Studie der Otto-Brenner-Stiftung zu Berichterstattung deutscher „Leitmedien“ über Ukraine-Krieg: Tendenziös, einseitig und oft „sehr einheitlich“

Studie der Otto-Brenner-Stiftung zu Berichterstattung deutscher „Leitmedien“ über Ukraine-Krieg: Tendenziös, einseitig und oft „sehr einheitlich“

Studie der Otto-Brenner-Stiftung zu Berichterstattung deutscher „Leitmedien“ über Ukraine-Krieg: Tendenziös, einseitig und oft „sehr einheitlich“

Florian Warweg
Ein Artikel von: Florian Warweg

Wissenschaftler der Johannes Gutenberg-Universität Mainz sowie der Ludwig-Maximilians-Universität München haben erstmals auf breiter Datenbasis die Medienberichterstattung über den Ukraine-Krieg analysiert. Dafür wurden 4.300 Beiträge aus acht deutschen „Leitmedien“ mittels einer quantitativen Inhaltsanalyse ausgewertet. Finanziert wurde die Studie von der gewerkschaftsnahen Otto-Brenner-Stiftung. Die Ergebnisse lassen aufhorchen. Von Florian Warweg.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Analysiert wurde laut Studien-Darstellung „die Berichterstattung über den Krieg gegen die Ukraine und seine Folgen in acht deutschen Leitmedien (FAZ, Süddeutsche Zeitung, Bild, Spiegel, Zeit, ARD Tagesschau (20 Uhr), ZDF Heute (19 Uhr), RTL Aktuell (18:45)) zwischen dem 24. Februar (Tag des russischen Einmarschs) und dem 31. Mai 2022. Die Medien wurden nach ihrer Reichweite, ihrer redaktionellen Linie (politische Ausrichtung) und ihrem vermuteten Einfluss auf die Berichterstattung anderer Medien (Meinungsführermedien) ausgewählt.“

Zentrale Forschungsfragen waren unter anderem:

  1. Welche Akteure kommen in der Berichterstattung vor und wie werden diese bewertet?
  2. Welche Maßnahmen zur Lösung des Konflikts werden in den untersuchten Medien thematisiert und wie werden diese bewertet?
  3. Welche thematischen Schwerpunkte hat die Berichterstattung?
  4. Unterscheiden sich die untersuchten Medien in ihrer Berichterstattung (Vielfalt im Mediensystem)?
  5. Spiegeln die untersuchten Medien die Position der Bundesregierung wider und wie werden abweichende Positionen dargestellt?

Akteursanalyse: „Regierung hat viermal höhere Medienpräsenz als die Opposition“

„Betrachtet man genauer, welche deutschen Parteien und Politiker die Berichterstattung prägten, zeigt sich das aus Studien zu früheren Krisen bekannte Bild, dass die Oppositionsparteien sowie ihre Vertreter in der Berichterstattung allenfalls marginal vertreten sind“, heißt es in der Studie. Von den Berichten über deutsche Parteien und ihre Politiker entfielen fast die Hälfte (48 Prozent) auf die SPD, danach folgen die Grünen und ihre Politiker mit 23 Prozent. Linkspartei und AfD hatten laut der Untersuchung in der Berichterstattung „praktisch keine Medienpräsenz“. Ein Vergleich der Medienpräsenz von Regierungs- und Oppositionsparteien ergab eine „80 prozentige und somit eine mehr als viermal höhere Medienpräsenz als die Opposition“.

Untersuchte Medien bewerten Selenskyj und Baerbock fast ausschließlich positiv – Russland und Putin extrem negativ

Schaubild 6 zeigt den Saldo aus positiven und negativen Bewertungen der analysierten Medien für elf besonders häufig bewertete Akteure in Prozent.

Besonders auffällig: Ohne Ausnahme bewerteten alle untersuchten Medien von FAZ über Spiegel bis Tagesschau den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj fast durchgehend positiv. Die Studie spricht in dem Zusammenhang von „nahezu ausschließlich positive Bewertungen erhielten dabei die Ukraine (Saldo 64%) und ihr Präsident Selenskyj (Saldo 67%)“.

Dies erstaunt, denn in den Untersuchungszeitraum fällt zum Beispiel das per Präsidenten-Dekret erfolgte Verbot fast aller Oppositionsparteien in der Ukraine. Eine der wenigen noch nicht verbotenen Parteien ist die rechtsextreme Swoboda-Partei. Ebenso per Dekret erfolgte auch die im Wortsinne durchgeführte Gleichschaltung aller ukrainischen TV-Sender beziehungsweise, wenn diese der Opposition aus Sicht des Präsidenten zu nahe standen, deren direktes Verbot.

Wohlgemerkt heißt dies nicht, dass die untersuchten „Leitmedien“ diese Verbote und forcierten Zusammenlegungen komplett ignoriert hätten, die Berichterstattung erfolgte aber mehrheitlich, ohne dass Kritik an diesem Vorgehen geäußert wurde. Beim ZDF heißt es beispielsweise angesichts des Verbotes von 12 Oppositionsparteien und der Gleichschaltung der TV-Medien:

„Einerseits stünden die Parteiverbote und der TV-Zusammenschluss in Kontinuität zum Vorgehen des staatlichen Sicherheitsrates der Ukraine gegen pro-russische Politiker und Oligarchen seit Februar 2021. Zum anderen in direkter Verbindung mit den Notwendigkeiten des Kriegszustandes. (…) Von den betroffenen Personen und Parteien gehe tatsächlich eine bedeutsame Gefahr aus.“

Die quantitative Studie bestätigt auch erstmals auf breiter Datengrundlage den Berichterstattungsbias der sogenannten „Leitmedien“ in Bezug auf die Grünen und ihre Ministerriege. Wie man an dem obigen Schaubild erkennen kann, werden nur Wirtschaftsminister Habeck und vor allem Außenministerin Annalena Baerbock „deutlich positiv“ bewertet:

„Insgesamt zeigt sich nicht, dass die von uns untersuchten Medien gegenüber der Bundesregierung insgesamt besonders kritiklos waren. Vielmehr bewerteten sie nur die grünen Minister Baerbock und Habeck (19%) deutlich positiv, während sie die übrigen Regierungsmitglieder überwiegend kritisierten.“

„Kritisierten“, das führt die Studie auch weiter aus, bezeugt ebenfalls eine Art der einheitlichen Berichterstattung, denn Kritik erfolgt fast ausschließlich nur in dem Zusammenhang, wie die fraglichen Politiker sich in dem untersuchten Zeitraum zum Thema Waffenlieferungen aussprachen:

„Die Bewertung von Scholz schwankte darüber hinaus im Zeitverlauf stark mit überwiegend positiver Berichterstattung zu Beginn und einem Tiefpunkt Mitte April während der Diskussionen um Waffenlieferungen und einen möglichen Scholz-Besuch in Kiew.“

Schwarz-weiß-Berichterstattung: Ukraine positiv – Russland negativ

Während wie aufgezeigt die Ukraine und ihr Präsident fast ausschließlich positiv dargestellt wurden, wurden im Falle Russlands (-88 Prozent) und Präsident Wladimir Putin (-96 Prozent) diese medial ebenso ausschließlich negativ bewertet. Gerade die von der Studie gemessene extrem negative Darstellung von Russland, also einem ganzen Land, erscheint in diesem Zusammenhang problematisch, gerade in Bezug auf die untersuchten Medien des öffentlich-rechtlichen Rundfunks (ÖRR) und deren Programmauftrag als Medium und Faktor der freien Meinungsbildung. Was bleibt von „freier Meinungsbildung“ übrig, wenn ein Land generalisierend als „negativ“ präsentiert wird?

Russische Perspektiven werden fast gar nicht in den Leitmedien wiedergegeben

Hinzu kommt in diesem Zusammenhang ein weiteres Ergebnis der Studie. Ein ergänzender Untersuchungsfaktor war, „auf welchen Länderperspektiven der Schwerpunkt der Berichterstattung lag“. Hierzu erfasste die Studie für jeden Beitrag, ob dieser „aus Perspektive der Ukraine (z.B. Entscheidungen der ukrainischen Regierung oder Probleme der ukrainischen Bevölkerung), aus der Perspektive Russlands (z.B. Entscheidungen der russischen Regierung oder Probleme der russischen Bevölkerung), aus der Perspektive Deutschlands (z.B. Entscheidungen der deutschen Regierung oder Probleme der deutschen Bevölkerung)“ verfasst wurde. Das Resümee der Studie:

„Die Analysen zeigt auf, dass in den von uns untersuchten Medien insgesamt die Perspektive Deutschlands vorherrschte (42%). Relativ häufig wurde auch die Perspektive der Ukraine eingenommen (28%). Die Perspektive Russlands wurde dagegen sogar deutlich seltener eingenommen (10%) als die Perspektive anderer Länder, z.B. anderer Nachbarstaaten Russlands (20%).“

Das heißt, deutsche „Leitmedien“ gaben im Vergleich viermal öfter die Perspektive Ukraine denn die der Russischen Föderation wieder. Selbst über Sichtweisen Polens oder Litauens wurde doppelt so oft berichtet wie über die russischen. Wie soll der Bundesbürger auf dieser einseitigen Informationsbasis in die Lage versetzt werden, das Geschehen umfassend zu verstehen und einordnen zu können?

Von FAZ über SPIEGEL bis ARD: Alleiniger Verursacher des Kriegs ist Russland

Um zu messen, wer in den untersuchten Medien als Verursacher des Ukraine-Krieges bezeichnet wurde, haben die Kommunikationswissenschaftler für jeden Beitrag drei potenzielle Verursacher erfasst: Russland, die Ukraine und „der Westen“ (definiert in dem Fall als NATO-Mitglieder). Das Ergebnis?

„Es konnten für jeden Beitrag folglich auch zwei oder alle drei Gennannten als Verursacher codiert werden. Dennoch wurde in nahezu allen Beiträgen (93%) Russland bzw. Präsident Putin die alleinige Verantwortung für den Krieg zugeschrieben. „Der Westen“ wurde in nur 4% als (mit-)verantwortlich bezeichnet, die Ukraine noch seltener (2%). Andere Verursacher als Russland wurden zudem allenfalls in den beiden überregionalen Tageszeitungen sowie in Spiegel und Zeit in nennenswerter Häufigkeit erwähnt (je etwa 10%).“

93 Prozent aller Beiträge von FAZ, Süddeutsche, Spiegel, ARD, ZDF etc. sehen laut der Medienanalyse Russland als „alleinigen“ Verantwortlichen für den Kriegsausbruch. Das heißt im Umkehrschluss auch, dass die besagten Medien mögliche eskalierende Faktoren wie bewusste Nichtumsetzung von Minsk 2 durch Kiew, zunehmende Artillerieangriffe auf die Zivilbevölkerung im Donbass hinter der Kontaktlinie oder auch die Tatsache, dass es keinerlei Zugeständnisse des Westens an die ab spätestens 2021 vehement vorgetragenen Sicherheitsbedenkens Moskaus hinsichtlich einer NATO-Integration der Ukraine gab, nicht einmal erwähnten. Krieg ist fast nie monokausal auf einen einzigen Verursacher zurückzuführen und Medien hätten eigentlich die Aufgabe, dieser Komplexität in ihrer Berichterstattung Rechnung zu tragen.

Maßnahmen zur Beendigung des Krieges: Tagesschau mit negativster Bewertung zu diplomatischen Lösungsansätzen

Die zentrale Streitfrage im Zusammenhang mit dem Ukraine-Krieg war während des Untersuchungszeitraums, welche Maßnahmen am ehesten geeignet sind, den Krieg zu beenden. Um zu messen, wie dies in den untersuchten Medien dargestellt wurde, haben die Forscher zunächst erfasst, welche Maßnahmen zur Beendigung des Krieges in einem Beitrag erwähnt wurden. Dabei konnten bis zu drei Maßnahmen codiert werden. Für jede dieser Maßnahmen wurde dann anschließend auf einer fünfstufigen Skala bestimmt, wie sinnvoll diese Maßnahmen bewertet wurden (eindeutig sinnvoll – eindeutig nicht sinnvoll). Für die Analysen konzentrierten sich die Forscher auf die fünf Maßnahmen, die am häufigsten thematisiert wurden und die Konfliktlinien laut Einschätzung der Autoren am besten abbilden: Humanitäre Maßnahmen (z.B. Lieferung von Lebensmitteln, Medikamenten), diplomatische Maßnahmen, militärische Unterstützung für die Ukraine, wobei dort noch einmal explizit die Lieferung schwerer Waffen unterschieden wurde sowie Wirtschaftssanktionen gegen die Russische Föderation.

In der Auswertung der Studie heißt es dazu:

„Die Analysen zeigen, dass sich die Berichterstattung mit Abstand am häufigsten Wirtschaftssanktionen gegen Russland widmete (1.168 Nennungen), wobei die Medien diese Maßnahme in zwei Dritteln der Fälle (66%) wertend einordneten. Militärische Unterstützung für die Ukraine wurde in 748 Fällen thematisiert und in 72% dieser Fälle bewertet. Deutlich seltener thematisierten die Medien diplomatische Maßnahmen (393; in 66% bewertet) sowie explizit die Lieferung schwerer Waffen (330; in 83% bewertet). Humanitäre Maßnahmen waren noch seltener Gegenstand medialer Berichterstattung (284) und wurden zudem am seltensten bewertet (56%).“

Die Untersuchung kommt zu dem Ergebnis, dass die untersuchten Medien die militärische Unterstützung der Ukraine im Allgemeinen (74 Prozent) „außerordentlich positiv“ bewerten. Etwas weniger deutlich, aber immer noch als überwiegend sinnvoll wurde auch die Lieferung von schweren Waffen bewertet. Ähnlich häufig als „sinnvoll“ bewertet wurde zudem die Verhängung wirtschaftlicher Sanktionen (64 Prozent). Hingegen wurde die Maßnahme „diplomatische Verhandlungen“ in weniger als der Hälfte der Beiträge (43 Prozent) als sinnvoll erachtet.

Eine zentrale Frage der Studie mit Verweis auf die dazu laufende öffentliche Diskussion war, ob die „Leitmedien“ in der Frage Vorrang für Diplomatie oder Waffenlieferung eine einheitliche Position vertreten. Die Analyse zeigt, dass die Lieferung schwerer Waffen von allen untersuchten Medien mit Ausnahme des Wochenmagazins Spiegel „deutlich überwiegend“ befürwortet wurde. Nur im Spiegel hielten sich ablehnende und befürwortende Beiträge in dem Zeitraum die Waage. Noch frappierender fällt die Bewertung über diplomatische Maßnahmen aus. Laut der Untersuchung war der Spiegel das einzige der untersuchten Medien, welches diplomatische Verhandlungen positiver bewertete als die Lieferung schwerer Waffen. Am negativsten (-10 Prozent) urteilte ausgerechnet die Tagesschau über diplomatische Maßnahmen zur Beendigung des Krieges.

Fazit der Studie: „Tatsächlich sehr einheitlich über den Krieg berichtet…“

„In einigen Fällen haben die von uns untersuchten Medien tatsächlich sehr einheitlich über den Krieg berichtet. Das betrifft insbesondere die Zuschreibung der Kriegsverantwortung an Russland und die Bewertung der beiden Kriegsparteien. Dieses Berichterstattungsmuster ist aber wenig verwunderlich, weil Russland – bei allem möglichen Verständnis für eine dort vielleicht als bedrohlich wahrgenommene Ost-Erweiterung der NATO – einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen die Ukraine führt, der wenig Spielraum für andere Bewertungen lässt. In anderen Fällen ist die Einheitlichkeit der Berichterstattung allerdings weniger trivial. Dies betrifft insbesondere die Bewertung der unterschiedlichen Maßnahmen zur Beendigung des Krieges. Dass die militärische Unterstützung der Ukraine im Allgemeinen und die Lieferung schwerer Waffen im Besonderen in den meisten der untersuchten Medien als deutlich überwiegend sinnvoll und auch als sinnvoller als diplomatische Maßnahmen dargestellt wurden, (…) überrascht in dieser Deutlichkeit.“

So das Zwischenfazit der Studie. Abschließend verweisen die Autoren noch darauf, dass die Frage, warum sich die untersuchten Medien so deutlich für eine militärische Unterstützung der Ukraine ausgesprochen haben und signifikant weniger für diplomatische Ansätze, zwar elementar sei, aber nicht mittels der angewandten quantitativen Inhaltsanalyse erklärt werden kann.

Falls Sie, werte Leserinnen und Leser, einen Erklärungsansatz dafür haben oder andere Aspekte kommentieren wollen, schreiben Sie uns gerne: [email protected].

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Titelbild: Screenshot