Anhörung zur Strafverfolgung im Zusammenhang mit dem Ukraine-Krieg Stellungnahme von Norman Paech

Anhörung zur Strafverfolgung im Zusammenhang mit dem Ukraine-Krieg Stellungnahme von Norman Paech

Anhörung zur Strafverfolgung im Zusammenhang mit dem Ukraine-Krieg Stellungnahme von Norman Paech

Norman Paech
Ein Artikel von Norman Paech

„Der Auswärtige Ausschuss befasst sich am Montag, 6. Februar 2023, im Rahmen einer öffentlichen Anhörung mit dem Thema „Strafverfolgung und Beendigung von Straflosigkeit angesichts des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine“.“ Wir veröffentlichen die Stellungnahme von Norman Paech. Albrecht Müller.

Prof. Dr. Norman Paech Neubertstr. 24 22087 Hamburg[1]

Öffentliche Anhörung des Auswärtigen Ausschusses des Deutschen Bundetages

Stellungnahme zum Thema

„Strafverfolgung und Beendigung der Straflosigkeit angesichts des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine.“

  1. Zu unterscheiden ist zunächst zwischen der Strafverfolgung vor nationalen Gerichten und durch eine internationale Gerichtsbarkeit. Das Römische Statut (RSt) des Internationalen Gerichtshofs (IStGH) hat in Art. 17 Abs. 1 zu der Frage der Konkurrenz der beiden Gerichtsbarkeiten entschieden, dass der IStGH die nationale Gerichtsbarkeit nur ergänzt und keine Ermittlungen und Strafverfolgung unternimmt, wenn der Staat in der Sache, die in seine Gerichtsbarkeit fällt, selbst tätig wird. Sollte der Staat allerdings nicht in der Lage oder nicht willens sein, die Ermittlungen oder die Strafverfolgung selbst durchzuführen, kann der IStGH eigene Ermittlungen einleiten.

    Derzeit haben offensichtlich Lettland, Litauen und Polen Ermittlungen zum russischen Angriff auf die Ukraine eingeleitet. Auch der deutsche Generalbundesanwalt hat auf der Basis des Universalitätsprinzips des § 1S. 1 des Völkerstrafgesetzbuches ein Strukturermittlungsverfahren eingeleitet.

    Am 2. März 2022 hat die Anklagebehörde des IStGH Ermittlungen wegen Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Völkermord aufgenommen. Obwohl die Ukraine wie auch Russland dem Römischen Statut nicht beigetreten sind, ist das möglich, weil die ukrainische Regierung eine Unterwerfungserklärung nach Art. 12 Abs. 3 abgegeben hat. Vorausgegangen war schon am 24. Februar 2022 eine Aufforderung von 41 Mitgliedstaaten des Römischen Statuts gem. Art. 14 RSt, die sich entwickelnde Situation in der Ukraine zu untersuchen. Seit Mai 2022 sind 42 Experten des IStGH in der Ukraine im Einsatz, 21 Staaten unterstützen sie dabei und 20 Staaten beteiligen sich an der Finanzierung. Die Ermittlungen des IStGH können sich allerdings nicht auf das Verbrechen der Aggression (Angriffskrieg) gem. Art. 8bis Römisches Statut erstrecken. Denn nach Art. 15bis Abs. 5 RSt kann der IStGH keine Strafverfolgungsmaßnahmen einleiten, wenn der Staat, durch dessen Angehörige oder auf dessen Territorium die Verbrechen begangen wurden, nicht Vertragspartei des Statuts sind. Da weder die Ukraine noch Russland dem Statut beigetreten sind, könnte nur der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen mit einem Beschluss nach Art 42 UN-Charta den Strafgerichtshof beauftragen. Das wird auf jeden Fall am Veto Russlands scheitern.

  2. Aus diesen Gründen werden schon seit Anfang des Krieges die Möglichkeiten erörtert, durch ein Sondertribunal auch das Verbrechen der Aggression verfolgen zu können und dabei insbesondere den russischen Präsidenten Putin und Außenminister Lavrow vor Gericht zu stellen. Eine Initiative ging schon Anfang März 2022 von dem ehemaligen britischen Premierminister Gordon Brown und dem ukrainischen Außenminister Dmytro Kuleba aus. Ihnen schwebt ein internationales Tribunal vor, welches auf der Basis ukrainischen Strafrechts in Verbindung mit allgemeinem Völkerrecht Ermittlungen wegen des Verbrechens der Aggression gem. Art. 8bis RSt in der Ukraine aufnehmen soll. Dieser Initiative hat sich unlängst die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock angeschlossen.

    Andere Überlegungen gehen dahin, dass die UN-Generalversammlung mit einer Resolution die Einrichtung eines Tribunals empfiehlt, welches dann durch ein Abkommen der Ukraine mit der UNO errichtet wird. Ein solches „hybrides“ Tribunal nach dem Vorbild der außerordentlichen Kammern in den Gerichten Kambodschas würde nach ukrainischem Recht arbeiten und von der UNO finanziert und mit internationalen Richterinnen und Richtern besetzt werden. Eine weitere Möglichkeit für ein „hybrides“ Tribunal wird in einer außerordentlichen Kammer innerhalb des ukrainischen Justizsystems gesehen, welches etwa durch den Europarat unterstützt wird. Es soll außerhalb der Ukraine tagen und teilweise mit Richterinnen und Richtern aus den Mitgliedstaaten des Europarates besetzt werden. Schließlich wird auch ein Ad-hoc-Tribunal in Anlehnung an die Nürnberger Prozesse auf der Grundlage eines multilateralen Vertrages vorgeschlagen, welches die Grundlage seiner Tätigkeit in den Vorschriften des RSt und nicht im Recht der Ukraine findet.

    Inzwischen haben zahlreiche Staaten wie Estland, Lettland, Litauen, Tschechien und die Niederlande sich für die Errichtung eines Sondertribunals ausgesprochen. Zuvor schon haben der Europarat mit einer Entschließung 2436 (2022) vom 28. April 2022 (BT-Drs. 29/4192), das Europäische Parlament mit einer Entschließung v. 19. Mai 2022 (2022/2655 (RSP)) und die Parlamentarische Versammlungen der Nordatlantikpakt-Organisationen sowie der OSZE vom Mai und Juli 2022 für ein Sondertribunal plädiert. Die jüngste Initiative geht von der Bundestagsfraktion der CDU/CSU aus mit einem Antrag v. 8. November 2022 an den Deutschen Bundestag (BT-Drs. 20/4311), die Bundesregierung aufzufordern, „sich auf europäischer Ebene und darüber hinaus für die Einrichtung eines Sondertribunals einzusetzen, um die Verantwortlichen der russischen Aggression in der Ukraine vor Gericht zu stellen“.

  3. Zentrales Argument für den Ruf nach einem Sondertribunal ist das Ziel, die Ermittlungsschranke des § 15bis Abs. 5 RSt zu überwinden, die die Gerichtsbarkeit für das Aggressionsverbrechen nur auf Vertragsstaaten beschränkt. Der Tatbestand des Aggressionsverbrechens ist überhaupt erst 2010 auf der Konferenz in Kampala zu den anderen Tatbeständen hinzugefügt worden. Dabei waren es vor allem die USA, Frankreich und Großbritannien, die die Gerichtsbarkeit auf die Vertragsstaaten beschränkten und Nichtvertragsstaaten –also z.B. USA, VR China, Russland und Indien – davon ausnahmen, selbst wenn deren Staatsangehörige Verbrechen auf dem Gebiet einer Vertragspartei begehen. Das wurde noch einmal 2017 in einem Beschluss zur Aktivierung des Tatbestandes bestätigt, mit dem selbst Vertragsparteien des Römischen Statuts von der Gerichtsbarkeit wegen des Aggressionsverbrechens verschont bleiben, wenn sie wie Frankreich und Großbritannien den „Kampala-Zusatz“ nicht ratifiziert haben.
  4. Trotz etlicher juristischer Klippen und Schwierigkeiten (vgl. Kai Ambos, Ukraine-Sondertribunal mit Legitimationsproblemen?, Verfassungsblog v. 31.Dezember 2022) wird die Errichtung eines derartigen Sondertribunals leichter sein als die Veränderung der Zuständigkeit des Römischen Statuts.

    Dennoch bleibt insbesondere die Frage der Immunität des russischen Präsidenten Putin und des Außenministers Lavrow, um die es bei dem Sondertribunal vor allem geht, ungeklärt. Vor nationalen Gerichten genießen die Amtsinhaber vollkommene Immunität. Nach dem Ausscheiden aus dem Amt schützt sie ihre funktionale Immunität nicht mehr vor Verfahren wegen Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder Völkermord. Ob der Schutz dann auch bei einem Verfahren wegen Verbrechens der Aggression fällt, ist unklar. Vor internationalen Strafgerichten geht die Tendenz des IStGH dahin, bei Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Völkermord weder die persönliche noch die funktionale Immunität anzuerkennen. Ob dies auch für das Aggressionsverbrechen gilt, ist ebenfalls unklar, es wäre aber angebracht. Diese Ausnahme von der Immunität gilt allerdings nicht für ein Tribunal, welches auf der Basis ukrainischen Strafrechts judiziert. Nur ein Ad-hoc-Tribunal auf der Basis z.B. des Römischen Statuts könnte Strafverfahren gegen den amtierenden Staatspräsidenten und den Außenminister durchführen. Dabei müsste eine Prozess wohl in Abwesenheit geführt werden, da Präsident Putin und Außenminister Lavrow bestimmt nicht vor dem Sondertribunal erscheinen werden.

  5. Abgesehen von diesen Schwierigkeiten begegnet ein Sondertribunal jedoch schwerwiegenden Bedenken. Zunächst ist die Legitimität gerade der Staaten, die ein Sondertribunal fordern, angesichts ihrer offen völkerrechtswidrigen Kriege gegen Jugoslawien 1999, Irak 2003, Libyen 2011 und Syrien 2014 zweifelhaft. Die Widersprüchlichkeit und Doppelmoral, mit der der Westen mit dem Völkerrecht umgeht, ist nach wie vor zu offensichtlich, als dass seine Politik – und vor allem die der USA – Glaubwürdigkeit beanspruchen kann. Die extralegalen Hinrichtungen in dem am 21. September 2001 begonnenen „Krieg gegen den Terror“, die Tötung der Al-Qaida Führer Osama Bin Laden und Ayman al-Tawahiri, die Ermordung des iranischen Generals Qasem Solaimani am 7. Januar 2020 am Flughafen von Bagdad sind nur einige Beispiele in der Liste von Verstößen gegen das Völkerrecht in jüngerer Zeit, die das Vertrauen in das Völkerrecht und seine Institutionen untergraben haben. Es hat in allen Fällen weder strafrechtliche Ermittlungen durch den IStGH gegeben, noch ist die Forderung nach einem Sondertribunal erhoben worden.
  6. Die Frage der Legitimität mag in den Staaten der NATO als nicht so entscheidend angesehen werden, in den Staaten des Südens und Ostens wird dies jedoch offensichtlich anders gesehen. Denn schaut man sich genauer an, welche Staaten die westliche Ukraine-Politik tatsächlich unterstützen, so beschränkt sich das auf insgesamt 38 Staaten, die Sanktionen gegen Russland verhängt haben. Nur knapp 30 Staaten haben militärische Hilfe zugesagt. Unter den Staaten, die keine Sanktionen gegen Russland verhängen, sind nicht nur bekanntermaßen die VR China, Indien und Südafrika, sondern auch so wichtige Staaten wie die Türkei und Mexico. So reduziert sich die Unterstützung der westlichen Ukraine-Politik, die über die bloße Zustimmung zur UN-Resolution hinausgeht, auf 48 von 193 Staaten in der UNO (Vgl. Kai Ambos, Doppelmoral, Frankfurt a.M. 2023, S. 19 ff.). Eine ähnlich geringe Zustimmung zu einem Sondertribunal, würde seine Legitimation grundsätzlich in Frage stellen. Dies würde sich auch nicht ändern, wenn ein Tribunal im Rahmen der EU und des Europarates errichtet würde. Wer zudem nicht daran denkt, die Regierung eines Staates wie die Türkei, dessen Staatspräsident manifeste Verbrechen der Aggression gegen die Nachbarstaaten Syrien und Irak begeht, strafrechtlich zur Verantwortung zu ziehen, und die Strafverfolgung möglicher Kriegsverbrechen der israelischen Regierung in den von ihr besetzten Gebieten durch den IStGH zu verhindern versucht, wird kaum die notwendige überzeugende Mehrheit der Staatengemeinschaft für seine Pläne eines Sondertribunals gegen Russland gewinnen können.
  7. Ein weiteres Bedenken besteht darin, dass mit der Schaffung eines Ad-hoc-Tribunals die Legitimität des IStGH nachhaltig geschwächt würde. Der Internationale Gerichtshof war im Jahr 2000 gerade mit der Intention gegründet worden, dem Internationalen Strafrecht eine allgemeine und international unbegrenzte Gültigkeit und Wirksamkeit zu verschaffen und damit die nur begrenzt tätig werdenden Sondertribunale für die Zukunft zu ersetzen. Es waren gerade die Staaten, die heute ein Sondertribunal fordern, die 2010 in Kampala den Ermittlungsrahmen für das Verbrechen der Aggression durch § 15bis Abs. 5 RSt so eingegrenzt haben, dass ihre Staatsspitzen von jeglicher strafrechtlichen Verantwortung ausgenommen werden. Anstatt die Begrenzung auf Vertragsstaaten und solche Staaten, die auch den „Kampala-Zusatz“ ratifiziert haben, aufzuheben und das Römische Statut zu ändern, schafft man sich einen Gerichtshof „à la carte“, den man nach Erfüllung seines politischen Zieles wieder auflöst. Der gegenwärtige Chefankläger Karim Khan hat auf die Gefahr aufmerksam gemacht, durch solch ein Tribunal die Arbeit und Autorität des IStGH zu schwächen.
  8. Schließlich sprechen auch die Erfahrungen, die die ehemalige Chefanklägerin des Jugoslawien-Tribunals, Carla Del Ponte, bei ihrer Arbeit gemacht hat, gegen ein „Ukraine-Tribunal“. Sie hat die von ihrer Vorgängerin Louise Arbour vorbereiteten Untersuchungen wegen möglicher Kriegsverbrechen der NATO einstellen müssen und diese im Jahr 2000 durch einen Persilschein entlastet. In ihrem autobiografischen Bericht über ihre Zeit als Chefanklägerin sowohl des Jugoslawien- wie auch Ruanda-Tribunals – „Ich bin keine Heldin“, Frankfurt/Main, 2021, hat sie bekannt, dass sie an den Ermittlungen gehindert wurde: „Als ich in Brüssel die Unterlagen anforderte, kooperierte die NATO nicht. Ihr Generalsekretär verwies mich an die einzelnen Mitgliedstaaten. Dann hieß es plötzlich, die Dokumente seinen vernichtet worden. Eine Lüge…“ (Del Ponte, S. 66, 67). Ebenso erging es ihr, beim Ruanda-Tribunal, als sie ihre Ermittlungen, die sie erfolgreich gegen die Hutu geführt hatte, auf die Tutsi ausweiten wollte. Sie schreibt: „Wir konnten nicht gegen die Tutsi ermitteln, weil uns die von Tutsi dominierte Regierung mit ihrem Präsidenten Kagame, einem General der FPR zu ihren schlimmsten Zeiten, systematisch daran hinderte – aber vor allem, weil die USA und Großbritannien die Ruander in ihrer Verweigerung unterstützten… Ich bedauere, dass das Ruanda-Tribunal wegen ihnen nie wirklich unabhängig arbeiten und seine Pflicht gegenüber den Opfern der anderen Seite erfüllen konnte.“ (Del Ponte, S. 84, 85). Nichts beweist deutlicher, als diese späten Eingeständnisse einer überzeugten Verfechterin des Völkerrechts die Unzulänglichkeiten und Mängel von Sondertribunalen sowie die Gefahren für die Gerechtigkeit, die mit ihnen heraufbeschworen werden.
  9. Sondertribunale sind keine unabhängigen Gerichte, das war schon der Vorwurf des „tu quoque“ gegen die Nürnberger Tribunale. Diesen Fehler zu vermeiden, hat es über fünfzig Jahre Arbeit und Beratungen gebraucht, bis 1998 im Römischen Statut ein Internationales Strafrecht und zwei Jahre später ein Internationaler Gerichtshof geschaffen wurde. Der IStGH ist seit knapp einem Jahr mit erheblichem personellen Aufwand vor Ort, um Beweise für mögliche Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Völkermord zu sichern. Über 20 Staaten unterstützen die Arbeiten bereits. Sie wären gut beraten, ihre Unterstützung darauf zu konzentrieren, die möglichen Täter vor Ort in fairen gerichtlichen Verfahren zur Verantwortung zu ziehen. Anstatt ein problematisches Sondertribunal einzurichten und den IStGH weiter zu schwächen, sollte die deutsche Bundesregierung ihren politischen Einfluss auf die Änderung und Stärkung des Römischen Statuts mit seinem Gerichtshof in Den Haag richten und die noch zögernden und ablehnenden Staaten zum Beitritt zum Statut bewegen.

Hamburg, d. 6. Februar 2023
Norman Paech


[«1] Professor i.R. für öffentliches Recht, Schwerpunkt Verfassungs- und Völkerrecht, an der Universität Hamburg.