Die Doppelmoral beim Völkerrecht: Bundesregierung möchte Irakkrieg immer noch nicht verurteilen

Die Doppelmoral beim Völkerrecht: Bundesregierung möchte Irakkrieg immer noch nicht verurteilen

Die Doppelmoral beim Völkerrecht: Bundesregierung möchte Irakkrieg immer noch nicht verurteilen

Ein Artikel von: Tobias Riegel

In einer aktuellen Stellungnahme verweigert das Auswärtige Amt noch immer eine klare Bewertung des Irakkriegs als völkerrechtswidrig. Damit werden damalige Lügen der USA indirekt bis heute gedeckt. Zusätzlich ist das Messen mit zweierlei Maß bei der Bewertung von Angriffskriegen inakzeptabel. Ein Kommentar von Tobias Riegel.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Die massive Doppelmoral bei der Bewertung russischer bzw. US-amerikanischer Militäraktionen wurde dieser Tage oft festgestellt. Ein aktueller Vorgang illustriert diese Haltung noch einmal deutlich: Während das Auswärtige Amt mit der grünen Außenministerin Annalena Baerbock ein Feuerwerk des inszenierten Engagements für Menschenrechte abbrennt und eine (pseudo-)klare Kante gegen „Autokraten“ zeigt, weigert sich das Ministerium bis heute, den Irakkrieg eindeutig als einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg zu bezeichnen. Die LINKEN-Abgeordnete Sevim Dagdelen hatte kürzlich noch einmal nachgefragt, ob sich an der Bewertung der Bundesregierung des US-Überfalls auf Irak etwas geändert hat – die weiter unten folgende Antwort ist ein Skandal.

„Ist (die Bundesregierung) zu dem Ergebnis gekommen, dass dieser (Irakkrieg) einen Bruch des Völkerrechts darstellt?“

Über die Anfrage von Dagdelen hatte zuerst die „Berliner Zeitung“ berichtet, sie liegt den NachDenkSeiten vor. Die Anfrage* ist angesichts der aktuellen selektiven Betrachtung des Verhaltens Russlands und der Weißwaschung westlich initiierter Kriege mehr als überfällig:

Hat die Bundesregierung eine rechtliche Bewertung des Krieges der ‚Koalition der Willigen‘ im Irak 2003 unter der Führung der USA mit mehr als 190.000 Toten, von denen mehr als 70 Prozent Zivilisten waren vorgenommen, und wenn nein, warum nicht (bitte begründen), und wenn ja, ist sie zu dem Ergebnis gekommen, dass dieser einen Bruch des Völkerrechts darstellt bzw. als einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg zu werten ist, und wenn letzteres bejaht wird, welche Schlussfolgerungen zieht sie daraus und wenn letzteres verneint wird, warum (bitte begründen)?

Regierung stellt sich dumm

Die Antwort des Auswärtigen Amtes wiederum lässt zahlreiche Fragen offen – und spricht doch Bände: Denn die Regierung tut einfach so, als habe es den Skandal um die von den USA erfundenen Massenvernichtungswaffen des Irak nicht gegeben. Die Erklärung liest sich, als sei sowohl die betrügerische Begründung als auch der darauf aufgebaute Angriff gegen Irak auch heute noch in irgendeiner Weise akzeptabel. Und das, obwohl der Irak zu keinem Zeitpunkt eine militärische Gefahr für die USA dargestellt hat. Im Wortlaut heißt es:

Die Vereinigten Staaten begründeten ihr militärisches Eingreifen in Irak 2003 mit der Durchsetzung der Resolution des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen (VN) 1441 (2002) vom 8. November 2002, welche Irak zur bedingungslosen Akzeptanz der vorherigen Resolutionen aufforderte und ‚eine letzte Gelegenheit‘ gab, seinen Verpflichtungen bezüglich der Kontrolle und Vernichtung seiner Massenvernichtungswaffen nachzukommen. Diese Verpflichtungen umfassten insbesondere uneingeschränkten und bedingungslosen Zugang der Inspekteure der Überprüfungsmission der Vereinten Nationen (UNMOVIC) und der Internationalen Atomenergie-Organisation (IAEO) zu allen Anlagen.

Der VN-Sicherheitsrat hatte in seiner Resolution 1441 (2002) erneut betont, dass alle Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen durch seine Resolution 678 (1990) vom 29. November 1990 ermächtigt wurden, alle erforderlichen Mittel einzusetzen, um der Resolution 660 (1990) vom 2. August 1990 und allen danach verabschiedeten einschlägigen Resolutionen Geltung zu verschaffen, um den Weltfrieden und die internationale Sicherheit in dem Gebiet wiederherzustellen. Der Sicherheitsrat wies ebenso darauf hin, dass die Beschlüsse nach Kapitel VII der Charta der Vereinten Nationen gefasst wurden und Irak wiederholt vor ‚ernsthaften Konsequenzen‘ bei weiteren Verstößen gegen die Verpflichtungen der Resolutionen gewarnt wurde.

Die Bundesregierung hat sich damals gegen eine Beteiligung an der Intervention der USA und anderer Partner entschieden. Ergänzend wird auf die Antwort der Bundesregierung vom 28. Mai 2010 auf die Kleine Anfrage der Fraktion DIE LINKE. verwiesen (Bundestagsdrucksache 17/1891).

„Die Bundesregierung versucht Washingtons damalige Kriegslüge auch noch zu rechtfertigen“

Sevim Dagdelen stellt auf Facebook fest:

Die doppelten Standards der Bundesregierung werden immer haarsträubender. (…) Die Weigerung der Ampel, den Irak-Krieg der USA als Völkerrechtsbruch zu verurteilen, ist selbst himmelschreiendes Unrecht. Schlimmer noch: Die Bundesregierung versucht Washingtons damalige Kriegslüge auch noch zu rechtfertigen, indem sie nachlegt, der Irak habe Massenvernichtungswaffen besessen. Die wurden anscheinend lediglich auf wundersame Weise bis heute nicht gefunden. (…) Wer wie die Bundesregierung bei Angriffskriegen und Völkerrechtsbrüchen unterschiedliche Standards anlegt und die von NATO-Partnern prinzipiell nicht verurteilt, verliert jede Glaubwürdigkeit in Sachen Völkerrecht.“

Das damalige Urteil des Sicherheitsrates beruhte auf falschen Geheimdienstangaben und auf einer weltweiten Propaganda-Kampagne. Dass die Bundesregierung eine klare Bewertung des Irakkriegs bis heute verweigern kann, ohne einen höhnischen Aufschrei auszulösen, ist nur möglich, weil zahlreiche Medien und Journalisten versuchen, die Regierung und ihre Politik abzuschirmen.

„Zu den entsprechenden Diskussionen in der Rechtswissenschaft nimmt die Bundesregierung nicht Stellung. Dies gilt auch weiterhin.“

In der erwähnten, umfangreicheren Antwort der Bundesregierung von 2010 heißt es unter anderem:

Wie die Bundesregierung bereits mehrfach festgestellt hat (…) sind Fragen der Völkerrechtmäßigkeit des Irak-Konfliktes von Völkerrechtlern unterschiedlich beantwortet worden. Zu den entsprechenden Diskussionen in der Rechtswissenschaft nimmt die Bundesregierung nicht Stellung. Dies gilt auch weiterhin.“

Eine zentrale Frage lautete bereits 2010:

Wie beurteilt die Bundesregierung die Erkenntnisse und Aussagen von Geheimdienstberichten der USA und Großbritanniens im Vorfeld des Krieges, die die Behauptung aufstellten, dass der Irak über Massenvernichtungswaffen verfüge, aber nach Hans Blix, dem früheren Chef-Waffeninspekteur der Vereinten Nationen (auf einer Veranstaltung in Berlin, www.netzeitung.de, 17. Februar 2004), es oft dubiose Quellen waren, auf die sie sich stützten und die Entscheidung, wegen der Gefährdung durch irakische Massenvernichtungswaffen in den Krieg zu ziehen, „ein Versagen sowohl der Geheimdienste, als auch politischer Entscheidungsträger“ war, wobei laut Hans Blix es in der UNSCOM (United Nations Special Commission), der Inspektorenmission, die bis 1998 im Irak arbeitete, Geheimdienstler gab, die ihr Mandat missbrauchten, um militärische Ziele auszukundschaften?

Die Antwort ist meiner Meinung nach ebenso inakzeptabel wie die aktuelle Stellungnahme des Auswärtigen Amtes:

Die Bundesregierung hat ihre Entscheidungen im Vorfeld des Irak-Krieges auf vielfältige Informationsquellen einschließlich nachrichtendienstlicher Erkenntnisse gestützt. Sie hält in der Rückschau die Evaluierung der erhaltenen Informationen durch diese Quellen für verlässlich.

Der Triumph der Doppelmoral

Welche Doppelmoral es darstellt, den US-Präsidenten Joe Biden im Vergleich zu anderen Staatenlenkern als einen um Frieden bemühten Politiker zu bezeichnen, haben wir im Artikel „Joe Biden: Ein Präsident des Friedens“ beschrieben. Dass das Völkerrecht „ein bedeutungsloses Konzept ist, wenn es nur für US-Gegner gilt“, haben wir in diesem Artikel beschrieben. Weil man die Heuchelei und die Doppelstandards manchmal nur noch mit Satire erträgt, soll hier mit einer Meldung aus einem unserer satirischen Nachrichtenticker geschlossen werden.

Achtung, Satire:

NATO feiert „Tag des Vergessens“

Der 24. Februar – also der Tag des Beginns des mit Abstand brutalsten und völkerrechtswidrigsten Angriffskriegs in der Geschichte – soll künftig ein NATO-Feiertag werden: der „Tag des großen Vergessens“.

„So zynisch es klingt, diesen Tag zum Feiertag zu machen, so zynisch ist es auch“, so ein NATO-Sprecher. Dennoch wolle man sich von dieser wichtigen Geste gegen homophobe, antisemitische Autokratien nicht abhalten lassen. Die Idee sei, alle vor dem 24.2.2022 datierten Angriffskriege aus der Historie zu streichen. „Das machen viele Medien ja bereits“, so der Sprecher weiter, „wir wollen das jetzt nur noch einmal offiziell feststellen.“ Damit würde man auch der russischen Propaganda entgegentreten, die eine „Vorgeschichte“ zum Ukrainekrieg konstruieren wolle.

Zu feiern gebe es am 24. Februar ja nicht nur die erheblichen Gewinne für die NATO-Führungsmacht USA, die ihr aus dem Wirtschaftskrieg gegen Europa zufließen. Erfreulich sei doch auch, dass mit der Streichung aller US-Angriffskriege aus der kollektiven Erinnerung eine erhebliche geistig-moralische Befreiung für westliche Kriegsverbrecher und beteiligte Journalisten einhergeht – das sei therapeutisch und könne Gräben überbrücken. „Es geht hier also um Werte, nicht ums Geld“, so eine NATO-Erklärung.

Titelbild: Zwiebackesser / Shutterstock

*Aktualisierung, 20.12.2022: An dieser Stelle hieß es zunächst irrtümlich, es sei eine gemeinsame Anfrage der Linksfraktion.

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