Israel – Palästina – Täglicher Tod

Israel – Palästina – Täglicher Tod

Israel – Palästina – Täglicher Tod

Karin Leukefeld
Ein Artikel von Karin Leukefeld

Zum dritten Mal im Januar hat sich der UN-Sicherheitsrat am Freitag (27.01.2023) mit der „Lage im Mittleren Osten, einschließlich der Palästinensischen Frage“, befasst. Das Treffen fand hinter verschlossenen Türen statt. Beantragt worden war die Diskussion von den Sicherheitsratsmitgliedern China, Frankreich und den Vereinigten Arabischen Emiraten (VAE). Berichterstatter war der Sonderkoordinator für den Friedensprozess im Mittleren Osten, der norwegische Diplomat Tor Wennesland. Von Karin Leukefeld.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Am 5. Januar hatte sich der Sicherheitsrat in New York getroffen, weil der neue israelische Minister für nationale Sicherheit, Itamar Ben-Gvier, demonstrativ die al-Aqsa-Moschee, den Haram al-Sharif, wie die Muslime sagen, den Tempelberg, wie es bei den Juden heißt, aufgesucht und damit einen Sturm der Entrüstung bei den Palästinensern, bei arabischen und muslimischen Staaten ausgelöst hatte. Ben-Gvir ist ein bekannter Rassist und juristisch verurteilter rechtsextremer Politiker, der seit langem den Status des Haram al-Sharif zugunsten der Juden verändern will. Israel hatte versucht, die Sitzung des Sicherheitsrates am 5. Januar zu verhindern, konnte sich aber nicht durchsetzen.

Am 18. Januar fand die turnusmäßig alle drei Monate stattfindende UNSR-Debatte über die „Lage im Mittleren Osten, einschließlich der Palästinensischen Frage“, statt. Am 27. Januar war das Thema das „Massaker in Jenin“, die „tödlichste israelische Razzia in dem Lager Jenin seit zwei Jahrzehnten“, wie u.a. die britische BBC und der libanesische Nachrichtensender Al Mayadeen berichteten. Bei dem militärischen Einsatz am 26. Januar waren 9 Personen getötet und mehr als 20 Menschen zum Teil lebensgefährlich verletzt worden.

Der Präsident der palästinensischen Autonomiebehörde Mahmud Abbas nannte das Vorgehen der israelischen Armee ein „Massaker“, als er eine dreitägige nationale Trauerzeit für die 9 Menschen anordnete, die getötet worden waren. Medien zitierten das palästinensische Gesundheitsministerium, wonach zwei der Toten, darunter eine 61-jährige Frau, zivile Opfer gewesen seien. Sieben der Toten gehörten palästinensischen bewaffneten Gruppen an, hieß es in einer Mitteilung des UN-Sicherheitsrates. An Gebäuden und Fahrzeugen sei großer Schaden entstanden.

Am Sonntag (29.1.23) meldete das palästinensische Gesundheitsministerium, eine zehnte Person, ein junger Mann, sei seinen Verletzungen erlegen. Eine weitere Person, die an einer Protestdemonstration gegen die Jenin-Razzia (in Al Ram) teilgenommen hatte, wurde von israelischen Soldaten so schwer angeschossen, dass sie den Verletzungen erlag. Die israelische Armee sprach von einer „Anti-Terror-Operation zur Ergreifung einer Terroreinheit des Islamischen Jihad“. Die Gruppe sei an der Planung und Ausführung von „zahlreichen schweren terroristischen Anschlägen“ gegen Israelis beteiligt gewesen.

Die palästinensische Autonomiebehörde setzte die Sicherheitskoordination mit Israel aus. In einem Brief, den der „Ständige Beobachter des Staates Palästina bei den Vereinten Nationen“, Riyad Mansour, noch am Tag der Razzia, am 26.01.2023, übergab, wurde die „großangelegte militärische Invasion in das Flüchtlingslager Jenin“ verurteilt. Die medizinische Versorgung der Verletzten sei von den israelischen Besatzungstruppen wiederholt blockiert und hinausgezögert worden, sie hätten auf die Ambulanzfahrzeuge und auf das medizinische Personal das Feuer eröffnet. Nach Angaben des palästinensischen Gesundheitsministeriums habe die israelische Armee Tränengas in die Kinderstation des staatlichen Krankenhauses von Jenin gefeuert. Die Weltgesundheitsbehörde erklärte ihre „Solidarität mit dem medizinischen Personal in Jenin“, das geschützt werden müsse.

Doch Worte schützen die Palästinenser nicht und mehr als Worte wurden im UN-Sicherheitsrat – wieder einmal – nicht gefunden. Die Schweiz – seit Januar Mitglied im UN-Sicherheitsrat für zwei Jahre – forderte alle Seiten auf, „Zivilisten zu schützen“. Die „unverhältnismäßige Gewalt der israelischen Sicherheitskräfte“ müsse untersucht werden. Großbritannien forderte Israel zur Zurückhaltung auf, „wenn es seine legitimen Sicherheitsinteressen“ schütze, China wandte sich „gegen die exzessive Gewalt von Sicherheitskräften“.

Aus dem Gazastreifen wurden noch am Abend des Geschehens Raketen auf den Süden Israels abgefeuert, die die israelische Luftabwehr abfing. Die ganze Nacht hätten Sirenen im Süden Israels vor weiteren Angriffen gewarnt, berichteten Medien. Die Angriffe blieben aus, doch die israelische Luftwaffe stieg auf und bombardierte nach eigenen Angaben „Hamas-Ziele“ und „unterirdische Raketenfabriken“. Die Sicherheitsratsmitglieder verfolgten „die Situation in Israel, in der West Bank (Westjordanland) und Gaza genau“, hieß es in dem zitierten UN-Bericht.

Inzwischen hält sich US-Außenminister Antony Blinken in der Region auf. Sein Besuch in Ägypten, Israel und im Westjordanland war seit einer Woche bekannt. Das US-Außenministerium appellierte an alle Seiten, „Schritte zur Deeskalation zu unternehmen“. Der „historische Status-Quo des Haram al-Sharif/Tempelbergs“ müsse aufrechterhalten bleiben. Blinken sagte im saudischen Nachrichtensender Al Arabia bei einem Interview in Kairo, alle Seiten müssten miteinander reden. Mit anderen Worten: aus Washington nichts Neues. Zur Frage, ob es einen Krieg gegen Iran geben werde, meinte Blinken: „Alle Optionen liegen auf dem Tisch.“

Junge Palästinenser griffen zur Waffe, um Vergeltung zu üben. Am Samstag (28.01.2023) erschoss ein 21-jähriger Palästinenser 7 Menschen, als sie nach dem Gebet eine Synagoge verließen, drei weitere Personen wurden verletzt. Der junge Einzeltäter wurde von israelischen Sicherheitskräften nach eigenen Angaben „neutralisiert“, d.h. erschossen. Bei einem weiteren Angriff am gleichen Abend auf Gläubige vor einer anderen Synagoge (in Silwan) wurden zwei Männer verletzt. Die Nachrichtenagentur Reuters berichtete, der ebenfalls junge palästinensische vermutliche Schütze sei erschossen worden.

International wurden die Angriffe auf die Synagogen und Gläubigen mit scharfen Worten verurteilt. Das Auswärtige Amt in Berlin verurteilte den „grauenhaften Terrorangriff in Ost-Jerusalem“. Die Terroristen wollten „Hass säen und Frieden unmöglich machen“, heißt es, dieses Kalkül dürfe nicht aufgehen. Man sei mit „Gedanken (…) bei den Angehörigen der Toten“, den zahlreichen Verletzten wünsche man „rasche Genesung“. Zu dem „Massaker in Jenin“ (Mahmud Abbas) fand die Autorin keine Erklärung des Auswärtigen Amtes. Offenbar fehlten die Worte.

Das israelische Sicherheitskabinett beschloss, die Truppen entlang der Grenze zum Gazastreifen und an der völkerrechtswidrigen Mauer, die Israel eine „Sperranlage“ nennt, zu verstärken. Der rechtsextreme Minister für nationale Sicherheit, Itamar Ben-Gvir, forderte ein Gesetz, wonach mehr Bürger zum Selbstschutz Waffen tragen dürfen. Die Häuser der palästinensischen Angreifer sollen zerstört, die Angehörigen bestraft werden. U.a. soll ihnen ihre Sozialversicherung entzogen werden. Der völkerrechtswidrige Siedlungsbau im von Israel besetzten Westjordanland soll ausgeweitet werden.

Doch die Regierung Netanyahu operiert auf unsicherem Boden. Seit Amtsantritt vor vier Wochen demonstrieren in Israel Zehntausende jeden Samstag, um den Rücktritt von Ministern der rechtsradikalen Allianz zu fordern. Die Demonstranten wollen eine Justizreform verhindern, mit der die neue Regierung das Justizwesen schwächen und die Macht des Obersten Gerichtshofs brechen will. Die Protestbewegung sieht die „israelische Demokratie“ in Gefahr. Angesichts der Gewalt und Rechtlosigkeit allerdings, mit der der Staat Israel seit 75 Jahren ungestraft gegen die Palästinenser und andere arabische Nachbarstaaten und gegen die Kritiker seiner „Politik“ vorgeht, scheint Demokratie nicht die richtige Bezeichnung für das politische System des Staates Israel zu sein.

Nach UN-Angaben wurden im Jahr 2022 mehr als 150 Palästinenser von der israelischen Armee und Siedlern im Westjordanland und Israel erschossen. Im gleichen Zeitraum wurden 20 Israelis getötet. Seit Anfang des Jahres 2023 wurden 30 Palästinenser von der israelischen Armee zumeist bei Razzien, aber auch an Kontrollpunkten erschossen, heißt es in einem Bericht des UN-Hochkommissars für Menschenrechte. Sieben Israelis wurden getötet.

Am Tag vor der Militäroperation in Jenin wurde ein 17-jähriger Jugendlicher bei einer Razzia im Lager Shuafat (Ostjerusalem) von einem israelischen Soldaten getötet. Am gleichen Tag wurde ein 22-Jähriger am Kontrollpunkt Qalqiliya (Westjordanland) erschossen. Es gibt Fotos der erschossenen jungen Palästinenser. Geboren in den Lagern unter israelischer Besatzung wuchs diese Jugend unter menschenunwürdigen Bedingungen auf. Alle haben mit der Hoffnung auf ein besseres Leben gelebt, hatten sie eine Chance?

Es gibt auch ein Foto aus Jenin vom Abend des 26. Januar 2023. Zu sehen ist eine dichte Menschenmenge – alles sind Männer, die Aufnahme ist aus der Vogelperspektive aufgenommen. Die Männer stehen so eng nebeneinander, dass viele Gesichter nicht zu erkennen sind. Über ihren Köpfen schweben acht Tote auf Bahren, die von Händen nach oben gestemmt und getragen werden. Einige der Leichen sind in palästinensische Fahnen gehüllt, andere in die Fahne ihrer Kampfeinheit. Ein Leichnam trägt seine Kleidung und ist nur mit wenigen Tüchern bedeckt. Um den Kopf trägt er die Kefiyeh, das schwarz-weiß karierte Tuch der Araber.

Titelbild: Golden Brown/shutterstock.com

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