„Schlimmer als während des Krieges“

„Schlimmer als während des Krieges“

„Schlimmer als während des Krieges“

Rüdiger Göbel
Ein Artikel von Rüdiger Göbel

Kirchliche Hilfsorganisationen schlagen Alarm mit Blick auf die Lage in Syrien. Dort sei es infolge der Sanktionen „schlimmer als während des Krieges, was die wirtschaftliche Situation und den Alltag der Menschen angeht“, warnt die syrische Ordensfrau Annie Demerjian bei einer Rundreise in Deutschland. In die großen Medien kommt sie mit ihrer deutlichen Kritik am westlichen Wirtschaftskrieg nicht. Und DIE LINKE? Deren parteinahe Rosa-Luxemburg-Stiftung will in Berlin „von den Syrien-Sanktionen für Russland und Iran lernen“ und von Halle-Neustadt aus die „feministische Revolution“ in Syrien voranbringen. Da kann man nur von Glück sprechen, das das päpstliche Hilfswerk „Kirche in Not“ sicher mehr Menschen erreichen dürfte, als die Schwurbler vom „diasporischen Revolutionskontinuum“ verwirren können. Von Rüdiger Göbel.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Ruhig und sachlich schildert die syrische Ordensfrau Annie Demerjian in einem 25 Minuten langen Fernsehinterview von anhaltender Not in Syrien infolge der westlichen Sanktionen. In weiten Teilen Syriens ist die heiße Phase des seit 2011 währenden Krieges zwar vorbei, aber die Lage sei „schlimmer als während des Krieges, was die wirtschaftliche Situation und den Alltag der Menschen angeht.“ Schwester Annie gehört der Gemeinschaft der „Schwestern Jesu und Mariens“ an und ist eine langjährige Projektpartnerin des katholischen Hilfswerks „Kirche in Not“. Zusammen mit ihren Mitschwestern betreut sie mehrere kirchliche Hilfseinrichtungen in Syrien und im benachbarten Libanon. Jetzt ist sie auf Spendentour in Europa, um den Notleidenden in ihrer Heimat zu helfen – nicht zuletzt auch, um sie zum Bleiben zu bewegen und vor einer lebensgefährlichen Flucht über das Mittelmeer mit häufig tödlichem Ausgang zu bewahren.

In einigen Landesteilen seien auch im elften Jahr des Krieges noch islamistische Milizen wie der „Islamische Staat“ oder Al-Nusra aktiv, erinnert Schwester Annie. Dort würde nach wie vor gekämpft. In den anderen Landesteilen fielen zwar keine Bomben mehr, „aber das Leben ist nicht friedlich. Es gibt keinen geregelten Alltag, denn unser Volk kämpft jeden Tag ums Überleben“.

Die Ordensfrau verweist in dem Gespräch auf die „desolate Lage der Infrastruktur“: Viele Menschen hätten nur ein bis zwei Stunden am Tag Strom, die Wasserversorgung sei vielerorts unterbrochen. Die Löhne könnten mit den enorm gestiegenen Preisen nicht mithalten: Ein Familienvater in Aleppo, wo auch sie lebt, verdiene durchschnittlich umgerechnet um die 30 Euro im Monat. „Allein die Miete beträgt aber 40 bis 50 Euro; in der Hauptstadt Damaskus sogar noch mehr, 60 bis 80 Euro. Wie soll das funktionieren?“

Sie verstehe nicht, wie die Menschen leben könnten. Viele seien der Situation überdrüssig und wollten weg. „Sie können nicht bleiben“, so Schwester Annie. Die Auswanderung dauere an. Demerjian kritisiert die von der EU und den USA gegen Syrien verhängten Sanktionen: „Sie treffen das einfache Volk und machen uns das Leben sehr schwer.“ „Unser Volk leidet unter den Sanktionen.“

„Humanitäre Not anerkennen“

Zurückhaltend, aber doch politisch absolut klar fährt Schwester Annie in ihrer einfachen Nonnentracht im TV-Studio sitzend fort: „Der Krieg sei zu einem Wirtschaftskrieg geworden, der verheerend ist, weil die Menschen nichts zu essen haben. Einige Familien haben nur eine Mahlzeit am Tag oder auch gar nichts zu essen.“ Sie verweist darauf, dass es an Medikamenten mangelt und wenn es sie gäbe, diese sehr teuer seien. Menschen in Aleppo hätten ihr berichtet, dass sie die ihnen verordneten Tabletten nur jeden zweiten Tag einnehmen, um möglichst lang den Bedarf decken zu können. „Der Westen muss die humanitäre Not anerkennen“, so die Mahnung der Ordensfrau. „Ich verstehe Länder nicht, die von Menschenrechten reden und menschlicher Freiheit, und sie verhängen Sanktionen gegen das Leben der Menschen.“

Der eindrückliche Bericht aus erster Hand hat (bisher) weder in einer großen überregionalen Tageszeitung Erwähnung gefunden noch war Schwester Annie in einem der öffentlich-rechtlichen oder privaten TV-Sender zu sehen. Das Interview war in den vergangenen Tagen von den kirchlichen Spartenkanälen EWTN, Bibel TV und KTV ausgestrahlt worden und kann jetzt in der Mediathek von „Kirche in Not“ abgerufen und über die sozialen Medien geteilt werden.

„Wer Krebs hat, stirbt“

Die Berichte von Schwester Annie decken sich mit den Alarm-Meldungen vieler anderer kirchlicher Würdenträger aus Syrien. Franziskanerkustos Francesco Patton beklagt im Jahresbericht „Initiative Christlicher Orient“ (ICO), dass der Krieg in Syrien fast vollständig aus dem Interesse der Weltöffentlichkeit verschwunden ist. Der Konflikt dauere an und breche „wie ein Feuer unter der Asche in verschiedenen Teilen Syriens aus“. Die wirtschaftliche Lage verschlechtere sich immer mehr. „Ein Land, das reich an Weizen und Oliven, Öl und Gas ist, wird fast vollständig seiner Ressourcen beraubt, und die Bevölkerung hungert“, erinnert der Franziskaner. „Ein Land, das reich an einer jahrtausendealten Geschichte und einer außergewöhnlichen Kultur ist, sieht seine Kinder heute damit kämpfen, einem normalen Schullehrplan zu folgen und einen ausreichenden Bildungsabschluss zu erreichen.“

Der oberösterreichische Jesuit Gerald Baumgartner berichtete im September auf der ICO-Jahrestagung in Salzburg von unvorstellbarer, erdrückender Not in der syrischen Stadt Homs, wo er seit zwei Jahren lebt und hilft. Es herrsche Mangel an den „fundamentalsten Gütern”, so der Jesuit zur aktuellen Lage in Syrien. „Strom gibt es vielleicht eine halbe Stunde am Tag. Und manchmal im Winter auch für einige Tage gar nicht.“ – Und das bei Temperaturen von null Grad über mehrere Wochen im Winter. Katastrophal ist seinen Schilderungen zufolge auch die medizinische Versorgung vor Ort. „Wer Krebs hat, stirbt“, so Baumgartner. Unzählige Menschen seien auf humanitäre Organisationen angewiesen. Von den jungen Menschen wollten sicher 90 Prozent das Land verlassen. Und niemand könne es ihnen verdenken.

„Stumm vor Hunger und Krankheit“

Der syrische Franziskaner P. Ibrahim Alsabagh weiß vom Elend wie Schwester Annie vom Elend in der nordsyrischen Metropole Aleppo zu berichten. 60 Prozent der Stadt seien nach wie vor zerstört. Mehr als 85 Prozent der Bevölkerung würden unter der Armutsgrenze leben. „Unsere Gesellschaft ist stumm – vor Hunger und Krankheit“, so Alsabagh, der Pfarrer der örtlichen römisch-katholischen (lateinischen) Pfarrei St. Francis ist. Die westlichen Sanktionen hätten allen voran die arme Bevölkerung noch mehr ins Elend gestürzt. Der Hunger bestimme den Alltag der einfachen Menschen. Bei der ICO-Tagung in Salzburg berichtete er von einem einschneidenden Erlebnis: „Als wir Kinder bei uns im Kloster mit Sandwiches verköstigten, haben einige nur die Hälfte gegessen. Die andere Hälfte haben sie für ihre Geschwister mit nach Hause genommen.“

Vor einem Jahr haben die Franziskaner angesichts der unvorstellbaren Not eine Suppenküche eingerichtet und bisher weit mehr als 200.000 Mahlzeiten an arme Familien, alte und alleinstehende Menschen, Kranke und Behinderte, Christen wie Muslime ausgegeben. Finanziert wird die Suppenküche maßgeblich von der ICO. Klar ist angesichts all der Schilderungen: Die Spenden lindern schlimmste Not, Lösung sind sie nicht. Die von der EU und den USA verhängten Sanktionen müssen fallen.

USA sollen Öl-Plünderungen einstellen

China fordert die USA auf, die Plünderung syrischer Ressourcen sofort einzustellen und die US-Armee für ihre Diebstähle zur Rechenschaft zu ziehen. Zeitgleich mit der ICO-Tagung forderte der Sprecher des chinesischen Außenministeriums, Wang Wenbin, die US-Seite auf, die Souveränität und territoriale Integrität Syriens zu respektieren und ihre einseitigen Sanktionen gegen das Land sofort aufzuheben. Zudem müsse das US-Militär die Plünderung syrischer Ressourcen sofort einstellen und die Täter zur Rechenschaft ziehen. Das US-Militär sollte das syrische Volk für seine Verluste entschädigen und mit konkreten Maßnahmen den Schaden wiedergutmachen. Dem syrischen Ministerium für Erdöl und Bodenschätze zufolge lag die durchschnittliche Tagesölproduktion in Syrien im ersten Halbjahr 2022 bei etwa gut 80.000 Barrel. Pro Tag wurden rund 66.000 Barrel Öl vom US-Militär und den von ihm unterstützten Streitkräften geklaut.

Und DIE LINKE in Deutschland. Im Wahlprogramm der Partei zur Bundestagswahl 2021 heißt es wörtlich: „Wirtschaftssanktionen treffen vor allem die einfache Bevölkerung und müssen beendet werden. Unilaterale Sanktionen der USA und EU, wie beispielsweise gegen Iran, Kuba, Syrien oder Russland, sind völkerrechtswidrig und drehen die Eskalationsspirale immer weiter.“ Und auch in dem vom Bundesparteitag in Erfurt im Juni beschlossenen Antrag „Kriege und Aufrüstung stoppen. Schritte zur Abrüstung jetzt! Für eine neue Friedensordnung und internationale Solidarität“ wird bekräftigt: „Sanktionen, die sich vor allem gegen die Bevölkerung richten oder zur Verarmung im Globalen Süden beitragen, lehnen wir ab.“

Praktischen Niederschlag findet das in der praktischen Parteiarbeit nicht. Im Gegenteil. Die Linkspartei-nahe Rosa-Luxemburg-Stiftung will noch mehr Wirtschaftskriege, aus Solidarität mit den Menschen vor Ort, versteht sich. „Sanktionen den Palästen, Solidarität mit den Hütten. Von den Syrien-Sanktionen für Russland und Iran lernen“, lautet der Titel einer RLS-Debatte am 17. November in Berlin, die in Kooperation mit „Adopt a Revolution“ durchgeführt wird. „Militärische Interventionen zur Beendigung und Bestrafung von Kriegsverbrechen werden seitens der friedenspolitisch engagierten Zivilgesellschaft westlicher Staaten oft vehement abgelehnt – aus nachvollziehbaren Gründen“, heißt es in der Einladung zum Sanktionsabend im großen Stiftungssaal. „Wenn wir als friedenspolitisch engagierte Zivilgesellschaft Straflosigkeit trotzdem nicht hinnehmen wollen, dann müssen wir dringend differenziert über das Instrument Sanktionen sprechen. Der andauernde russische Angriffskrieg auf die Ukraine und die brutale Unterdrückung der gegenwärtigen Protestbewegung durch das iranische Regime zeigen die große Notwendigkeit dieser Debatte auf.“

Ausgehend vom „spezifischen syrischen Kontext“ gelte es zu diskutieren, „welche Lessons learned aus den Syrien-Sanktionen für Russland und den Iran relevant sind und welche Rolle wir als friedenspolitisch engagierte Zivilgesellschaft bei der politischen Durchsetzung und Gestaltung spielen wollen“. Und weiter: „Wie können wir dafür sorgen, dass Sanktionen tatsächlich die für Kriegsverbrechen Verantwortlichen treffen und diese zu einer Verhaltensänderung zwingen? Wie können wir Nebenwirkungen für die Zivilbevölkerung der von Sanktionen betroffenen Staaten vermeiden oder zumindest lindern?“ 1996 erklärte die damalige US-Außenministerin Madeleine Albright in einem TV-Interview, die bis dahin 500.000 an den Folgen der Irak-Sanktionen gestorbenen Kinder seien „den Preis wert“. Bis zu ihrem Tod in diesem März war die US-Politikerin immer wieder umjubelte Gastrednerin bei Grünen-Parteitagen.

Während in Berlin bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung „differenziert“ neue Sanktionsregime beraten werden, wird in Halle-Neustadt gleich die feministische Revolution für Syrien vorangetrieben. Der RLS-Bericht über das „diasporische Revolutionskontinuum“ in sachsen-anhaltinischen Lagerhallen zeigt, wie abgehoben die Linke in Deutschland mittlerweile ist, in der Polit-Schwurbelei an die Stelle politischer Aufklärung tritt.

Meine Lieblingspassage im RLS-Revolutionsreport, gerne laut vorgetragen:

„In der feministischen Diasporatheorie ist das In-Diaspora-Sein mehr als eine Erfahrung der Migration und Heimatlosigkeit. Diaspora begreift sich vielmehr als ein Zustand. Abstrahieren wir den Begriff etwas, dann steht der diasporische Raum für jene Momente des Aufbruchs und der Offenheit, die einen grundlegenden gesellschaftlichen Wandel provozieren. Diaspora ist die Erfahrung der Fortbewegung von einem gesellschaftlichen Zustand in den nächsten. In ihr manifestiert sich der transformatorische Zwischenzustand. In diesem Sinne beginnt die diasporische Erfahrung der Aktivist*innen bereits 2011, in Syrien selbst. Wenn wir Revolutionen als etwas begreifen, bei dem es nicht lediglich darum geht, ein nicht gewolltes Herrschaftsregime durch ein anderes zu ersetzen, sondern in ihnen vielmehr Momente der intrinsischen Transformation sehen, dann sind Revolutionen stets diasporische Momente.“

Noch Fragen?

Linker Lichtblick für die düstere Zeit zum Vormerken: Auf dem bundesweiten Friedensratschlag in Kassel am 10. und 11. Dezember erklärt Joachim Guilliard, warum Wirtschaftsblockaden eben keine „zivile Alternative“ zu Krieg sind (hier schon einmal alles Wichtige zum Einlesen). Michael von der Schulenburg, Michael Müller, Daniela Dahn und Norman Paech diskutieren über „Verhandlungslösungen für die Ukraine und eine neue globale Friedensordnung“ als Alternative zu Wirtschaftskrieg und Waffenlieferungen. Programm und Anmeldung finden Sie hier.

Titelbild: Melih Cevdet Teksen/shutterstock.com

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