ist kein rechtliches Verfahren, das durch die Gerichte geht, hier werden die Gerichte benutzt, um Julians Haft zu verlängern. Worum es im Kern geht, ist, dass die Kriminellen die Macht des Staates ergriffen haben, um die Person zu verfolgen, die sie denunziert hat. Derjenige, der versucht hat Rechenschaft zu bringen, wurde zum Opfer des Gesetzesmissbrauchs. Es geht also darum das umzudrehen. Sie haben die Sichtweise in Bezug auf Julian verkehrt und haben ihn in jemanden verwandelt, der das Ziel ihrer Verbrechen ist.

Sie haben die Realität verkehrt, also müssen wir sie zurückdrehen, um zu zeigen, dass er derjenige ist, der das Richtige getan hat und dass sie die Kriminellen sind. Sie sind nicht nur kriminell wegen dem, was er über sie veröffentlicht hat, sondern auch wegen der Maßnahmen, die sie gegen ihn unternommen haben. Wir müssen anfangen, sie als das zu benennen, was sie sind: Sie sind die Kriminellen und Julian ist der Journalist. Julian steht für Wahrheit, Menschrechte und Rechtsstaatlichkeit und sie für das Gegenteil.

Ich war ziemlich schockiert, als ich die Nachricht gelesen habe, dass Julian mit Covid infiziert ist, und ich habe mich gefragt, wie das in einem Hochsicherheitsgefängnis passieren kann, dass man nicht vor Covid geschützt ist?

Das war immer das Frustrierende während der sechs oder sieben Monate, in denen ich Julian nicht sehen konnte, dass er, während der schlimmsten Phasen der Pandemie, nie vor Covid geschützt war. Denn an einem Ort wie dem Belmarsh-Gefängnis gibt es etwa 800 Gefangene, aber auch 500 Angestellte. Menschen kommen die ganze Zeit rein und raus, werden infiziert etc. Wenn man sich durch das Gefängnis bewegt, geht man außerdem durch Warteräume, in die sie alle Gefangenen zusammensetzen. 30-40 Gefangene, die für ein bis zwei Stunden in einem Raum bleiben. Er hat es wahrscheinlich in einem Warteraum bekommen und ist nun im Lockdown in seiner Zelle, die er seit Samstag letzter Woche nicht verlassen hat.

Es hat den Anschein, dass Assanges Verfolgung der Fall ist, an dem man in Echtzeit den Verfall und die Korruption des britischen Rechtssystems beobachten kann. Sie sind selbst Anwältin, was hat das mit Ihrem Vertrauen in den britischen Rechtsstaat gemacht?

Ich denke, es gibt niemanden, der diesen Fall beobachtet – mit Erfahrung eingeschlossen – der nicht konstant von dem schockiert ist, was seit 2010 passiert. Wenn man zum Beispiel darüber nachdenkt, dass die UN-Arbeitsgruppe gegen willkürliche Inhaftierungen im Februar 2016 ihre Entscheidung zu dem Fall geliefert hat.

Es war keine naive Erwartung, dass, wenn Julian die gewinnt, sie sich an die Entscheidung halten würden, denn das ist das höchste Entscheidungsgremium zum Thema willkürlicher Verhaftungen. Doch was passierte, ist, dass sie sich wie die schlimmsten Verfechter willkürlicher Inhaftierung verhalten haben. Es wurde sich lachend darüber hinweggesetzt, obwohl es eine rechtsverbindliche Entscheidung war, die sich auf international bindende rechtliche Verpflichtungen bezieht und sie haben es einfach ignoriert. Das hat uns ziemlich die Augen geöffnet, dass sie bereit waren, ihre internationalen Verpflichtungen für jeden offensichtlich zu missachten.

Ein weiteres Beispiel war im Jahr 2012. Julian ging am 19. Juni 2012 in die Botschaft. Am 16. August erklärte Ecuador, dass sie ihm politisches Asyl gewähren. Sie haben also zwei Monate darüber nachgedacht. In dieser Zeit gab es im Königreich eine Menge Einschüchterung auf dem diplomatischen Level. Als Ecuador verkündete, dass sie ihm Asyl gewähren, wurde damit gedroht, die Botschaft zu stürmen. Ecuador verurteilte das öffentlich und auch der ganze lateinamerikanische Block positionierte sich dagegen. Am 16. August wurde schließlich öffentlich verkündet, dass Julian ein politischer Flüchtling ist. An dem Tag, als Ecuador erklärte, dass Asyl gewährt wird, war sehr viel Polizei außerhalb des Gebäudes. Davon gibt es ein berühmtes Bild, als um die Botschaft herum hunderte Polizisten, Unterstützer und Presseleute waren. Die Presse konnte ein Foto vom Klemmbrett eines Polizisten machen, auf dem stand: Assange verhaften, selbst wenn er diplomatische Immunität hat, selbst wenn er in einem Diplomatenwagen ist.

Im Kern wies England seine Polizei dazu an, die Wiener Konvention zu brechen, um Julian zu kriegen. Wir befinden uns also auf diesem Level, an dem sie das Gesetz brechen und sich hinterher mit den Konsequenzen befassen. Sie werden vor Gericht argumentieren, dass es legal ist und es irgendwie begründen, aber die Priorität war, Julian zu bekommen. Julian zu verfolgen, war die ganze Zeit das oberste politische Gebot und das steht über dem Gesetz. Für Julian war es ein konstanter Kampf, seine Rechte anerkannt und respektiert zu bekommen, die wurden aber zunehmend missachtet.

Was bedeutet es für Assange und für Sie, für den Sacharow-Preis nominiert zu sein, in Anbetracht dessen, dass er ihn wohl nicht bekommen wird. Wird das etwas ändern?

Die Nominierung zum Sacharow-Preis ist gewaltig. Tatsächlich war ich am Dienstag in Brüssel und ich hatte ein Gespräch mit einigen Parlamentariern vor Ort. Etwa 40 Mitglieder des Parlaments hatten ihn nominiert und manche sagten, er würde niemals gewinnen, denn der Sakharov Preis ist zum Werkzeug des politischen und diplomatischen Pragmatismus geworden. Meine Antwort war: Ich bin nicht mit der Erwartung hier, dass Julian gewinnen wird, ich bin hier, weil Sie ihn nominiert haben und das gewaltig ist. Es ist deswegen so groß, weil die Finalisten-Platzierung zu einem mächtigen Werkzeug für mich wird, mit dem ich die Kampagne fortsetzen kann. Es erhöht sein politisches Profil enorm. Das ist kein Randthema, wenn du einer der 3 Finalisten für den höchsten Menschenrechts- und Meinungsfreiheitspreis des Europäischen Parlaments bist. Dies ist im Zentrum des politischen Hier und Jetzt und niemand kann das bestreiten. Jede Initiative, groß und klein, baut Schwung und den politischen Kontext auf, der gebraucht wird, damit Julians Fall konstant im Zentrum der Diskussion steht. Die anderen Nominierten sind das Volk der Ukraine, Zelensky, und die Columbia Truth Commission. Es ist egal, dass er nicht gewinnt. Er ist einer der drei Finalisten und das gestattet uns, mit einer breiteren Öffentlichkeit zu arbeiten.

Könnten Sie darüber reden, wie stark das Engagement zu dem Thema in den jüngeren Generationen ist?

Jüngere Leute involviert zu bekommen, ist wirklich wesentlich. Zum Teil, weil sie noch nicht durch Karrierefortschritt und solche Dinge kompromittiert sind. Wir engagieren uns in England zunehmend mit Universitäten und ich habe in letzter Zeit ein paar Podcasts gemacht. Einen mit Russel Brand und auch mit Jordan Peterson. Ich versuche, unterschiedliche politische Haltungen zu überbrücken, denn ich denke, es braucht eine kritische Masse an Menschen, um Julian freizubekommen. Dafür muss man zum Kern der Sache gehen: Egal ob links oder rechts, die meisten Menschen sind sich darüber einig, dass Wahrheit kein Verbrechen sein sollte, dass man Verleger nicht ins Gefängnis steckt und dass Kriegsverbrechen verfolgt werden sollten. Ich denke, es geht auch darum, einen Diskurs der Gemeinsamkeit zu finden, was sehr bezeichnend für unsere Zeit ist, richtig? Alles ist so polarisiert, aber es gibt gemeinsame Nenner und wir müssen uns darauf einigen, was diese gemeinsamen Nenner sind.

Sie sind an der Frontlinie, die Pressefreiheit zu verteidigen. Wie viel Unterstützung haben Sie von den Medienhäusern erhalten, mit denen WikiLeaks zusammengearbeitet hat?

Sie haben das absolut Mindeste getan. Sie sind im Wesentlichen auf der richtigen Seite der Geschichte, dahingehend, dass sie ein Impressum aufgesetzt haben, das erklärt, dass Julian nicht verfolgt werden soll und dass hier ein Angriff auf die Pressefreiheit stattfindet. Doch ehrlich gesagt sollten sie mehr tun. Sie sollten mindestens eine gemeinsame Stellungnahme veröffentlichen, die besagt: Assange sollte freigelassen und die Angelegenheit fallen gelassen werden. Eine gemeinsame Erklärung der fünf ursprünglichen Partner. Das wäre wirklich einfach und offensichtlich. Ich denke, das Problem ist, manche Zeitungen schämen sich, weswegen sie sich lieber nicht ins Rampenlicht stellen. Besonders der Guardian. Die Sache ist die: Wenn die Presse, und besonders diejenigen, die am engsten an diesen Veröffentlichungen gearbeitet haben, diejenigen, die auf derselben Grundlage bestraft werden könnten, sich irgendwie anders verhalten hätten, dann bin ich überzeugt davon, hätte Julian keinen einzigen Tag im Gefängnis verbracht. Und an jedem Tag, der vergeht, versagen diese Zeitungen, das Richtige zu tun.

Wie sind Sie dazu fähig, weiterzumachen im Angesicht dieser unglaublichen Ungerechtigkeit? Wie halten Sie Schritt und bewahren Haltung? Wie gehen Sie damit um?

Für Julian zu kämpfen, ist der einfache Teil. Es gibt viel öffentliches Interesse und man macht einfach weiter. Es gibt überall viele Menschen, die helfen wollen. Für Julian zu kämpfen, ist einfach, denn ich will, dass er frei ist. Man braucht keine weitere Motivation. Der harte Teil ist, dass man es teilweise mit richtigen Psychopathen zu tun hat. Das ist nicht die Mehrheit und ich bin nicht wirklich betroffen von Twitter und so, aber sie existieren. Man versucht lediglich, die Bedeutung des Falls zu kommunizieren, und dann trifft man Menschen, die einfach psychologisch extrem bizarr sind. Aber ich denke, das liegt in der Natur der Sache, mit der Öffentlichkeit zu interagieren, oder mit Leuten, die nur so tun, als wären sie Unterstützer. Ich habe einige außerordentlich konzertierte Angriffe und geplante Geschichten gegen Julian erlebt, über Jahre. Ich weiß, womit ich es zu tun habe.

Die ganze CIA-Operation in der Botschaft – manche Leute haben gesagt: „Oh, mein Gott, wie ist es herauszufinden, dass sie versucht haben, die DNA aus der Windel deines Kindes zu stehlen und dass sie geplant haben, ihn umzubringen?“ Die Sache ist die, ich wusste es.

Ich „wusste“ es nicht, nicht im Detail, wir hatten nicht die spanischen Whistleblower und wir hatten nicht die 7.000 Wort starke Untersuchung, die letztes Jahr veröffentlicht wurde. Ich wusste es nicht im Dezember 2017, aber ich konnte es spüren, dieses Umfeld. Es war extrem. Natürlich haben sie das getan, denn ich habe es da drin gefühlt. Deswegen ist es eine Erleichterung, dass wir es hier heute besprechen können. Doch stellen Sie sich vor, wenn diese Whistleblower nicht an die Öffentlichkeit gegangen wären, wenn die CIA-Recherche nicht veröffentlicht worden wäre! Ich würde hier stehen und erzählen, wie wir da drin waren und dass es sich so angefühlt hat, dass sie ihn jederzeit töten würden und Sie würden denken: „Nun, sie ist bestimmt ein bisschen betroffen von der Situation, aber es kann nicht so extrem sein“. Nun, doch.

In gewisser Hinsicht ist das eine Erleichterung, dass ich zu Ihnen sprechen kann, ohne das Gefühl einer Barriere zwischen meiner Realität und Ihrer zu haben. Denn Sie sind für das empfänglich, was wir durchlebten, was Julian angetan wurde, weil diese Dinge im Laufe der Zeit veröffentlicht wurden. Wirklich schwierig war es, als wir es durchlebten und sonst war alles wie gehabt. „Das findet nur in seinem Kopf statt, die USA sind in Ordnung, England verhält sich normal, er könnte jederzeit raus“, der Satz.

Reicht es für den australischen Premierminister aus, dass sein Volk sagt, „wir wollen ihn zuhause haben“, oder wie ist der Prozess? Ist es wirklich so einfach?

Im Grunde, ja. Die australische Regierung ist ein enger Alliierter der USA und in strategischer und politischer Hinsicht sehr wichtig. Was wissen wir über die vorherige Regierung? Wir wissen, dass Scott Morrison, der vorherige Premierminister, wöchentlich Telefonate mit Mike Pompeo geführt hat. Mike Pompeo, der geplant hatte, Julian zu töten. Nun haben wir eine andere öffentliche Position der australischen Regierung und alles, was sie tun müssen, ist, einen Weg zu finden, diese durchzusetzen. Die australische Regierung ist kein Neuling in solchen Angelegenheiten. Sie haben Melinda Taylor aus Libyen herausbekommen, einen Journalisten aus Ägypten, Kylie Moore-Gilbert aus dem Iran – sie sind ständig am Verhandeln. Die australische Regierung ist tatsächlich sehr erfahren in diesen Angelegenheiten. Es sollte deutlich einfacher sein mit einem Verbündeten. Albaneses Wahl wurde auch darum geführt, dass er zu Julian Stellung bezog, ebenso wie andere Politiker, die seitdem gewählt wurden. Sie haben das Versprechen gegeben, ihn zu befreien. Die australische Presse und Bevölkerung muss sie weiter drängen. Warum ist er noch nicht draußen? Das muss einfach weitergehen, denn selbstverständlich kann Albanese sagen: „Ich weiß, wir sind Freunde, aber ich habe meine eigenen politischen Dynamiken zuhause und ich kriege wahnsinnig viel Druck wegen dieser Assange-Sache, können Sie das beschleunigen“. Die Regierungen stehen sich nahe.

Australien hat dieses Problem, dass es sich so verhält, als ob es unbedeutend wäre und das ist unglaublich, denn… es ist ein bisschen so… Ich will nicht schlecht über das Europäische Parlament reden, aber… ich saß da und dachte, sie haben nicht begriffen, wie mächtig sie sind, und es ist dasselbe mit Australien. Australien ist unglaublich einflussreich und wichtig für die USA und wenn sie das Thema wichtig für sich machen, können sie es lösen. Jeder Tag, der vergeht, an dem Julian nicht frei ist, ist ein Tag, an dem sie an ihrem Versprechen gescheitert sind und das muss man ihnen konstant vorhalten.

(Das Gespräch wurde zum besseren Verständnis angepasst.)

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