Ein tollkühner Böhmermann oder ein staatlich bereitgestelltes Leak

Ein tollkühner Böhmermann oder ein staatlich bereitgestelltes Leak

Ein tollkühner Böhmermann oder ein staatlich bereitgestelltes Leak

Wolf Wetzel
Ein Artikel von Wolf Wetzel

Ende Oktober 2022 sorgte der Entertainer Jan Böhmermann in seiner Sendung für einen Knaller: Er will „geleakte“ NSU-Dokumente, die eigentlich für Jahrzehnte der Geheimhaltung unterliegen sollen, öffentlich gemacht haben, also gegen den Willen der hessischen Landesregierung, was Geheimnisverrat wäre. Das wäre ein unerlaubter Schlag in die Nieren. Denn bisher wurde behauptet, die Veröffentlichung der Prüfberichte über NSU-Zusammenhänge in Hessen würde die Staatssicherheit gefährden, das Wohl des Landes, also in erster Linie der Landesregierung. Wenn das so wäre, dann wäre jetzt der Teufel los. Alle bezahlten und unbezahlten Staatsfürsorger würden nach dem Scharfrichter rufen, das berühmte scharfe Schwert der Demokratie hochhalten. Doch die Empörung war auffallend sanft bis lau. Von Wolf Wetzel.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Ich möchte es vorwegnehmen: Es wird kein Interesse daran geben, die Quelle dieses Geheimnisverrats herauszubekommen. Alles spricht dafür, dass dieser „geleakte“ NSU-Prüfbericht aus amtlichen Quellen zugespielt wurde und Jan Böhmermann nichts riskiert, sondern sich als Transmitter verdient gemacht hat.

Ab da wird es dann doch noch einmal richtig spannend.

Aber nun alles der Reihe nach.

2011

Nachdem sich die neonazistische Terrorgruppe „NSU“ Ende 2011 selbst bekannt gemacht hatte, ging eine Aktenvernichtungswelle („Operation Konfetti“) durchs Land, wie dies in diesem Ausmaß noch nicht passiert war. Tausende von Akten, die einen Bezug zum NSU, zur Rolle der V-Leute im NSU-Netzwerk und die Verwicklung des Geheimdienstes darin hatten, wurden vernichtet, auf Landes- und Bundesebene, bei Polizei- und Geheimdienststellen.

Denn es sollte beides gelingen, ohne schwere Schädigungen: Das kanzlerische Versprechen, alles lückenlos aufzuklären, und gleichzeitig alles verschwinden zu lassen, was dies ermöglichen könnte. Das war nicht ganz so einfach.

Ganz besonders schwierig gestaltete sich das im Mordfall in Kassel 2006, bei dem der Internetcafebesitzer Halit Yozgat mit zwei Schüssen im Kopf um die Mittagszeit ermordet wurde. Was jahrzehntelang dem kriminellen ausländischen Milieu zugeschrieben wurde, wurde nun – über Nacht – als neonazistisches Verbrechen „aufgeklärt“, der neunte Mord an Migranten. Eine Mordserie, die man bis 2011 als „Döner-Morde“ ausgab.

Begangen haben sollen es die beiden uns bekannt gemachten NSU-Mitglieder Böhnhardt und Mundlos. Diese geradezu sagenhafte Aufklärung hatte nur ein paar schwere Webfehler, um es ganz milde zu formulieren: Denn man musste dafür polizeiliche Ermittlungsgrundsätze und -methoden auf den Kopf stellen bzw. ausschalten.

Dazu gehörten die anfangs hervorragende Ermittlungsarbeit der SOKO Café. Die Tatumstände und die Tatortanalyse führten die Spur zu einem Verdächtigten, der im Internetcafé einen Alias-Namen benutzte und im wirklichen Leben Andreas Temme heißt, Verfassungsschutzmitarbeiter in Kassel war … und u.a. Neonazis als V-Leute führte:

Temme, sein Vorgesetzter und eine Kollegin im Kasseler Büro des hessischen Verfassungsschutzes führten um das Jahr 2006 mindestens sieben V-Personen in der Kasseler Neonaziszene. Von diesen ist bislang nur Benjamin Gärtner namentlich bekannt geworden.“ (EXIF vom 1. März 2020)

Da alle anderen Besucher zur Tatzeit nicht infrage kamen, konzentrierten sich die Ermittlungen auf Andreas Temme und sein dienstliches und privates Umfeld. Wochenlang observierte man dieses, von seiner Frau bis hin zu hohen Angestellten des hessischen Verfassungsschutzes, die sich rege, besorgt und schützend austauschten und dabei auch eine Autobahnraststätte als Treffpunkt nutzten. Sie trugen also all das zusammen, was am Ende der „Ermittlungen“ auf der Strecke bleiben sollte. Man behauptete, dass die Täter die beiden NSU-Mitglieder gewesen seien und dass es keine Verbindungen, Kontakte oder gar Zuarbeiten aus dem hessischen NSU-Netzwerk gab.

Das sprach zwar allem Hohn – eben auch all dem, was die anfänglichen Ermittlungen an schweren Verdachtsmomenten gegen Andreas Temme gesammelt hatten. Dazu gehörte die ausgesprochen rassistische Gesinnung des Andreas Temme, seine Duz-Kontakte zum Benjamin Gärtner, der zur neonazistischen Kameradschaft Kassel gehörte und den er am Tattag zweimal angerufen hatte – einmal vor dem Mord, einmal danach.

Diese haarsträubenden Widersprüche ließen sich nicht ganz aus der Welt schaffen. Also beauftragte der damalige Innenminister Boris Rhein (CDU) das Landesamt für Verfassungsschutz damit, einen Prüfbericht zu erstellen, unter der Fragestellung, welche Verbindungen zwischen dem NSU und der Neonaziszene in Hessen festzustellen sind.

Das macht immer Sinn, diejenigen damit zu beauftragen, etwas aufzuklären, was man ihnen vorwirft.

2013

In diesem Jahr war der Prüfbericht erstellt und wurde sofort wieder kassiert und „überarbeitet“. Dieser bekam bereits eine Sperrfrist von 90 Jahren, bis 2103.

2014

Ein Jahr später hatte man die Version, die man auch „veröffentlicht“ haben wollte. Sie wich an markanten Stellen von der ersten Version ab, obwohl es dafür keine nachvollziehbaren Gründe gab. Diese finale Fassung bekamen ein paar ausgesuchte Parlamentarier zu sehen, mit der Verpflichtung, darüber nicht zu berichten. Als der Landesregierung klar wurde, dass man selbst den finalen Prüfbericht nicht der Öffentlichkeit zugänglich machen möchte, erklärte man ihn – zum Wohle des Landes und zur Wahrung von Staatsgeheimnissen für 120 Jahre geheim.

2134

Diese panische Angst, dass zu Lebzeiten (von Beteiligten) etwas herauskommen könnte, was der offiziellen Version widerspricht, war zum Greifen nahe. Sie war aber auch nicht aus der Luft gegriffen: Denn nicht nur Mord, sondern auch Beihilfe zu Mord verjährt nicht. Wer also einen stillen Zusammenhang zwischen haarsträubenden Ermittlungsergebnissen und 120 Jahre Friedhofsruhe sehen will, der liegt nicht falsch.

Eine dritte Version

Selbstverständlich gab Jan Böhmermann die Quelle seiner Sensation nicht preis. Vorsichtshalber räumte er ein, dass man abermals einiges geschwärzt habe, also alles, was die Arbeit des Verfassungsschutzes gefährden könnte, wozu auch und gerade V-Leute gehören, die im NSU-Netzwerk in Hessen aktiv waren. Damit ist der Bericht bereits in relevanten Teilen unbrauchbar. Aber Jan Böhmermann und sein Quellengeber haben anderes im Auge gehabt, als die offizielle Version zu demontieren.

Denn alles, was man jetzt „geleakt“ lesen kann, ist Pillepalle, für den man weder einen Verfassungsschutz noch einen Jan Böhmermann braucht. Es geht hier eben nicht um Aufklärung. Denn genau das Gegenteil davon beweist dieser abermals frisierte Prüfbericht.

Wenn das wirklich das Ergebnis ist, dann handelt es sich nicht um einen Prüfbericht, sondern um ein Gefälligkeitsgutachten. Nochmals will der Prüfbericht feststellen, dass es keine NSU-Verbindungen nach Hessen gab. Außerdem findet man nichts darin von der Rolle des Verfassungsschutzmitarbeiters Andreas Temme als V-Mann-Führer von der Neonaziquelle „Gemüse“.

Wenn also in diesem „geleakten“ Prüfbericht weniger steht, als man schon längst weiß, dann fragt man sich, was also eine Geheimhaltung auch nur von einem Jahr rechtfertigt.

Der Grund könnte ein anderer sein: Die Führungsebene im hessischen Verfassungsschutz weiß, was alles nicht drinsteht und macht dies unfreiwillig durch die eklatanten Lücken im Prüfbericht kenntlich. Ein Prüfbericht, der mehr als eine Farce ist, sondern eben auch ein Dokument fortgesetzter Täuschung.

Denn alle im Verfassungsschutz Hessen wissen zum Beispiel, welch hervorragende Arbeit die SOKO Café zu Beginn ihrer Ermittlungen gemacht hat, als sie Andreas Temme und Beschützer wochenlang observierten. Wo sind die Observationsberichte? Wo ist die interne Auswertung? Wo sind die Protokolle über Treffen zwischen Andreas Temme und hochrangigen Verfassungsschutzmitarbeitern?

Vor lauter Alibi- und Verdeckungsarbeit ist Jan Böhmermann & Co. ein nicht unerheblicher Fehler unterlaufen. Das hat Thomas Moser, den ich wegen seiner Genauigkeit und Hartnäckigkeit sehr schätze, herausgearbeitet. Es geht um die Person Stephan Ernst, den man als Brücke(nkopf) zwischen dem ersten Mord in Kassel 2006 und 2019 verstehen kann.

Je nach Opportunität und politischen Umständen lässt man ihn verschwinden bzw. auftauchen:

In einer ‚ersten Version‘ des Berichtes soll der Name Ernst an 11 Stellen vorkommen, in der „finalen Version“ aber an keiner Stelle. In der ‚Böhmermann‘-Version taucht der Name jetzt 5-mal auf.“ (s.o.)

Dasselbe passiert mit dem Umfeld von Stephan Ernst, dem V-Mann-Führer Andreas Temme und dem Neonazi und Spitzel Benjamin Gärtner (alias „Gemüse“):

Der Name des Ex-Verfassungsschutzbeamten Andreas Temme, der beim neunten NSU-Mord in Kassel zur Tatzeit am Tatort war und der auch mit Ernst dienstlich befasst war, soll in der ersten Version an zwei Stellen auftauchen, in der finalen an sechs Stellen. In der Böhmermann-Version taucht er jetzt 9-mal auf. Der Name von Temmes Quelle Benjamin G. soll in der ersten Version 19-mal vorkommen, in der finalen 6-mal, tatsächlich taucht er jetzt 11-mal auf.“

2022

Stellt sich also die Frage, warum gerade jetzt dieser manipulierte Prüfbericht veröffentlicht wurde. Man kann feststellen, dass es keinen öffentlichen Druck dafür gab. Im Prinzip kam jeder Irrsinn durch. Der minimale öffentliche Druck war geradezu eine Einladung, so weiterzumachen, wenn es nicht zu einem Ereignis gekommen wäre, das im Apparat selbst für mächtig Unruhe gesorgt hatte.

Es geht um den Mord an dem CDU-Regierungsdirektor Walter Lübcke 2019 … in Kassel. Kassel …Kassel, da war doch etwas .. vor 13 Jahren: Mit dem Mord an Walter Lübcke kam einiges von dem an die Oberfläche, was der Verfassungsschutz und die hessische Landesregierung bis dahin unter den Teppich kehren wollten. Denn für einen rassistisch motivierten Mord braucht es keinen Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt, die aus Thüringen anreisen. Denn genau aus jenen Strukturen, die im Prüfbericht geleugnet werden, kamen die Mörder bzw. diejenigen, die den Mord begrüßten und ermöglichten.

Und erst jetzt schließt sich der Kreis, warum dieser „Prüfbericht“ für diese staatsinterne Auseinandersetzung wichtig ist und einen Hinweis an jene gibt, die diesen sehr wohl verstehen.

Im Prüfbericht tauchte zum Beispiel der Name Stephan Ernst auf, also jener Mann, der als Mörder von Walter Lübcke verurteilt wurde. Dass er in der letzten/dritten Version doch wieder auftaucht, fünfmal, macht Sinn, denn für jeden Insider besagt dies, dass man ihn bereits 2013 als wichtige Figur in neonazistischen Strukturen gekannt hatte. Jeder Insider weiß, dass die Behauptung, ausgerechnet ein solch wichtiger Neonazi sei rechtzeitig vom „Schirm“ gerutscht, eine haarsträubende Täuschung ist. Denn die geheimdienstliche „Erkenntnis“, Stephan Ernst habe sich ins Private zurückgezogen, ist eine blanke Lüge, die nur die Frage zudecken soll, warum so jemand vom „Schirm“ rutschen kann/soll?

Es gibt noch eine weitere Besonderheit, die erklären kann, warum dieser „Prüfbericht“ geschickt in der Öffentlichkeit platziert worden ist.

Thomas Moser schreibt dazu:

Auffällig in der Auflistung von Personen, Objekten und Ereignissen im vorliegenden Bericht ist das gehäufte Vorkommen von Waffendelikten: illegaler Waffenbesitz, Schießübungen im Ausland, der Schweiz, Frankreich und vor allem immer wieder Tschechien. In Tschechien sind die Vorschriften lax, Munition kann heimlich eingesteckt und mitgenommen werden, indem sie einfach als verschossen deklariert wird. Im LfV, kann man weiter lesen, seien die entscheidenden Hinweise aber „in der Regel nicht bearbeitet worden“. (S. 55)

Dort kann man also nach wie vor ungeschwärzt lesen, dass der Verfassungsschutz wusste, dass sich Neonazis in Hessen bewaffnen und man diesen Vorgang nicht weiter verfolgt habe. Das ist an Lächerlichkeit kaum zu überbieten. Stellen Sie sich vor, der Verfassungsschutz würde mitbekommen, dass sich Dutzende von Autonomen bewaffnen … und der Verfassungsschutz würde wohlgefällig nicken und alles mit einer Aktennotiz begraben?

Wenn aber genau das nicht geschehen ist, man also sehr wohl wissen wollte, wo die Waffen landen, wer an Schießübungen teilnimmt und was mit den Waffen unternommen werden soll, dann führt die Spur zum Mord an Walter Lübcke!

Dann stellt sich wieder die Frage, was hat der Verfassungsschutz unterlassen bzw. ermöglicht? Welche Waffe aus welchen Beständen hat Stephan Ernst benutzt?

Titelbild: Screenshot ZDF

Quellen und Hinweise:

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