Ich würde die SPD und sogar die große Koalition über den grünen Klee loben, wenn es Gründe dafür gäbe.

Albrecht Müller
Ein Artikel von:

Unter unseren Lesern sind respektable und geschätzte Freunde, die manchmal finden, wir gingen zu kritisch mit der SPD um. Dem Wunsch, dies anders zu handhaben, würde ich von Herzen gerne nachkommen. Aber: was man von den Verhandlungen in Berlin hört und was öffentlich erklärt wird, verhindert die Erfüllung dieses Wunsches jeden Tag neu. An fünf gravierenden Beispielen der vergangenen vier Tage sei das belegt.

  1. „Die 20 Millionen Rentner“, so las ich am Freitag in der Frankfurter Rundschau, stimmte Müntefering beim Arbeitgebertag „auf eine lange Zeit ohne Erhöhung ihrer Bezüge ein. Sicher sei, dass die Renten in den nächsten vier Jahren nicht steigen könnten. Noch nicht geklärt sei, ob sie darüber hinaus auch gekürzt werden müssten.“ –
    Das bedeutet, dass die Renten real deutlich sinken werden, und es bedeutet darüber hinaus, dass das Vertrauen der jetzt arbeitenden und der jungen Generation insgesamt, dass die gesetzliche Rente ihnen irgendwann auch noch eine einigermaßen ausreichende Altersversorgung bietet, der laufend weiter zerstört wird. So etwas kann man sehenden Auges nur machen, wenn man entweder die Wirkung nicht versteht, oder die nachfolgenden Generationen für ihre Altersversorgung der Versicherungswirtschaft in die Arme treiben will.
    Der künftige Arbeits- und Sozialminister, Vizekanzler und Noch-SPD-Vorsitzende als oberster Vertriebsagent der Lebensversicherungskonzerne, anders kann ich das nicht sehen.
    Seine Begründung ist entsprechend. Er sagte nämlich beim Arbeitgebertag auch noch: „Wir leben in Deutschland in erheblichem Maß auf Pump und von der Substanz.“ Wer so etwas sagt, hat nun wirklich nicht viel Ahnung. Der Staat(!) lebt auf Pump, vor allem aber deshalb, weil wir alle unterhalb unserer Kapazitäten leben und arbeiten, weil die Wirtschaft nicht läuft und immer mehr abgewürgt wird und vor allem weil in den letzten Jahren die Unternehmenssteuern auf das gesamteuropäisch zweitniedrigste Niveau abgesenkt wurden. – Unsere Volkswirtschaft hingegen, also „wir“(!) leben überhaupt nicht auf Pump. Deutschland hat eine sehr hohe Sparquote von rund 10%. Wir erwirtschaften einen Leistungsbilanzüberschuss von 104 Milliarden $ im Jahr 2004 und noch mehr in diesem Jahr. Wir pumpen anderen Völkern Geld, den USA zum Beispiel, die 2004 wieder und im 10. Jahr mit einem dreistelligen Leistungsbilanzdefizit (666 Milliarden) nachhause gingen.

    Der SPD-Vorsitzende hat offensichtlich nur wenig Ahnung von Ökonomie, was nicht ehrenrührig ist. Schlimm ist jedoch, dass er die Parolen von erklärten SPD-Gegnern wie Gabor Steingart vom Spiegel, dem Bertelsmann-Fellow Oswald Metzger und die Dramatisierung des Bundespräsidenten blind übernimmt.

  2. „Die SPD tut doch nichts gegen Heuschrecken“, las ich dann am Sonntag im Berliner Tagesspiegel.

    Dort heißt es: ‚Wegen der unerwünschten Folgen und der Steuerausfälle hatte die Union in ihrem Wahlprogramm denn auch die erneute Besteuerung der Gewinne aus dem Wiederverkauf von Firmen gefordert. Doch die SPD-Seite widersetzte sich jetzt dem Vorschlag, weil „dies als Eingeständnis eines Fehlers gesehen würde“, wie einer der beteiligten Sozialdemokraten gestand. „Das ist schon ein wenig verkehrte Welt“, wunderte sich dagegen der CDU-Abgeordnete Leo Dautzenberg.’

    Ich wundere mich auch. Gerhard Schröder und Hans Eichel hatten die Steuerbefreiung der Gewinne beim Verkauf von Unternehmen und Unternehmensteilen zum 1.1.2002 eingeführt. Das war ein Geschenk an die großen Vermögen und an die internationalen Investoren, die Heuschrecken, wie Franz Müntefering sagte. Aber dieser Agitation vom Frühjahr ist offenbar vergessen. So kann ein deutsches Unternehmen nach dem andern steuerfrei aufgekauft, zerlegt, gefleddert und wieder steuerfrei weiterverkauft werden. Soll ich mich über dieses von „großen Interessen“ geleitete Nichtstun, das in der Regel noch mit Pressionen gegenüber den Arbeitnehmern der betroffenen Unternehmen verbunden ist, freuen?

  3. Heute und am Sonntag las ich dann, der designierte SPD-Vorsitzende Platzeck sei auch für eine Mehrwertsteuererhöhung. Und alle wollen durch Streichen sparen. Merkel hält den Sparkurs für eine „Schicksalsfrage“. Damit kann sie sogar Recht haben, aber anders als sie das meint:
    Ein Leser der NachDenkSeiten macht auf einen Beitrag des Japan-Korrespondenten der ARD aufmerksam. Martin Fritz, ARD-Hörfunkstudio Tokio meldete am 7.11.:

    Japanische Lektion für Schwarz-Rot
    Steuererhöhung nützte Japans Haushalt nicht.
    Mehrwertsteuer rauf, Staatsausgaben runter – auf dieses Rezept will sich die schwarz-rote Koalition in Berlin offenbar verständigen, um die Haushaltslöcher zu stopfen. Doch in Tokio würde das Bündnis aus Union und SPD dafür nur Kopfschütteln ernten. Hier haben die Politiker vor acht Jahren das gleiche Rezept angewandt – und sind damit schnell und hart auf die Nase gefallen.

  4. Zur “Quelle”

  5. Vermögende fordern eine höhere Belastung der Vermögen, so konnte man ebenfalls am Wochenende lesen. Hat die SPD diese Forderung aufgenommen und übernommen? Hat sie diese wohlwollende Konzession der Betroffenen zum Thema gemacht? Hat sich einer ihrer führenden Politiker diese Forderung zu eigen gemacht? Ich lasse mich gerne belehren.
  6. In den Koalitionsverhandlungen soll man sich darauf verständigt haben, ein einkommensabhängiges Elterngeld einzuführen. Wer ein höheres Einkommen hat, soll auch ein höheres Elterngeld bekommen. Verstanden? Das liegt so ganz auf der Linie sozialdemokratischer Programmatik, wonach den Schwächeren mehr gegeben werden soll als den Starken!, wäre ironisch anzumerken. Der Vorschlag ist aber ernst gemeint und gründet im Kern auf der gängigen Beobachtung, dass die Akademikerinnen besonders häufig kinderlos bleiben. Ihnen, bei denen man ein höheres Einkommen unterstellt, will man den Ausfall im Falle einer Schwangerschaft finanziell wenigstens zum Teil ersetzen.

    Ich habe dieses Thema bei Vorträgen und Lesungen aus der „Reformlüge“ in den letzten Tagen des Öfteren angesprochen. Zuhörerinnen mit geringeren Einkommen, also Sachbearbeiterinnen und Verkäuferinnen sind zutiefst empört. Sie wundern sich mit mir, wenn sie dann noch hören, dass die Familienpolitiker/innen der SPD von falschen Annahmen ausgehen – von einer extrem überdurchschnittlichen Kinderlosigkeit der Akademikerinnen von 40 oder 43%. – Die Zahl, auf deren Basis hier Politik gemacht wird, stimmt nicht. Siehe dazu den Tagebucheintrag vom 10.10.2005.

Das sind fünf Beispiele aus wenigen Tagen. Was soll man davon halten? Sollen wir das alles widerspruchslos schlucken?