Ukrainische Menschenrechtlerin Larissa Schessler: „Alle haben Angst“

Ukrainische Menschenrechtlerin Larissa Schessler: „Alle haben Angst“

Ukrainische Menschenrechtlerin Larissa Schessler: „Alle haben Angst“

Ulrich Heyden
Ein Artikel von Ulrich Heyden

Larissa Schessler ist Vorsitzende der „Union der politischen Flüchtlinge und politischen Gefangenen“ in der Ukraine und von Beruf Ingenieurin. Sie lebte in der südukrainischen Stadt Nikolajew. 2014 emigrierte sie nach Russland, weil in der Ukraine ein Strafverfahren gegen sie eingeleitet worden war. Schessler hatte sich in Nikolajew zusammen mit anderen Aktivisten für die Föderalisierung der Ukraine und mehr Rechte für die russischsprachigen Regionen im Südosten der Ukraine eingesetzt. Im Interview, das Ulrich Heyden in Moskau mit ihr führte, berichtet Schessler, was seit 2014 aus den oppositionellen Bewegungen in der Ukraine geworden ist.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Man hört nichts mehr von der Opposition in der Ukraine. Was ist aus ihr geworden?

Die Opposition in der Ukraine ist heute physisch und politisch vernichtet. Alle Organisationen und Oppositionellen und alle Medien, die oppositionelle Meinungen verbreiteten, wurden zum Schweigen gebracht. Noch vor dem Februar 2022 wurden alle Informationskanäle geschlossen, über welche die Opposition ihre Informationen verbreitet hat. Fünf Fernsehkanäle und einige Medienhäuser wurden aufgrund von Beschlüssen der Werchownaja Rada und des ukrainischen Sicherheitsrates geschlossen. Auch Internetportale und andere Medien wurden geschlossen. Das widersprach der Verfassung und den Gesetzen. In der Ukraine gibt es heute kein freies Wort. Es gibt keine Freiheit für politische Organisationen. Es wurde eine totale Diktatur errichtet.

Die Kommunistische Partei und andere linke Organisationen existieren nicht oder existieren sie im Untergrund?

Heute sind die Kommunistische Partei der Ukraine, die Sozialistische Partei der Ukraine, die Progressive Sozialistische Partei der Ukraine, die Union der Linken Kräfte und zahlreiche weitere Organisationen in der Ukraine verboten. Die Führer dieser Organisationen werden verfolgt. Sie werden aus der Ukraine vertrieben.

Die Führer der Oppositionsparteien sind aus der Ukraine geflüchtet?

Einige habe die Ukraine verlassen, einige sind in der Ukraine geblieben. Entweder sie leben im Verborgenen oder sie waren gezwungen, die Ukraine zu verlassen.

Was ist aus der größten Oppositionspartei der Ukraine – der „Oppositionsplattform – für das Leben“ – geworden? Die Partei war mit 44 Abgeordneten im Parlament vertreten. Im August letzten Jahres wollten laut einer Umfrage 19 Prozent für diese Partei stimmen.

Für Selenski war diese Partei besonders unangenehm, denn sie war seine Hauptkonkurrentin im Südosten der Ukraine. Selenski kam nicht als Nazi oder Führer radikaler Gruppen an die Macht. Er kam an die Macht, weil er auch prorussische Wähler gewann. Nach dem Februar 2022 wurde die Oppositionsplattform wegen ihrer prorussischen Einstellung verboten. Heute befindet sich die Oppositionsplattform in einer schwierigen Lage. Einige Führer – wie Viktor Medwetschuk – wurden verhaftet, andere – wie Wadim Rabinowitsch – fuhren ins Ausland. Die Übrigen – wie der Abgeordnete Juri Boiko – sprechen von der „russischen Aggression“. Nichtsdestotrotz droht den Abgeordneten der Oppositionsplattform der Entzug der Abgeordnetenmandate. Sie müssen auch mit tätlichen Angriffen ukrainischer Nationalisten rechnen.

Haben die linken Kräfte in der Ukraine und Sie persönlich im Jahr 2014 eine solche Entwicklung erwartet?

Der Angriff des totalen Nationalismus begann 2014. Und jeder Mensch, der logisch denkt, konnte erwarten, dass Nationalismus und Nazismus früher oder später enden mit dem totalen Verbot der oppositionellen Parteien. Aber so eine brutale Diktatur habe sogar ich nicht erwartet, obwohl gegen mich 2014 ein Strafverfahren eingeleitet wurde.

Strafverfahren wegen Forderung nach Föderalisierung

Was war der Grund, dass Sie nach Russland übergesiedelt sind? Welchen Status haben Sie heute in Russland?

Ich habe die Ukraine im Mai 2014 verlassen. Ich war Koordinator des Anti-Maidan in der Stadt Nikolajew. Gegen mich wurde ein Strafverfahren eröffnet. Wir forderten den föderalen Status der südöstlichen Regionen der Ukraine. Aber niemand wollte damals den Südosten von der Ukraine abspalten.

Sehr viele Genossen sind ins Gefängnis gekommen. Ich konnte dem entgehen, indem ich die Ukraine verlassen habe. Aber das Strafverfahren in der Ukraine gegen mich läuft weiter. Es wurde nur zeitweise ausgesetzt.

In den Regionen der Ukraine gibt es sehr verschiedene Mentalitäten. Während der Westen der Ukraine ukrainischsprachig ist, so war der Osten der Ukraine immer russischsprachig. Das Verbot, in der russischen Sprache zu sprechen, was 2014 begann, hängt damit zusammen, dass die Ukraine kein föderaler Staat ist und die Regionen kein Recht haben, ihre regionale Sprache zu sprechen und ihre regionale Kultur und ihre regionalen Werte zu unterstützen.

Sie haben am Anfang unseres Gesprächs erklärt, dass die Opposition in der Ukraine auch physisch zerstört wird. Können Sie bitte Namen von Personen und Organisationen nennen?

Wir haben gesehen, dass viele politisch aktive Menschen spurlos verschwanden oder in Gefängnissen sitzen. Zum Beispiel Jelena Bereschnaja[1]. Das ist eine sehr bekannte Menschenrechtlerin, die für die Rechte der politischen Gefangenen in der Ukraine eingetreten ist. Sie ist aufgetreten im Komitee für Menschenrechte der UNO, in der OSZE, im Europäischen Parlament. Jelena Bereschnaja ist über 60 Jahre alt. Sie sitzt seit März 2022 im Gefängnis und niemand weiß, in welchem gesundheitlichen Zustand sie sich befindet. Man lässt niemanden zu ihr, noch nicht mal Verwandte.

Rechtsanwälte werden behindert

Hat Frau Bereschnaja keinen Rechtsanwalt?

Jelena Bereschnaja hat einen Anwalt, aber der Anwalt teilt der Öffentlichkeit nichts mit. Alle haben Angst, irgendwelche Informationen zu veröffentlichen.

Ich habe gehört, dass der Kiewer Rechtsanwalt Walentin Rybin die Ukraine im März 2022 verlassen musste.

Der Rechtsanwalt Walentin Rybin[2] hat die Ukraine verlassen, weil seine Tätigkeit als Rechtsanwalt strafrechtliche Ermittlungen zur Folge hatte. Viele Anwälte waren gezwungen, die Ukraine zu verlassen.

Haben sich diese Rechtsanwälte an internationale Organisationen gewandt?

Leider weiß man im Westen nicht, dass zum Beispiel der bekannte Rechtsanwalt Dmitri Tichonenkow[3] aus Charkow, der sich um politische Gefangene kümmerte, im März 2022 verhaftet wurde. Er wurde später gegen eine Kaution freigelassen.

Rechtsanwälten in der Ukraine gelingt es nicht, Informationen an westliche Länder zu übermitteln, weil man sie einschüchtert und einsperrt. Man braucht heute für den Schutz der politischen Gefangenen in der Ukraine sehr viel Mut und faktisch ist dieser Schutz schon nicht mehr möglich.

Haftentlassung gegen die Zahlung einer Kaution

Wie viele politische Gefangene gibt es heute in der Ukraine? Haben Sie eine Liste?

Wir haben Listen, aber viele Verwandte von politischen Gefangenen haben Angst, die Daten ihrer verhafteten Angehörigen in diese Listen einzutragen. Denn die Gefangenen befinden sich in der Gewalt der Gefängnisverwaltungen und sie befürchten ernste Folgen für ihre Angehörigen. Sie hoffen, dass man ihre Angehörigen austauscht oder dass man sie gegen große Kautionen aus der Haft entlässt. Für eine Freilassung auf Kaution werden mehrere hunderttausend Euro verlangt.

Welche bekannten Personen wurden auf Kaution aus der Haft entlassen?

Wir wissen zum Beispiel, dass der bekannte russisch-orthodoxe Aktivist Dmitri Skwarzow[4] für eine Kaution von mehreren hunderttausend Euro freigelassen wurde. Für eine sehr große Kaution wurde auch der frühere Leiter der Union der „Linken Kräfte“, Wassili Wolga[5], freigelassen. Wolga war im März 2022 verhaftet worden.

Weil in der Ukraine noch die Verwandten der Aktivisten leben, haben sie heute Angst, ihr Schicksal öffentlich zu machen: die Gründe, für die sie angeklagt wurden, und die Bedingungen, wie man sie faktisch freikauft.

Auf Ihre Verwandten, Frau Schessler, kann kein Druck ausgeübt werden?

Meine Verwandten sind heute nicht in Gefahr, aber leider habe ich mir nahestehende Menschen in der Ukraine. Aber ich bin schon lange auf dem Gebiet der Menschenrechte aktiv, ich kann meine Position nicht ändern.

Können Sie weitere Namen nennen von Oppositionellen, die in der Ukraine zu Tode gekommen sind oder im Gefängnis sitzen?

Da ist zum Beispiel der bekannte Historiker Aleksander Karewin[6]. Er arbeitet zur gemeinsamen Geschichte von Russland und der Ukraine. Deshalb wurde er im März 2022 verhaftet und sitzt seitdem im Gefängnis.

Dann ist da der Experte auf dem Gebiet der Energie, Dmitri Marunitsch[7]. Er ist keine öffentliche Person und gehört keiner Organisation an. Aber weil er verschiedenen Medien – auch russischen – Interviews gegeben hat, sitzt er seit April 2022 im Gefängnis und niemand weiß, nach welchem Paragraphen des Strafgesetzbuches man ihn überhaupt anklagen will. Marunitsch hat einfach die Möglichkeiten des Energie-Sektors der Ukraine analysiert und hat darüber auf politischen Versammlungen und gegenüber Medien gesprochen.

Ich habe in meiner Heimatstadt Nikolajew eine ehemalige Kollegin aus dem Stadtrat. Sie ist über 70 Jahre alt und seit über zehn Jahren gesellschaftlich aktiv. Man hat sie der Unterstützung russischer Bewegungen beschuldigt. Sie leitete in Nikolajew das „Unsterbliche Regiment“. Das ist eine gesellschaftliche Bewegung zur Unterstützung der Helden des Großen Vaterländischen Krieges 1941-1945. Gegen die Organisatoren des „Unsterblichen Regiments“ wurden jetzt Strafverfahren eingeleitet. Man wirft ihnen prorussische Tätigkeit vor. Es gibt sehr viele solche Fälle.

Was ich Ihnen erzähle, ist nur die Spitze des Eisberges. Heute bekam ich die Information, dass in dem Ort Snigerowki im südukrainischen Gebiet Nikolajew, welches Anfang November von russischen Truppen geräumt wurde, zwei Einwohnerinnen verhaftet wurden. Man wirft ihnen prorussische Tätigkeit vor. Sie haben humanitäre Hilfe verteilt und bei der Beantragung russischer Renten geholfen. Sie werden als Verbrecherinnen angeklagt. Ihnen drohen Gefängnisstrafen von zehn Jahren.

Im Gebiet Cherson verschwinden Menschen“

Wie ist die Lage in den Gegenden von Cherson und Charkow, in welche die ukrainische Armee in den letzten Monaten vorgerückt ist?

In den Gebietsteilen von Cherson und Charkow, aus denen sich die russische Armee zurückgezogen hat, herrscht heute totaler Terror.

Heute gibt es im Gebiet Cherson eine sehr starke Repression. Es wurden Menschen verhaftet und beschuldigt, sie hätten die russischen Streitkräfte unterstützt. Doch diese Verhafteten haben nur humanitäre Hilfe verteilt, als der Nordteil von Cherson von der russischen Armee kontrolliert wurde. Lehrer werden verfolgt, die Listen für die Teilnahme am Referendum vorbereitet haben. Man verhaftet sie und dann verschwinden sie und von Vielen wissen wir nicht, wo sie sind.

Es gibt keine Rechtsanwälte und keine Möglichkeiten, diese verschwundenen Menschen zu suchen. Die Menschen befinden sich heute in großer Gefahr.

Leider haben viele Menschen in den Orten Snigerowki und Cherson nicht geahnt, welche Gefahr besteht, wenn die ukrainischen Truppen in die Orte zurückkehren.

Viele Bürger kamen nicht direkt mit politischer Repression in Berührung. Wenn so etwas weit entfernt passiert, konnten sie sich nicht vorstellen, mit welcher Brutalität gegen Andersdenkende vorgegangen wird.

Die Menschen sind einfach ihrer normalen Tätigkeit nachgegangen. Eine Beamtin in einem Stadtbezirk hat nicht verstanden, dass, wenn sie sich nicht weigert, Mitbürgern dabei zu helfen, humanitäre Hilfe und Renten zu beantragen, sie sich nach Meinung von Kiew eines Verbrechens schuldig macht.

Die Menschen blieben auf dem Territorium, welches die russische Armee eingenommen hat, und sie dachten, sie machen nichts Schlechtes. Sie haben niemanden an die russischen Sicherheitsorgane verraten. Sie haben niemanden angezeigt und ins Gefängnis gebracht. Aber heute werden diese Beamten verhaftet und ihnen droht eine lange Haftstrafe.

Ein bekannter Journalist in der Ukraine ist Juri Tkatschow[8], Chefredakteur des Internetportals „Timer“ aus Odessa. Man hat ihn im März 2022 verhaftet.

Juri Tkatschow machte eine reine Informationsarbeit. Aber man hat ihn ins Gefängnis geworfen. Nach Zahlung einer sehr großen Kaution hat man ihn in den Hausarrest entlassen. Man sagt, er musste zwei Millionen Griwna zahlen, das sind 50.000 Euro.

Er kann jetzt nichts schreiben?

Natürlich nicht. Eine Person, die auf Kaution freigekommen ist, möchte natürlich nicht nochmal ins Gefängnis. Man brachte ihn zum Schweigen wie viele, viele andere.

Könnte Juri Tkatschow nach Deutschland oder ein anderes Land in der Europäischen Union ausreisen und seine Tätigkeit von dort aus fortsetzen?

Man wird es nicht zulassen. Denn er befindet sich im Hausarrest. Kein Mann unter 60 Jahren darf die Ukraine heute verlassen.

Vor kurzem durchsuchte der ukrainische Geheimdienst SBU mehrere russisch-orthodoxe Klöster in der Ukraine. Eine dieser Durchsuchungen fand statt im Kiewer Kloster Troize-Sergijewa Lawra. Man behauptete, dass man dort russische Untergrundkämpfer sucht.

Der SBU denkt sich Dinge aus, um die politische Verfolgung von religiösen Würdenträgern zu rechtfertigen. Heute in der Kirche eine Untergrundgruppe aufzubauen, also in einer großen Stadt, in der man sich nicht verstecken kann, ist absurd.

Die ukrainische orthodoxe Kirche des russischen Patriarchats vereinigt Ukrainer und Russen, weshalb sie schon seit mehreren Jahren von der Kiewer Macht verfolgt wird. Der gemeinsame Glaube ist aus Sicht der Macht in Kiew ein Verbrechen.

Die orthodoxe Kirche sucht natürlich nach Kompromissen mit der Macht. Die Kirche ist keine politische Organisation, die kämpfen wird. Aber sie kann ihre Natur nicht ändern und steht weiter für den gemeinsamen Glauben von Russen und Ukrainern ein.

Gibt es für Menschen in der Ukraine, die es gewohnt sind, russische Nachrichten oder Kultur-Programme zu gucken, Kanäle im Internet, über die sie sich informieren können?

In der Ukraine kann jeder Mensch auf der Straße angehalten werden. Man kann ihn auffordern, dass er sein Telefon zeigt und die Telegram-Kanäle, die er abonniert hat. Und wer einen bekannten russischen Kanal wie colonelcassad oder Juri Podoljaka abonniert hat, kann verhaftet und verhört werden. Wenn meine Freunde in der Ukraine aus dem Haus gehen, dann löschen sie alle ihre Telegram-Kanäle. Viele YouTube-Kanäle und Websites sind in der Ukraine blockiert. Man kann sie nur über VPN sehen.

Die bekanntesten politischen Morde

Was sind die bekanntesten politischen Morde der letzten Jahre in der Ukraine?

Anfang März 2015 gab es den angeblichen Selbstmord des ehemaligen Gouverneurs des Gebietes Saparoschje, Aleksandr Pekluschenko. In Wirklichkeit war es ein politischer Mord.

Am 15. April 2015 wurde Oleg Kalaschnikow[9] erschossen. Kalaschnikow war Mitglied der Partei der Regionen. Er hatte versucht, in Kiew einen Marsch des „Unsterblichen Regiments“ zu organisieren.

Am 16. April 2015 wurde der Journalist und Schriftsteller Oles Busina[10] erschossen.

Das Entscheidende ist, dass bekannt ist, wer diese Morde ausgeführt hat und niemand dafür zur Verantwortung gezogen wurde.

Außerdem gab es sehr viele Morde, die als Selbstmorde ausgegeben wurden, zum Beispiel beim Tod von Walentinа Semenjuk[11], der Vorsitzenden des Fonds für Privatisierung von Staatseigentum, im August 2014.

Es waren viele politische Morde. Aber das Entscheidende war, dass diese Morde Angst verbreiteten.

Wie ist Ihre Prognose für die Zukunft der Ukraine?

Die Ukraine als souveräner Staat hat bereits aufgehört zu existieren. Das Territorium befindet sich unter vollständiger Kontrolle der Amerikaner und wird genutzt als Mittel im Kampf gegen Russland.


Die NachDenkSeiten sind für eine kritische Meinungsbildung wichtig, das sagen uns sehr, sehr viele - aber sie kosten auch Geld und deshalb bitten wir Sie, liebe Leser, um Ihre Unterstützung.
Herzlichen Dank!