Bundesregierung: Wir bezeichnen nur den russischen Angriffskrieg als völkerrechtswidrig, Kriege anderer Länder bewerten wir nicht

Bundesregierung: Wir bezeichnen nur den russischen Angriffskrieg als völkerrechtswidrig, Kriege anderer Länder bewerten wir nicht

Bundesregierung: Wir bezeichnen nur den russischen Angriffskrieg als völkerrechtswidrig, Kriege anderer Länder bewerten wir nicht

Florian Warweg
Ein Artikel von: Florian Warweg

Ein Abgeordneter fragt die Bundesregierung, welche internationalen Kriege seit 1991 diese als völkerrechtswidrig einstuft. Das Antwortschreiben des Auswärtigen Amtes, welches den NachDenkSeiten vorliegt, ist an praktizierter Doppelmoral kaum zu überbieten. Man bewerte nur den aktuellen „Angriffskrieg Russlands“ als „völkerrechtswidrig“. Eine „rückblickende völkerrechtliche Bewertung“ anderer Kriege etwa der USA, Saudi-Arabiens oder der Türkei erachtet die Bundesregierung nach eigener Darlegung als nicht zielführend. Ein Offenbarungseid besonderer Güte. Von Florian Warweg.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

„Welche Kriege (internationale bewaffnete Konflikte) seit 1991 sind nach der völkerrechtlichen Einschätzung der Bundesregierung als völkerrechtswidrig einzustufen, und welcher Staat ist nach Einschätzung der Bundesregierung in diesen Kriegen als Aggressor einzuordnen?“

So die Schriftliche Frage des Bundestagsabgeordneten und Obmann im Auswärtigen Ausschuss, Petr Bystron (AfD), an die Bundesregierung. In der Frage verweist er zudem als Beispiel auf eine Stellungnahme des SPD-Stadtverbandes Göttingen vom 28. November 2022, in welcher die damals laufenden Angriffswellen der türkischen Armee „auf alle kurdischen Gebiete“ als „brutal und völkerrechtswidrig“ bezeichnet werden und zudem der SPD-Bundesvorstand und die Bundesregierung aufgerufen werden, die Angriffe Ankaras durch die Organisation für das Verbot chemischer Waffen (OPCW) untersuchen zu lassen.

Am 16. Januar beantwortet die Staatssekretärin im Auswärtigen Amt, Susanne Baumann, die Schriftliche Frage im Namen der Bundesregierung. Aus Dokumentations- und Transparenzgründen dokumentieren wir die Antwort im Wortlaut.

„Sehr geehrter Herr Abgeordneter, Ihre Frage (…) beantworte ich wie folgt:

Die Bundesregierung führt völkerrechtliche Bewertungen internationaler bewaffneter Konflikte nur aus jeweils aktuellem Anlass durch, wie etwa zum völkerrechtswidrigen Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine.

Eine rückblickende völkerrechtliche Bewertung sämtlicher Kriege bzw. internationaler bewaffneter Konflikte seit 1991 durch die Bundesregierung gibt es nicht. Dies würde den für den zur Beantwortung einer Schriftlichen Frage zur Verfügung stehenden zeitlichen Rahmen überschreiten und darüber hinaus keinen Anspruch auf Vollständigkeit haben.“

Fassen wir zusammen: Der Begriff „völkerrechtswidrig“ wird von der Bundesregierung in ihrer Antwort ausschließlich auf den russischen Einmarsch in die Ukraine angewandt. Völkerrechtliche Bewertungen anderer Konflikte und Kriege werden abgelehnt, mit Verweis auf „nur aus aktuellem Anlass“ sowie „zeitlichen Rahmen“. Doch ist diese Begründung wirklich stichhaltig?

Was ist mit den „aktuellen“ Angriffen der Türkei auf Irak und Syrien sowie mit dem Jemen-Krieg?

Gehen wir die Antwort des Auswärtigen Amtes Punkt für Punkt durch. Das erste Argument lautet, die Bunderegierung würde „völkerrechtliche Bewertungen nur aus jeweils aktuellem Anlass“ durchführen. Jetzt ist die Schriftliche Frage des Abgeordneten Bystron allerdings nicht nur generell formuliert, sondern verweist mit der Verlinkung auf den ANF-Artikel „SPD Göttingen bezieht Stellung zum Angriffskrieg gegen Kurdistan“ auf den konkreten und auch aktuellen Fall der Luftangriffe des türkischen NATO-Partners im November 2022 auf Gebiete in Syrien und Irak.

Eine Bundesregierung, die das verfassungsrechtlich besonders geschützte Frage- und Antwortrecht der Bundestagsabgeordneten ernst nimmt, hätte laut ihrer eigenen Argumentation zumindest zu den Angriffen der Türkei auf zwei souveräne Staaten eine völkerrechtliche Bewertung vorlegen können und müssen. Denn zumindest in diesem Fall liegt ein „aktueller Anlass“ vor. Auch der medial kaum noch erwähnte Krieg im Jemen geht unvermindert weiter. Eine am 11. Januar 2023 veröffentlichte Oxfam-Studie spricht von „täglich mehr als vier bewaffneten Angriffen auf Zivilisten“. Die aktuelle Analyse kommt zu dem Ergebnis, „dass ein Viertel aller Angriffe auf Luftangriffe der von Saudi-Arabien geführten Koalition entfiel, bei denen ausschließlich von Großbritannien und den USA gelieferte Waffen eingesetzt wurden“. Folglich wäre auch hier ein „aktueller Anlass“ gegeben, damit die Bundesregierung eine völkerrechtliche Bewertung vornimmt.

Allerdings weigert sich die Bundesregierung seit geschlagenen acht Jahren vehement, das belegen unter anderem eindrücklich Aufzeichnungen und Protokolle der Bundespressekonferenz, dies zu tun. Mehr noch, die Ampel-Regierung hat, im Widerspruch zum eigenen Koalitionsvertrag, alleine im Jahr 2022 Rüstungsgüter im Wert von über 60 Millionen Euro an die Saudi-geführte Jemen-Koalition verkauft. Dies geht aus einer Antwort des Grünen-Staatssekretärs Sven Giegold am 21. Dezember 2022 auf Anfrage der Bundestagsabgeordneten Sevim Dağdelen (Die Linke) hervor:

Das zweite von der Bundesregierung angeführte Argument, wieso man ausschließlich bei dem „Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine“ eine völkerrechtliche Bewertung vornimmt, ist ein vorgeblich formeller und lautet, eine „rückblickende völkerrechtliche Bewertung“ weiterer Kriege würde den zur Beantwortung einer Schriftlichen Frage zur Verfügung stehenden zeitlichen Rahmen überschreiten“. Auch dieses Argument ist offensichtlich nur vorgeschoben. In den Bundestagsrichtlinien für „Schriftliche Fragen“ ist die Antwortfrist klar geregelt: Eine Woche nach Eingang im Bundeskanzleramt.

Die Bundesregierung (im konkreten Zuständigkeitsbereich das Auswärtige Amt) hat also sieben Tage Zeit, eine ganze Arbeitswoche, um beispielsweise eine völkerrechtliche Bewertung zu den türkischen Luftangriffen im November 2022 auf Syrien und Irak oder des anhaltenden Einsatzes saudischer Boden- und Lufttruppen im Jemen vorzunehmen.

Angesichts der personellen Ressourcen, über die das Auswärtige Amt verfügt, ist das sicherlich innerhalb dieses Zeitfensters zu leisten. In beiden Fällen hat das Auswärtige Amt zudem bereits jahrelang Vorlauf gehabt, sich eine Position zur saudisch-geführten Militär-Invasion seit 2015 sowie zur türkischen Besetzung Nordsyriens seit 2016 und den regelmäßig erfolgenden Luftangriffen im syrischen und irakischen Hoheitsgebiet zu erarbeiten. Ähnliches gilt für die ebenso anhaltende militärische Präsenz von US-Truppen im Nordosten Syriens und deren Nutzung dortiger Öl-Ressourcen. Dazu hat der Wissenschaftliche Dienst des Bundestages auch bereits eine Einschätzung unter dem Titel „Militärische Präsenz der USA in Syrien zur Absicherung der syrischen Ölfelder (…)“ vorgelegt, auf die das AA, wenn denn gewollt, aufbauen könnte.

Grün-geführte Ministerien und die Arroganz der Macht

Abschließend bleibt festzuhalten, dass in letzter Zeit insbesondere von den Grünen geführte Ministerien wie das Wirtschaftsministerium (BMWK) unter Robert Habeck sowie das Auswärtige Amt (AA) unter Annalena Baerbock dadurch auffallen, dass sie zumindest versuchen, den Bundestagsabgeordneten der beiden kleineren Oppositionsparteien, Linke und AfD, das ihnen verfassungsrechtlich garantierte Informations- und Fragerecht zu verwehren. Über einen diesbezüglich besonders eklatanten Fall hatten die NachDenkSeiten am 3. Januar berichtet. Der Habeck-Vertraute und Staatssekretär im Wirtschaftsministerium, Sven Giegold, hatte versucht, in einem wohl einmaligen Akt der Demokratieverachtung Antworten auf Fragen zu Rüstungsexporten der Ampel-Koalition zu verweigern.

Nicht viel besser sieht es im aktuellen Fall der de facto Antwortverweigerung des AA aus. Die Führung der Grünen braucht, allem Anschein nach, einen Intensivkurs in Sachen parlamentarischer Demokratie, Kontrollfunktion der Legislative und dem damit elementar in Verbindung stehenden Fragerecht von Bundestagsabgeordneten.

Das Bundesverfassungsgericht erklärte diesbezüglich bereits in einem Urteil von 2014, wohlgemerkt erstritten von den Grünen, die damals noch die Oppositionsbank drückten:

„Die Antworten der Bundesregierung auf schriftliche Anfragen und auf Fragen in der Fragestunde des Deutschen Bundestages sollen dazu dienen, dem Bundestag und den einzelnen Abgeordneten die für ihre Tätigkeit nötigen Informationen auf rasche und zuverlässige Weise zu verschaffen. Die Bundesregierung schafft mit ihren Antworten auf parlamentarische Anfragen so die Voraussetzungen für eine sachgerechte Arbeit innerhalb des Parlaments.“

Zumindest dem Namen nach wäre diese zunehmende Verhinderung „sachgerechter Arbeit innerhalb des Parlaments“ ein Fall für den Verfassungsschutz.

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Titelbild: shutterstock / CANARAN

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